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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.11.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-11-29
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021129023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902112902
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902112902
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1902
-
Monat
1902-11
- Tag 1902-11-29
-
Monat
1902-11
-
Jahr
1902
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Sie gingen aus von den Sozialdemokraten, denen man allerdings mildernde Um stände deshalb zubilligen muß, weil der ZentrumSabge- ordnete Bachem ihnen einen mit dem Beratungsgegenstanve (Zulässigkeit.de» Antrags Kardoiff) gar nicht in Verbindung stehenden Borwurf — sie hätten sich über die ihnen durch dick und dünn folgende Freisinnige Vereinigung abfällig geäußert — machte und seinen Gewährsmann nicht neunen wollte. Aber derartige Ungebörigkeiten zu rügen, ist Sache deS Präsidenten, und die schlechteste und rohste Abwehr in einer parlamentarischen Körperschaft sind drohende Fäuste und knotige Schimpfereien, die einen Vor geschmack von der Wahlbewegung geben, die entstehen würde, wenn die Zollvorlage nicht vor dem Ende der laufenden Legislaturperiode verabschiedet werden sollten. Wenn irgend etwa» die MehrheilSparteien anstacheln kann, dem grausamen Spiele ein Ende zu machen und die Zoll vorlage durchzudrücken, so sind eS die gestrigen Scenen, die jedenfalls in Volksversammlungen, deren Leitern das An sehen eines Reichstagspräsidenten fehlt, in noch ungleich handgreiflicherer Art sich wiederholen müßten. Und diese ganze widerwärtige Sitzung hat die Frag«, um die es sich handelte, nicht im geringsten geklärt, vor allem deshalb nicht, weil die Debatte vollständig zerflatterte. Es handelte sich, wie gesagt, um die Krage der Zulässigkeit des An trags Kardorff, aber ebensoviel wie über diese Frage wurde über den Inhalt des Antrages gesprochen. Dieses störende und die Klärung der Meinungen verzögernde Durcheinander wäre unsere» Erachtens vermieden worben, wenn mit dem Anträge Kardorff nach Z 22 der Geschäftsordnung so verfahren worden wäre, wie mit anderen Anträgen solcher Art mit der EiuganzSsormel .Der Reichstag wolle beschließen", zu deren Begründung der Antragsteller frühestens am dritten Tage, nachdem er gedruckt und in die Hände der Mitglieder gekom men ist, daS Wort erhält. Ware das geschehen, so hätte die Minderheit nicht über Ueberrumpelung klagen und sich auf eine sachliche Bekämpfung vorbcreiten können. ES ist schon so viel Zeit vergeudet worden, daß eS jetzt auf einige Tage nicht halte ankommen können. Aber die Mehr heit will nun einmal vorwärts und ist der Erwägung von Zweckmäßigkeitsfragen nicht zugänglich. AuS der Debatte ist eigentlich nur hervorzubeden, daß die Leugner der Zulässigkeit deS Antrags Kardorff dem Abg. Basser- mann gegenüber, der zu den Unterzeichnern des Antrags gehört und dessen Zulässigkeit nachzuweisen suchte, auf die „Nauoaal-Ztg." verwiesen, welche nicht nur anderer Ansicht ist, sondern den Antrag sogar als einen parlamentarischen „Staatsstreich" bezeichnet. Herr Bassermann ging auf diesen Vorhalt mit Recht nicht ein, da die „Nat.-Ztg." in wirt schaftlichen Fragen den Charakter eines nationalliberalen Blattes nicht hat. Er hätte aber darauf verweisen können, daß sogar die „Nat.-Ztg." erklärt: „Erst wenn die Mehrheit bei monatelanger Pflichterfüllung durch Schikane» der Sozialdemokratie an der Erledigung der über- nommeuen Aufgabe gehindert wäre, könnte sie ein moralisches Recht zu einer AuSnahmemoßregel behaupten." Nun, wenn die Mehrheit der Nationalliberalen mit dem Zentrum und der Mehrheit der Konservativen der Meinung ist, eS sei der Schikanen der Sozialdemokratie bereits genug und übergenug, so befindet sich diese Mehrbeit nur in Bezug auf den Zeitpunkt der Anwendung eines „moralischen Rechts" m Differenz mit der „Nat.