Volltext Seite (XML)
Ein illustrirtes Fachjournal für die Wollen-, Baumwollen-, Seiden-, Leinen-, Hanf- und Jute-Industrie sowie für den Textil-Maschinenbau; Spinnerei, Weberei, Wirkerei, Stickerei, Färberei, Druckerei, Bleicherei und Appretur. Fernsprech -Anschluss; Nr. 1058. Telegramm-Adresse: Redakteur Martin, Leipzig. Herausgeber und Chefredakteur: Theodor Martin. Redaktion, Expedition u. Verlag: Leipzig, Turnerstr. 17. Organ des Vorstandes des Vereins der Sächsischen Textil-Berufsgenossenschaft Deutscher Wollkämmer und Kammgarnspinner. N'b 7. 1890. Nachdruck, soweit nicht untersagt, ist nur mit vollständiger Quellenangabe gestattet. V. Jahrgang. Die definitive Gestaltung der Gewerbegerichte und Einigungs ämter in Deutschland. achdem in den Jahren 1874 und 1878 der Versuch gemacht war, ein Gesetz über die Gewerbegerichte zu Stande zu bringen, die Entwürfe dazu aber beide Male, zuerst an der Verbin dung der Gewerbegerichte mit den Amts gerichten und sodann an der Bestätigungsfrage des Vorsitzenden, gescheitert waren, hat nun mehr der Reichstag einen hierauf bezüglichen Gesetzentwurf zur Verabschiedung gebracht. Da ein Zweifel an der Zustimmung des Bundes raths ausgeschlossen ist, so wird das Gesetz am 1. April 1891 völlig in Kraft treten. Gewerbegerichte haben wir auch jetzt schon. Sie sind auf Grund des § 120a der Gewerbe ordnung errichtet. Aber sie sind kaum in einer Zahl von mehr als einem Dutzend in Deutsch land vorhanden. Wir nennen die zu Frank furt a. M., Leipzig, Nürnberg und Stutt gart. Durchschnittlich haben sie sich bewährt. Wenn wir jedoch nach den Gründen fragen, weshalb diese Art von Gerichten nur so spär lich über Deutschland verstreut ist, und weshalb nicht mehr Gemeinden von der ihnen durch § 120a der Gewerbeordnung gegebenen Ermäch tigung Gebrauch gemacht haben, so kommen wir auf die Beweggründe zu sprechen, welche zum Erlass des neuen Gesetzes Anlass gegeben haben. Die Gemeinden hatten keine feste Unterlage, auf der sie ein Ortsstatut über ein Gewerbegericht aufbauen konnten. Sie mussten sich mit ihren Vorschlägen an die oberen Staats behörden wenden, deren Genehmigung die Orts statuten bedurften, und diese waren in ihrem Urtheil über die Vorschläge durch keine gesetz liche Bestimmung beschränkt. Sie konnten, je nach ihrem Belieben, zustimmen oder ablehnen. Man begreift, dass sich die Gemeinden in ihrer grossen Mehrheit solchen Unbequemlichkeiten nicht aussetzen wollten. Vom 1. April 1891 ab wird dies nun hoffent- | lieh anders werden. Zwar ist für die Geneh migung des Ortsstatuts nach wie vor die obere Verwaltungsbehörde die zuständige Stelle, in dessen ist nunmehr durch das Gesetz sowohl | die Zuständigkeit und die Zusammensetzung der Gewerbegerichte wie das Verfahren vor den selben festgelegt, die Gemeinden haben dadurch einen Anhalt für die Ausarbeitung ihrer Orts statuten erhalten, auf dem sie fussen können, und insofern diese Statuten sich innerhalb der durch das Gesetz vorgezeichneten Linie be wegen, wird denselben die Zustimmung der Staatsbehörde nicht fehlen. Die letztere muss I übrigens eine Versagung der Genehmigung mit [ Gründen versehen. Dadurch ist die Möglich- ' keit geboten, dieselben einer Kritik in der I Oeftentlichkeit zu unterziehen, und die Oeffent- lichkeit hat heutzutage bereits ein solches Ge- wicht erlangt, dass auf sie wohl