Volltext Seite (XML)
Tageblatt. Amtsblatt des Kgl. Bezirksgerichts zu Freiberg, sowie der Kgl. Gerichtsämter und der Stadträche zu Freiberg u. Brand. F 23. Erscheint i. Freiberg jed. Wechent. Ab. S U. für den and. Tag. Jnser. werden bi« V. II U. für nächste Nr. angen. Donnerstag, den 1. Februar Preis viertcljährl. 20 Ngr. Inserate werden die gespaltene Zeile oder deren Raum mit 8 Pf. berechnet. 1872. 4- Freiberg, 31. Januar 1872. In der Natur der Menschen liegt es begründet, daß sie nach einer außerordentlichen Erregung in eine gewisse Abspannung ver fallen. Dem entsprechend tritt auch bei den Völkern dieselbe Er scheinung auf. Wer heute im deutschen Volke jenen schönen gei stigen Aufschwung suchte, mit dem es den Krieg gegen das über- müthige Frankreich begann und beendete, der würde kaum noch Spuren davon finden. Es scheint, als bestätige sich da- Wort: „Zum Teufel ist der Spiritus, das Pflegma ist geblieben." Ueberall herrscht nach dem Sturm eine Ruhe, Nüchternheit, ja Trägheit, eine Art von Abspannung, die sogar als unnatürlich bezeichnet wer den könnte. Denn wenn der Krieg und die Siege Deutschlands als in ihren Ergebnissen doch sehr glückliche Umstände gegolten haben und der hohen und allgemeinen Begeisterung der Natur ent sprachen, so muß man sich billig wundern, daß so überraschend schnell eine gewisse Gleichgültigkeit für die Erinnerungen daran um stch gegriffen hat, die fast in förmliche Abneigung dagegen auSzu- laufen beginnt. Die gekommenen Gedenktage aus dem französischen Kriege haben es vor Augen geführt. Sie find überwiegend wenig oder gar nicht für irgend eine äußere Feier beachtet worden. Man hat durchaus nicht starkes Verlangen nach Erinnerungen, die doch die stolzesten der Nation sein sollten. Brochüren und Gedichte darauf erfreuen sich keiner Theilnahme; die Werke über den Krieg, welche meist auf die Popularität des Gegenstandes speculiren, finden nur matten Absatz; ruhmsprechende Illustrationen darüber in den Zeit schriften begegnen einer flauen, fast gleichgültigen Aufnahme im Publikum. Mit der natürlichen Uebersättigung an derlei Dingen erklärt sich dies nicht zur Genüge; ebensowenig aus einem generösen Zuge des deutschen Volkes, welches sich in seinen Stegen nicht verliebt bespiegeln möchte. Dahin ist die herrschende Empfindung nicht ein fach auszudeuten ; denn noch stehen Heere von uns in Frankreich und trotzdem richten sich die Gedanken der deutschen Nation ohne bestimmten Anlaß nicht gern nach ihren Lagern. Seitdem die Rückkehr der eigentlichen Kriegsarmee erfolgt ist, scheint der fran zösische Krieg geistig das Volk der Sieger nicht mehr zu beschäftigen. Der Grund dieser ausfälligen Erscheinung ist schwer zu er mitteln. Sollte es in der That der Fall sein, daß bei dem Sieger der Idealismus schneller verschwindet, als bei dem Besiegten, der nach neuen Hoffnungen sucht? Oder ist eS ein dunkles Gefühl vor weiteren Stürmen, welche die Zukunft in sich berge? Oder be rühren die Symptome niederdrückend, daß wir zwar das politische Franzosenthum überwunden, keineswegs aber das sociale? Fast möchte man diese wilde Flucht auS dem Idealismus von 1870 in den krassen Materialismus der Gegenwart aus diesem letzteren Gefühle rechtfertigen. Treten doch gerade jetzt sociale Erscheinungen bei uns auf, welche wir vorher als die Anzeichen der französischen Demoralisation erkannten und durch den Verlaus des Krieges auch bestätigt fanden. Der Bank- und Gründungsschwindel beginnt erschreckende Dimensionen anzunehmen, ,wie in den ersten Zeiten de- gestürzten Kaiserreichs. Die Börse beherrscht die Ge