-Ztg." und muß annebmeu, daß auch diese Differenz schwinden würbe, wenn die Sehnsucht der „Nat.-Ztg." nach weiteren Schikanen der Sozialdemokratie ge stillt wäre. Gern macht übrigen- auch die Mehrheit der Nationalliberalen den Schachzug gegen die Obstruktion nicht mit, obgleich sie von seiner Zulässigkeit überzeugt ist. Das geht aus folgender Auslassung der „Nat.-lib. Korr." hervvr: „Niemand wird leugnen, daß die durch den Antrag Karborss vorgeschlagene Lösung zur Beratungdes Zolltarifs eine unerfreuliche ist und nur erklärt werden kann durch den Kriegszustand, Leu die Sozialdemokratie durch ihre Obstruktion herbeigeführt hat. In einem solchen Zustande, wo die Minderheit alle Mittel benützt, um die Mehrheit zu tyrannisieren, da ist es auch der letzteren ihrerseits gestattet, alle geschästSordnungsinäßig nicht unzulässigen Mittel anzuwenden, um ihr Ziel zu erreichen. Für die Zulässigkeit des Antrages Kardorff nach der Geschäftsordnung kommt gegenwärtig nur in Betracht, ob Bestimmungen derselben dem Antrag wider sprechen oder nicht. Es giebt aber keine Bestimmung der Geschäfts« ordnung, welche dem Anträge widerspricht. Denn nach der Fassung deS Abs. I deS 8 1 deS Zolltarifgejetzes ist der Zolltarif ein Ganzes, entweder eine Anlage Les Gesetzes oder ein Teil des Absatz 1 des 8 1. lieber die Behandlung von Anlagen zu Gesetzen ober enthält die Geichästeordnung keine Be stimmung. Mrd aber der Tarif als rin Teil des Absatzes 1 angesehen, so ist es nach 8 19 der Geschäftsordnung sogar sehr fraglich, ob eine Teilung der Tiskussiou überhaupt zulässig ist. Bei ausschließlicher Berücksichtigung der formalen Gesichtspunkte, welche für die Geschäftsordnung maßgebend sind, gibt es keine Be stimmung, welche dem Antrag Kardorff widerspricht, mithin ist er geschäftsordnungsmäßig zulässig." Unbehaglich ist die Situation auch den übrigen Teilen der Mehrheit. Gegen das Ende der gestrigen Sitzung tauchten sogar Zweifel auf, ob der Antrag Kardorff die Mehrheit auf sich vereinigen werde. Es sind angeblich acht Nationalliberale dagegen, ferner Minderheiten in den übrigen Fraktionen der Mehrheit. Wie die Antisemiten dagegen sind, so nimmt man auch nicht an, daß alle Polen, Welsen und Elsässer dafür stimmen werden. Die Annahme des Antrages Kardorff mit geringer Mehrheit wäre kein Erfolg. Die Lage ist also nicht geklärt, sie wird eber noch verwirrter. Der „Vorwärts" in -er Klemme. Wenn der „Vorwärts" geahnt hätte, in welche Verlegen- beiten ihn die „Kruppentbüllungen" bringen würden, so hätte er wohl die Finger davon gelassen. Es wird nicht eben häufig vorkommen, daß der deutsche Kaiser und die demo kratische „Frankfurter Zeitung" in der Beurteilung einer sozialdemokratischen Schändlichkeit übereinstimmen. Der „Vorwärts" hat dieses Kunststück zu Wege gebracht und jetzt ist es beinahe iiutleiderregenv, anzusehen, mit welchen kläglichen Verlegenbeitsphrasen er sich zwischen der Scylla Kaiser und der Cbarybdiö „Frankfurter Zeitung" hin durch zu winden versucht. Am allerschwersten wird ihm die Abwehr der wuchtigen und hageldichten kaiserlichen Hiebe, nicht, weil —wie er glauben mackeu möbte — er sich vor den MajestätSbeleidigungs-Paragraphen in Acht nehmen muß, sondern weil er nichts Stichhaltiges zu entgegnen weiß. Wie kläglich nimmt es sich aus, wenn er sich dahinter ver steckt, der Kaiser könne den „VorwärtS"-Artikel unmöglich ge lesen haben, sondern sei wohl durch die Direktoren oder die Beamten der Firma K>upp, dir ihrem Hasse gegen die Arbeiterbewegung Ausdruck bätlen geben wollen