allseitig ge achtet w r erden muss. Es ist demnach begründete Aussicht vorhanden, dass nach dem 1. April 1891 Gewerbegerichte an den verschiedensten Orten werden errichtet werden. Ein weiterer Vortheil, den das neue Gesetz mit sich bringt, ist der, dass die Gewerbege- richte in Zukunft sämmtlich gleichmässig organisirt werden, und dass das Verfahren vor I ihnen ein und dasselbe ist, ob nun das Gericht j in Memel oder in Metz, in München oder in Schleswig seinen Sitz hat. Dieser Vortheil ist bei der Fluctuation unserer Arbeiterbevölkerung nicht zu unterschätzen. Die gewerblichen Strei tigkeiten werden dadurch, dass dem Arbeit geber wie dem Arbeitnehmer die gleiche Kennt- niss der örtlichen gerichtlichen Verfahrungsver- hältnisse innewohnt, viel leichter sich erledigen lassen. Nun wird man aber wohl darauf achten müssen, dass der Kreis derjenigen Streitigkeiten, welche den Gewerbegerichten nach dem neuen Gesetze unterstellt werden, ein begrenzter ist. Was über denselben hinausgeht, fällt auch in den Orten, wo Gewerbegerichte existiren werden, den gewöhnlichen Gerichten zu. Zuständig sind ’ die Gewerbegerichte ohne Rücksicht auf den Werth des Streitgegenstandes für Streitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer über den Antritt, die Fortsetzung oder Auf lösung des Arbeitsverhältnisses, sowie über die Aushändigung oder den Inhalt des Arbeits buches oder Zeugnisses, über die Leistungen und Entschädigungsansprüche aus dem Arbeits- verhältniss, sowie über eine in Beziehung auf dasselbe bedungene Conventionalstrafe, über die Berechnung der von den Arbeitern zu leistenden Krankenversicherungsbeiträge und schliesslich auch über die Ansprüche, welche auf Grund der Uebernahme einer gemeinsamen Arbeit von Arbeitern desselben Arbeit gebers gegen einander erhoben werden. Dagegen sind schon der Zuständigkeit der Ge- werbegerichte Streitigkeiten über eine Conven tionalstrafe entzogen, welche für den Fall be dungen ist, dass der Arbeiter nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein solches bei anderen Arbeitgebern eingeht oder ein eigenes Geschäft errichtet. Im letzteren Falle würde es sich namentlich um die unzulässige Verwerthung von Geschäftsgeheimnissen handeln, die unter Umständen einem Betriebe ausserordentlich grossen Schaden zufügen kann. Deshalb ist diese Art von Streitigkeiten der Competenz der ordentlichen Gerichte und deren Instanzen zuge verblieben. Dazu kommt, dass nicht überall die gesammten gewerblichen Streitig keiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Gewerbegerichten unterstellt zu werden brauchen. Es ist vielmehr dem Ortsstatut die Befugniss vorbehalten, die sachliche Zuständig keit der Gewerbegerichte auf bestimmte Arten von Gewerbe oder Fabriksbetrieben, die örtliche auf bestimmte Theile des Gemeindebezirkes zu beschränken. Diejenigen Arbeitgeber, welche ihr Gewerbe oder ihre gewerblichen Streitig keiten dem Gewerbegerichte unterstellt wissen wollen, werden demnach gut thun, bei Fest stellung des Ortsstatuts innerhalb der betref fenden Gemeindebehörden eventuell darauf hinzuwirken. Nach Errichtung des Gewerbe gerichtes aber werden Arbeitgeber sowohl wie Arbeitnehmer, ehe sie bei demselben eine Klage auf Austragung einer gewerblichen Streitig keit anhängig machen, sich, um Zeit und Mühe zu sparen, erst an der Hand des Ortsstatuts