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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Prännmerutione- Prei« 22, Sgr. (i Thir.) vierteljädrlich, Z Thir. sür Lai ganze Jahr, ohne Er höhung, in. allen TbeiUn her Preußischen Monarchie. Magazin für die Man vrönumenet auf dieses Reiblait Ler Allg. Pr. Staats- Zeitung in Berlin in der Erredition (Mohren-Siraße Nr. Z4); in Ler Prooinz so wie im Auslände bei Len Wodllöll. Post - Aemtern. Literatur des Auslandes. 18S7. Berlin, Mittwoch den 7. Juni England. Eine Stecknadel-Fabrik und ein Irrenhaus in London. Lon Nisard. Ich bringe diese beiden Ausflüge unler Einen Titel, weil ich sie beide an einem und demsclden Tage gemacht, und weil sie mir eine dop pelte Gelegenheit darbolen, den Englischen Lakonismus zu bewundern. Den Stecknadel-Fabrikanten traf ich auf seinem Eomploir schrei bend, den Hut aus, den er nicht adnabm, weil dies nicht zu den Nolh- wendigkeilen des Geschäfts gehört. Ec las mein Empfehlungsschreiben, grüßte wich oberflächlich und ging dann gleich zu den Lcistungcn seiner Fabrik über, indem er mir auf i'cinem Lüreau verschiedene Schachteln mit Mustern aller Sorten Stecknadeln, die in seiner Anstalt sabrizirl werden, vorlegle: Putznadeln, Haarnadeln, Nadeln sür Infckicn-Samm- lungcn. Ich fragte bei >eder neuen Schachtel nach dem Preise. Er war so und so hoch ohne weitere Erklärung. Nachdem die Schachteln besichtigt waren, sagte er: „Jetzt kommen Sie mit mir, — come tkis und öffnete eine Thür, welche in die Werkställe führte. Ich folgte ihm. Er ließ mich die ersten Werkstätten umständlich, und ohne mich zu drängen, besichtigen. Während ich beobachtete, sprach ec mit den Ar beitern und suchte auf diese Weise mit der eine» Hand die Zeit wieder cinzubrittgcn, die er mir mit der anderen gespendet. Ich halte übrigens nur selten Fragen an ihn zu lbnn. Der Unerfahrenste im Gewerbs- wcsen begreift beim ersten Anblick den ganzen Mechanismus einer Steckiladel-Fabrik. Ich durchlief, wahrend er mich begleitete, ohne eigentlich mir anzugehören, die vorzüglichsten Ateliers: die Drahtzieherei, wo man aus einem Stück Kupfer wie ein Daumen stark einen unend lichen Faden zieht, welcher sich in unzähligen Ringen um einen Eylin der aufdrcht; die Wcrkställe, wo die Frauen den Draht, in Stücke von gleicher Länge geschnitten, auf einer langen Tafel ausstrecken und gerade biegen; die, wo diese achl bis zehn Fuß langen Stäbe in tausend Stücke von der Länge der Stecknadeln zerschnitten werden; dann die, wo diese Stücke, durch geübte Arbeiter, in Masse ausgenommen, uns Sandstein geschliffen werden, so daß tausend Funken herumsprüben. Hier ist Alle« so einfach, daß meine Fragen nicht seblgchen konnten. Wie viel Messingringe liefert täglich die Drahtzieherin? Wie viel bearbeiten diese Frauen solcher Bündel? Wie viel kann der Arbeiter Stecknadeln schleifen? Ulber alles dieses erhielt ich die bestimmtesten Antworten. Ich machte ganz im Stillen einige Vergleiche zwischen dem Um fang und der Einfachheit der Fabrications-Mittel, der Vortrcfflichkrit der fadrizirten Waare und dem ungesunden Gebäude, zwischen der Sache und dem Menschen, welcher Letztere mich weit mehr imercssirte, al« das, waS au« seinen Händen hervorging. Ich bin in dieser Hinsicht in Belgien verwöhnt worden. Dort hat ein ausgezeichneter Mann, Herr John Eockerill, Vollkommenheit in