und den Fall politisch ausbeuten möchten, unterrichtet worden. Ader die „Frantsurier Zeitung" verurteilt ja auch mit großer Schärfe Vas Vorgehen deS „Vorwärts", ohne im Dienste des „KanonenkönigS" zu stehen und ohne einen Haß gegen die Arbeiterbewegung zu hegen. Und zweitens: die Rede des Kaisers beweist deutlich, daß gar keine Absicht besteht, den Vorfall zum Ausgange einer politischen Aktion zu machen. Ebenso entstellt der „Vorwärts" tue Tatsachen, wenn er der Bemerkung deS Kaisers, der Schütze babe aus sicherem Verstecke den vergifteten Pfeil abgeschossen, die Verant wortlichkeit der Redaktion entgegenhält. Wer wird denn für den Schandariikel verantwortlich gemacht? Der Ver fasser, oder Herr Carl Leid, der als verantwortlicher Redakteur des „Voiwärls" zeichnet und voraussichtlich mir dem Inhalte des Artikels nicht das Mindeste zu tun bat? Und wenn Herr Leid für den Artikel im Gefängnisse büßen muß, dann wird sich ein anderer sitzfester Genosse finden, da mit der Verfasser des Krupp-Artikels weiterhin vom sicheren Verstecke aus, wie der Kaiier sehr richtig sagt, Schmähartikcl in die Welt senden kann. Den Gipfelpunkt der Heuchelei er steigt aber der „Vorwärts", wenn er, „um allen Verdunke lungen und Verleumdungen der kapitalistisch gedungenen Sckandpresse ein sür alle Mal entgegenzutreten", festzu stellen versucht, daß er den Artikel nur um der Be seitigung des 8 175 willen veröffentlicht und daß ibm Skandalsucht ferngelegen babe. Dem gegenüber kann die „Schanvpresse", die sich von den extrem-konservativen Organen bis zur „Frankfurter Zeitung" erstreckt, auch nur em für alle Mal erklären: das ist eine feige Lüge. Wer darüber klagt, daß der 8 175 Unglückliche der Willkür der Polizei überiiesere und sie bis zum Selbstmord treiben könne, der schlägt doch dem Mitleide mit solchen Unglücklichen geradezu ins Gesicht, wenn er einen angeblich zu dieser Kategorie gehörenden Mann an den Pranger stellt. Der „Vorwärts" kann sich aber um so weniger von dem Vorwuise gemeiner Skandalsucht freisprechen, als er ja unter Anwendung schmutziger Mittel unausgesetzt bemüh« ist, skan dalöse „Enthüllungen", durch welche die bestehende Gesellschaft kompromittiert werden soll, zu veröffentlichen. Man braucht auch bloß die sensationellen Anlockungen zu bören, mit denen der „Borwär.S" von den Berliner Straßenhändlern von früh bis ahendS ausgebrüllt wird, um sich darüber klar zu werden, daß eS vielem Blatte auf Sensation und Reklame ankommt. Tas sozialdemokratilche Zentralorgan entwickelt sich ebenso nach unten, wie die Neapolitanische „Propaganda", der der „Vorwärts" offenbar seinen angeblich auf eigenen Informationen beruhenden Artikel entnommen hat. Dieses Blatt suchte in früheren Zeiten skandalöse Zustände auszu decken, um ihnen ein Ende zu bereiten; beule erfindet es Skandale, um die Sensationslust seiner Leser zu befriedigen. Der „Bo.wärtS" ist du-ch Vas Auflehen, das manche seiner Enthüllungen gemacht haben, auf den Standpunkt gekommen, es für seine „Ehrenpflicht" zu halten, Enthüllungen um jeden Preis zu bringen; ob darüber ein Menschenleben zu Glunde geht, ist ihm ganz egal. So durste also der Kaiser mit Recht von einem „Morde" sprechen. Tie nationale» Ltärkevcrhältniffe in Böhmen. Unter den Ergebnissen der letzten österreichischen Volks zählung, soweit sie Böhmen betreffen, sind sür uns mit das Interessanteste vie Angaben über die Sprache und Nationalität der Schulkinder. Für den Gesaintstand von beute können ja nur die Zahlen der Gesamtzäblung in Betracht kommen, aber ein Vergleich dieser nut den Ergeb nissen einer gesonderten Volksschulstaiistik gibt uns neuen Anhalt für die Beantwortung der Krage, in welchem Sinne und in welchem Grade fortschreitend oder rückgängig die ganze Entwicklungslinie ist, von der uns die Fixierung des heutigen Standes nur einen Punkt gibt. ES wurden in den böhmischen Volksschulen gezählt: im Jahre als Deutsche als Tschechen 1865 36,44 v. H. 63,56 v. H. 1870 38,37 . . 