sellschaft; in Strömen fließt ihr das Geld zu, alle Papiere zu ungerechtfertigten Cours in die Höhe treibend. Sine fieberhafte Kauf- und Speculationssucht breitet sich aus, der Preis aller Be« dürfnisse steigt und die geistlose Genußsucht in den großen Städten — die Hauptstadt deS deutschen Reiches vsran — sucht ihre raffinirte Befriedigung. Das ganze feinere Gesellschaftswesen ist dort schon von dem Pariser Geist der Kaiserzeit Napoleons HI. angefreffen; eS spiegelt sein Begehr sich in dem Cocettenthum des Theaters, in dem Pariserschaum oder frivolem AuSputz der neuen Zugstücke. Bald wird die Cocette ein heimischer Typus sein. In der niederen Sphäre dieselbe Erscheinung in roher Form. Lohnerhöhungsforderung zur Ungebühr, Vergnügungssucht, Schlägerei und LouiSthum. Dagegen zu predigen, hieße Eulen nach Athen tragen. ES find die Zeichen der Zeit, die Folgen deS Krieges, deS Sieges, der nationalen Zufriedenheit, deS Mangels politischer Sorg«; es sind die Wirkungen schnell sich verbreitenden ReichthumS und dunkler Triebe, welche zu gesellschaftlichen Umgestaltungen drängen. Tagesgeschichte. Berlin, 30. Januar. In der heutigen Sitzung des Abgeord netenhauses stand zunächst auf der Tagesordnung die Interpellation wegen der ZeitungsconfiScationen vom 25. und 26. d. Nachdem Abg. Schröder die Interpellation begründet hat, erklärt der Mini ster deS Innern: Die Beschlagnahme war nicht ungesetzlich oder frivol. Die Polizei sei in Preßsachen nicht rigoröS und handle den Absichten der Regierung nicht zuwider. Er (der Minister) habe dem Polizeipräsidenten die größte Vorsicht bei Confiscationen an zuempfehlen und werde ihn instruiren, nur solche Beschlagnahmen vorzunehmen, die mit größter Wahrscheinlichkeit aufrecht erhalten werden. Ihn (den Polizeipräsidenten) im Allgemeinen zu rectifi- ciren, sei keine Veranlassung vorhanden. Hierauf folgt die Bera« thung de« Etats des CultusministeriumS. Der CultuSminister Dr. Falk erklärt, daß die in der Thronrede angekündigten Vorlagen nicht erfolgen werden; innere und äußere Gründe verhinderten ihn daran, sie jetzt einzubringen. Von den bereits eingebrachten Vor lagen halte er das Schulaufsichtsgesetz aufrecht; in Betreff der an dern Gesetze könne er sich im Augenblick noch nicht äußern. — Auf tadelnde Bemerkungen Mallinckrodt's und Windthorst'S bezüglich der Aushebung der katholischen Abtheilung des CultusministeriumS äußerte Fürst. Bismarck: Die Bildung der CentrumS-Partei im Reichstage war ein schwerer Fehler, sie bedeute die Mobilmachung der ultromontanen Partei gegen den Staat, die Auflösung deS Staates in confessionelle Kreise. Der wahre Geist und der Zweck der Partei habe sich in den Wahlen und der Presse gezeigt. Fürst Bismarck schildert die schwere Enttäuschung, welche er in dieser Beziehung erfahren, er geht zu Gründen der Auflösung der katho lischen Abtheilung über. Er habe dem Könige schon vor 4 Jahren die Auflösung gerathen. Besser ein päpstlicher Nuntius, der offen seinen Auftrag erfüllt, als jene Abtheilung. Die katholische Presse trete solidarisch auf, man könnte sie die franzosenfreundliche Rhein- bundSpresse nennen. Diese Solidarität reicht bis nach Genf und weiter m'S Ausland. Lasten wir die theologischen Streitigkeiten, welche ihre Nahrung aus der Hierarchie ziehen. Hier schloß die Discussion. — Die Budgetcommission hat bei Diöcussion der Er- höhung der Beamtengehalte mit Einstimmigkeit dahin resolvirt, daß die für 1872 vorgesehene Erhöhung noch nicht ausreiche und daß der Finanzminister anzugehen sei, spätesten- für 1873 weitere Sum men zur Disposition zu stellen,