der Arbeit mit einem besseren Loose der Arbeiter zu vereinigen gewußt. Um den Menschen mit dem Dampfe, welcher dessen unumgängliches HülsSmittel geworden, unter dasselbe Dach zu bringe», Kal er das Gebäude vergrößert, erweitert und gesund ein gerichtet, so daß die Maschine die Luft, deren der Arbeiter nöihjg hat, nicht verderben kann. Die Werkstätten von Seraing, dieses Palastes de« neuen Gewerbfleißes, sind ein Muster für alle neuen Unternehmun gen, und zugleich ein schreiender Vorwurf für jene alten Fabriken, welche die neueren Erfindungen in alte und ungesunde Mauern ge drängt und Menschen und Maschinen durch einander in enge Kammern gepreßt haben, wo die Maschine den Menschen erstickt und wo der gähnende Ehlinder jeden Augenblick den Arbeiter mit seinem Atbemzug hineinzuziehen droht. In Seraing ist Alle« überdacht, und die Civilisation braucht dabei nicht mehr zu erröihen. Es ist das Merk mal ausgezeichneter Menschen, nichts halb zu tbun. John Cockerill ist kein alltäglicher Kaufmann, welcher seine Arbeiter in alten verfallenen Häusern vermodern läßt, um das, was an der Wohnung erspart wird, in die Tasche zu stecken. Mit Wehmulb dachte ich j» Manchester, in Liverpool, in Birmingham, in London, wenn ich dort die Fabriken be suchte, wo der Gewerdfleiß de« neunzehnten Jahrhundert« in Werkstätten des Mittelalter« gebannt ist, an Seraing zurück. Di« neuen Erfin dungen ringen -dort mit dem alten Geschäftsgang, mit dem Handwerk. Die heilsame Wirkung der Maschinen gewahrt man dort nur in dem Fabrikat, wahrend die Uebelstände der Fabrikation gänzlich auf den Menschen lasten. Diese Erinnerung an Seraing folglr mir auch in die Stecknadel-Fabrik, als ich die mit unsichtbarem Kupferstaub ge schwängerte Luft einalhmete und die Leiterstufen hinaufkletterte, deren Sprossen unler meinen Füßen knickten, und die man zur Ersparung des Raums in die Wände bohrt. Aber ich sagte dem Fabrikanten nichts davon. Ich fühlte wohl, daß jede Bemerkung in dieser Hinsicht über flüssig war. Ich behielt also mein Stillschweigen bei, und thal nur ab und zu einige Fragen über die Zahl der Arbeiter in der Anstalt, ihre Fertigkeit im Arbeiten und über andere Gegenstände dieser Art. Dieselbe Zurückhaltung beobachtete ich bei dem Besuch des Zim mers, in welchem so höchst einfach und schnell die Schräubchen vcrscr- ligl werden, aus welchen man die Köpsc der Stecknadeln macht. Ein Kind dreht eine Kurbel, welche den Messingsaden in kleine Schrauben dreht; ein Mann ergreift mit einer Hand eine gewisse Anzahl Schräub chen, und schneidet sie mit der anderen vermittelst einer Schcere nach der Stärke eine« Slccknadclkopfs. Mil jedem Schlag fällt ein Dutzend dieser Köpfe, und da der Arbeiter eben so ost, al's der Pul« in den Adern schlägt, seine Scheeren-Klingen zusammenschnappt, so kann man sich einen Begriff davon machen, wie viel Nadelköpse ein Mann in Einem Tage anscrngen kann. Ich fragte nach der Zahl, und der Fa brikant sagte sie mir auch; aber da es mit ökonomischer Schnelligkeit und in Englischen Zahlen geschah, so entging e« mir. Wo ich aber die Worte zurückhaltcn konnte, wo ich, ich möchte sagen in unnützes Denken mich verlor, da« war ein Saal, in den ich nun eintrai — ein niedriger, finsterer Saal, wo an dreißig Kinder, Knaben und Mädchen, Stecknadelköpfe prägten; eine alle Frau, die ein kleines Röhrchen, wie eine Ruthe