61,63 . - 1875 3924 . . 60,76 - . 1880 36,86 - . 63,14 - - Die Ergebnisse der letzten Zählungen von 1890 und 1900 können dieser Tabelle nicht einlach angefügt werden, weil bei diesen Zählungen ein anderes Verfahren angewendet wurde als bei jenen. Früher war die Frage nach der Nativ, alität gestellt worden, 1890 und 1900 wurde nach der Sprache gefragt. Dabei ergab sich ein etwas mehr differenziertes Resultat. Es sprachen nämlich im Jahre nur deutsch 18U0 33,3 v. H. 1900 33,9 - - nur tschechisch beide Sprachen 62,5 v. H. 4,2 v. H. 61,1 - - 4,2 - - Ein Vergleich mit dem Gesamtergebnis der Zählung für Böhmen ergibt, daß der Prozentsatz der dcutichen Schul kinder hinter dem der Deutschen überhaupt zurücksteht. Diese stellen nämlich 37,3 v. H. der Bevölkerung. DaS bedeutet eine ernste Mahnung. Mag der Zufall, mögen auch, waS ziemlich sicher ist, tschechische Tendenzen die Zählungsweise beeinflußt haben, jedenfalls kann man schließen, daß das Deutichlum in der Heranwachsenden Generation nicht ge nügenden Nachwuchs hat, um sich bei der Kopfzahl von beute zu halten, wenn nicht ganz energisch gerade hier noch gearbeitet wird. Wie viel planmäßige Arbeit in nationalem S nne ver mag, zeigen ja die obigen Zahlen ganz deutlich. Von 1865 bis 1875, alio in der Zeit, wo der Naiionalitätcnhader noch nicht so heftig war wie heute und dem Deutschtum noch Be wegungsfreiheit gelassen war, sehen wir es sich ruhig ent wickeln und stetig erstarken. Ende der 70er Jahre kommt die Wendung, der Deutschenhaß der Tschechen beginnt seine Hetze und schon 1880 sehen wir dank dieser Hetze und dank der heftigen tschechiichen Propaganda den empfindlichen Rück gang des Deutschtums, der bis 1890 anhält. Erst von da ab tritt infolge der inzwischen auch auf deutscher Seite auf genommenen nationalen Arbeit wieder eine allerdings sehr, sehr langsame Wendung ein, die bis zum Jahre 1900 eine wenn auch kaum fühlbare Besserung für daS Deutschtum bringt. Noch lange nicht zur Genüge, wie mau sieht, aber doch genug, um zu weiterer, vermehrter Arbeit, vor allem auf dem entscheidend wichtigen Gebiet der Schule anzu spornen. Die Handelsflotte -er Bereinigten Staaten hatte am 30. Juni d. I. einen Bestand von 24 273 Fahr zeugen, die ein Gesamtdeplacement von nahezu 5,8 Millio nen Tonnen besitzen. Neu erbaut wurden im letzten Jahre fast ausschließlich große Dampfer, die verhältnis mäßig wenigen Werften von einer geringen Zahl nord amerikanischer Reedereien in Auftrag gegeben und zu meist aus Stahl hergestellt wurden. Für das laufende Jahr wird sich der Bau neuer Kauffahrteischiffe in engeren Grenzen zu halten, wie auch in der cngtischcnHan- delsmarine die Tonnage der neu hinzukommendeu Fahr zeuge von 1,4 auf 1,2 Mill. Tonnen zurückgcgangen ist. Die für die Fahrzeuge von über 100 Tonnen Deplacement erforderlichen Besatzungen zählen rund 40 000 Mann, von denen 21000 Amerikaner, 10 000 Ausländer sind. Mit diesem Verhältnis der heimischen zur ausländischen Mann schaft ist die Handelsflotte der Union wesentlich un günstiger gestellt, als die Handelsmarine irgend eines anderen Staates, da selbst in Großbritannien, das be kanntlich sehr erheblich auf die Heranziehung ausländischer Matrosen und Schiffsarbeiter angewiesen ist, von rund 250 000 im Jahre 1000 in der Handelsflotte tätigen Mann schaften nur 73 000 Ausländer, und zwar 36 000 indische Laskars und Chinesen, die auf englischen Ostindienfahrern dienen, die übrigen 37 000 Angehörige verschiedener Nativ nalikäten waren. Von den unter der Flagge der Union fahrenden Seeleuten waren zu dem angegebenen Zeit punkte 5700 Engländer, 4800 Skandinavier, 2000 Deutsche. 900 Russen, 800 Holländer, je 300 Oesterreicher und Italiener, 900 bcz. 700 Spanier und Portugiesen, 600 Chi nesen nnd 300 Japaner. Nebenbei bemerkt, herrschen ähn liche Zustände in der Kriegsmarine der Bereinigten Staaten, nnd die starke Vermehrung, welche die mili- Feirillotsn. Isotta Larberighi. Ein Erlebnis. Nachdruck verboten. Und plötzlich vernahm ich bekannte Worte, Strophen, die mich schon einmal nmtönt — vor Jahren. Eine Seyninchtshymnc an Rom war's — von einem Verbannten — Sehnsucht nach dem Süden, nach dem Sorakte — nach einer Fran, die durch die Campagna ge fahren kam mit roten Kutschern, die wie Mohn ans dem Staub des Weges glühte«. Da erkannte ich die Quelle, aus der diese Berse ge flossen — und in die seltsame Empfindung, die uns immer erfaßt, wenn ein verklungener Laut von einst uns un erwartet zum zweiten Male ertönt, mischte sich Empörung über die Fran, die das Andenken eines Verstorbenen, der sie geliebt, ehrte, indem sie gelassen ein Plagiat an seinen Liedern beging, Mitleid mit dem armen Jungen, von dessen Leben nichts übrig geblieben war, als eine Handvoll Berse. WaS er gelitten, verwendete sie als Effekt für ihre Montage — sein Dasein, das so früh verlodert war „wie schwüler Blitzesschein", wurde zu ihrer Drapierung ver wertet von derselben Frau, die ihn in die Verbannung, vielleicht in den Tod getrieben. Als sie schloß, war alles wie berauscht — aber mit der Größe des Beifalles wuchs meine Empörung. Ich blieb, bis alle gegangen waren. Und bann goß ich die Schale meines Zornes über sie aus und sagte ihr alles, was ich wußte, all die seltsamen Zufälligkeiten, die ich bisher verschwiegen, meine ganze Entrüstung, meine» ganzen Groll. Sie hörte mir zu, in den Sessel »»rückgelehnt, ganzwie sie in der Theaterlog« -u lauschen pflegt«, wenn sie die Düse spielen sah oder Zacconi. Sie genoß bloß das Dramatische an dem ganzen Auftritt. Rene empfand sie gar nicht — aber sehr abergläubisch, wie sie war, erschien es ihr plötzlich, als ob ich ihr durch jene seltsamen Beziehungsfädcn in einer eigenen unheim lichen Weise verfallen sei. Der Tod Silvios, der von mir zur Post gegebene Brief, mein stummes Vvrübergehen an ihr in Perugia — alles waren ihr Glieder einer Kette, die mich an sie band. Besonders die Stunden von Perugia regten sie förm lich auf. — „O", sagte sie, „wie viel haben wir versäumt — wie viel hätten wir uns schon damals sein können — und ich immer mit dem langweiligen Attilio — denn lang weilig war er! immer nur Gefühle — von Originalität des Geistes keine Spur —" Und sie nahm eine Cigarette und fragte, ob ich morgen mit ihr zum Rennen in die Campagna fahren wolle. Ich lehnte ab und ging schnell fort. Ich blieb einige Tage dem Palaste fern. Scirocco wehte. Ganz zurechnungsfähig ist dann ja kein Fremder. Nächtens trieb ich mich planlos in Rom umher, nur um Brunnen rauschen zu hören. Jeder, dem in der ewigen Stadt einmal etwas allzu stark auf die Nerven ging, wird Ihnen bezeugen, d«ß dieser römische Brunnengesang das beste Mittel ist, wildbcwegte Seelenwogen zu glätten. Hier rauschen ewige Beruhigungen. In diesen Nächten wurde mir zu meinem Schrecken klar, daß ich von heftiger Leidenschaft zu Konteffa Isotta erfaßt sei und daß in dem Maße, wie ihr Sturm in mir anschwoll, meine Entrüstung über das Plagiat sich legte. Ich erlebte an mir selbst das psychologische Moment, das ich an anderen so oft beobachtet, daß Italien die Moral verdirbt — ich meine, die biedere deutsche Moral! — Seine Ge schichte hat zu viel Ungeheuer verherrlicht und die Sünder der Renaissance locken einem mit hundert Morden auf dem Gewissen stets Bewunderung ab, da, wo wir