in der Hand hielt, führte die Aufsicht über die Kinder. Jedes Kind saß vor einem Werkzeug in Gestalt eine« schwebenden Hammers, dessen Name Wippe (tc-tnir) genugsam seine Anwendung bezeichnet, und der lothrccht auf die Stecknadel fällt, welche darunter ihren Kopf aus einem kleinen Loche der Unterlage bervor- streckt. Dies ist eine komplizirte und feine Arbeit. Eine Radel nach der anderen in ein Breil nehmen, ein Schräubchen darauf pflanzen, dann die so hergestcllle Nabel in das kleine Loch stecken, sie prägen, schnell hcrausnehmen, und dies mit bedeutendem Geschick, um sich nicht zu stechen oder die Finger zu zerquetschen, und auch schnell genug, da mit der Fabrikant seine Rechnung dabei findet; dieses Alle« endlich sechs Stunden, ohne Nachlaß in Einem fort, ist da« nicht zu viel für arme Kinder? Es ist ihnen verboten, mit einander zu plaudern, oder auch nur in den kurzen Zwischenräumen, wo ihre Augen sich ohne Gc- sahr von ihrer Arbeit abwenden können, einander anzuläckeln. Die Ausseherin ging wie ein Wächtcrbund zwischen den Kindern herum, um denen, welche die Hand dcr Iauberfce nicht erreichen konnte, mit ihrem Stabe einen Wink zu geben, wobei sie mit ihrer kreischenden Stimme ihr: Sputet euch! Sputet euch! smalee Kaste, malce Kaste!) erschal le» ließ, bisweilen auch den Kopf rasch umdrehte, um einige leise ge sprochene Worte, eine Aeußerung der Zerstreutheit oder de« Mutb- willen« zu erhaschen; denn die Kinder lachen bei der Arbeit, und in ihren kleinen Händchen haben die Werkzeuge bisweilen daS Ansehen von Spielsachen. DaS Ohr diese« Weibe« ist geübter al« ihr Auge, und weiß in dem Lärm, welchen jene dreißig unaufhörlich auf- und nieder gehende Hämmer verursachen, ans der Stelle zu unterscheiden, ob einer darunter ist, welcher nachläßl, oder auch nur nickt den ganzen Ton angegeben Hal, weil er auf einen armen Finger fiel, der nicht zeitig genug zurückgezogen wurde. Die Fehler werden durch den Abzug eine« Pennv von dem elenden Tagelohn bestraft, und wer weiß, wa« dem armen Kinde begegnet, wenn cs mit diesem Pennv weniger nach Hause kömmt. Ich wußte, daß die Kinder für sechs Stunden Arbeit täglich sechs Pence (etwa fünf Sgr.) bekommen. Ich war zu aufgeregt, um mich nicht zu vergessen. „Meinen Sie nicht, daß für da« Alter dieser Kin der sechs Stunden Arbeit täglich zu viel seh?" fragte ick den Fabri kanten. Er antwortete nichts. „Wie viel Slecknadelköpfe kann ein solches Kind, wenn es recht fleißig ist, an einem Tage prägen?" Er sagte mir augenblicklich die Zahl. „Aber wenn diese Kinder in sechs Stunden dieselbe Arbeit verrichten, welche Erwachsene in derselben Z,ii leisten würden, warum erhallen sie nicht wenigstens die Hälfte des Tagelohn« eines Erwachsenen?" Er öffnete den Mund nicht. „Welches ist da« mittlere Aller dieser Kinder?" Er sagte «S mir, die Aellesten waren nicht über zwölf Jahre alt. „Glauben Sie nicht, daß eine so anhaltende und frühzeitige Arbeit der Gesundheit uachiheilig sev?" Er sprach zu der Aufseherin. — „Haben Sie das ganze Jahr sür diese dreißig Kinder zu tbun?" — „Nein." — „Und wenn Sie dieselben entlassen, was wird aus ihnen?" — Stillschweigen. — „Und wenn Sie von einem Kinde verlangen, was sein« Kräfte in einem Tage er lauben, ist es nicht auch billig, daß e« so bezahlt werde, daß «« seine täglichen Bedürfnisse befriedigen kann?" — Stillschweigen. — „Ber-