verdammen sollten. Mein ganzer Zustand jener Tage, der mir heute so un faßbar erscheint, sand bald seine physische Erktärnng: ich bekam römisches Fieber. — Mein Arzt riet mir, sofort abzureisen — ebenso mein Monsignore, den ich in letzter Zeit etwas vernachlässigt hatte und nun spät abends zufällig an einer Cvrsocckc traf. Natürlich an einer Corsoecke nahe dem Palazzo Barbcrighi; denn ich schilderte wie ein Primaner nntcr „ihren" Fenstern. Er warf einen Blick auf die Palastfaffade, dann auf mich. „Chinin und Abreisen ist das einzig Richtige bei Fieber", sagte er mit verständnisvollem Lächeln — „letzteres so bald wie möglich." Seine dunkle Gestalt zeichnete sich silhouettenhast auf die Häuserwand, an der wir entlang schritten. Er kam aus dem Anglo-Amcrican-Hotel, wo er ein paar deutschen Damen vorgesungcn hatte. Er erzählte lachend ein paar Wortspiele, mit denen die schöngeistigen Damen ihn trak tiert hatten — dann plötzlich strich er sich über die Stirn, legte seine schmale Hand auf meinen Arm und sagte, wie von ungefähr — sehr gut gespielt: „Ich habe mir übrigens kürzlich Vorwürfe über meine Eitelkeit gemacht —" „Was sollte d«nn erst unsereins sagen?" rief ich. „Meine Eitelkeit, einen illustren Bekannten zu haben, hat mich in letzter Zeit zu Unvorsichtigkeiten verführt — ich habe diesem Bekannten imponieren wollen mit aller hand echt römischen Details, habe ihm ein Theater gezeigt, aber ihn nicht hinter die Kulissen sehen lassen. Und das ist ja gerade das echt Römische: diese Unzuverlässigkeit in allem — diese Säulen, von denen niemand weiß, ob sie nicht über Nacht brechen — diese Ministerien, die so plötz lich stürzen können — diese Frauen, die sich mit großen Namen und historischer Vergangenheit drapieren, wie zum Beispiel unsere schöne Gönnerin da oben" — er deutete nach dem Palazzo Varbertght zurück, über dem tn einem wunderbaren Nachthimmel die werdende Mond hälfte schwamm — „ja und schließlich ist alles wie mit dem Romulusgrabe — mystisch." Ich schwieg. „Nichr wahr? Sie hat Sie ebenso gut wie alle andern glauben lassen, daß in ihren Adern das Blut von Fürsten und Päpsten stieße. Das ist so eine kleine Schwäche von ihr. Aber ich weiß, der schöne Name Isotta ist nichts weniger als ihr Taufname nnd in Wirklichkeit heißt sic Annie oder Katherine. Sie ist, wie ich ans zuverlässiger Quelle weiß, Amerikanerin und zwar nicht einmal ans dem besten Amerika, sondern aus Chicago oder Buffalo, — ein Mädchen aus dem t'ar rvo«l, von irischen Ettern! Sic war, als der selige Barbcrighi sie in Nizza kennen lernte, eine nichtige „Glncksrittcrin" — kein Tropfen Rümcrblut in ihren Adern, obwohl sie sich stets für eine Cousine der Barbcrighi aue-gegeben hat." Ich heuchelte Gleichgültigkeit und zuckte Vie Achseln. „Sie scheinen mich kunstgerecht ernüchtern zu wollen", sagte ich — „aber vergebens, denn bei solchen Persönlich leiten scheint mir das Woher? gar nicht so wichtig — ob Nom oder Buffalo. Möglicherweise ist das auch alles Klatsch. Er lächelte. „Man sagt noch etwas von ihr, was Ihnen vielleicht nicht ganz so überraschend klingen wird. Der selige Rar- berillsti — übrigens der seelenloseste Antvmat, der mir je vvrgckommen ist, ein Mensch, der außer seinem allerdings authentischen historischen Pedigree und seinem Reichtum eigentlich keine Qualität besaß, — dieser biedere Epigone starb also vor einigen Jahren ganz plötzlich in einem neapolitanischen Hotel an einer Austernvergtftung. Unsre schöne Freundin soll die bedenkliche Beschaffenheit der Lieblingodclikateffc ihres Gatten gekannt, aber cS keines wegs für nötig gehalten haben, ihn zu warnen." »Forso-Phantasien!" sagte ich. „Die ewige Roma hat ja dal Patent auf Klatsch."
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