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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.10.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-10-03
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18981003020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898100302
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898100302
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-10
- Tag 1898-10-03
-
Monat
1898-10
-
Jahr
1898
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Größere Schriften laut unserem Preis- Verzeichnis). Tabellarischer und Zifferusatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderun^ 60.—, mit Postbeförderung 70.—. Druck und Verlag vou L. Volz tu Leipzig. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Lonnittsg» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei de» Filialen und Annahmestellen je eine halb« Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. 502. Montag den 3. October 1898. 92. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 3. October. In Stuttgart tritt beute der socialdemotratische Parteitag zusammen. Da- BerathungSprogramm war ur sprünglich da- übliche: die Berichte des Parteivorstande-, der Controleure und der Reichstagsabgeordneten, die kommende Maifeier und die Anträge, die au- der Partei eingegangen sind. Von strittigen Fragen lagen, nachdem die Agrarfrage in der Versenkung verschwunden ist, nur die Betheiligung an den preußischen Landtagswahlen vor; die Berathung über die deutsche Handels- und Zollpolitik konnte nicht aufregen. Um so gelegener kam der Anlaß, die „Gefährdung des CoalitionSrechtS" noch zu guterletzt einzuschieben. Daß dadurch erst der Parteitag daß agitatorische Hauptmaterial und damit seine Bedeutung erhalten habe, sagt ohne Um schweife der Begrüßungsartikel, den der Abgeordnete Bebel in der sogenannten „wissenschaftlichen Revue", der „Neuen Zeit", soeben veröffentlicht. Er bezeichnet darin als „Hauptzweck der Berathung": Antwort zu geben auf die Kaiserrede in Oeynhausen, nach ver das Bischen CoalitionSrecht der deutschen Arbeiter vollständig in Frage gestellt werden solle; die Partei dürfe sicher sein, daß sie, was sie immer thue, auf den Beifall und die Zustimmung der gesammtenArbeiter- classe ohne Unterschied der Parteistellung rechnen könne. Leider weiß Herr Bebel, daß die Regierungen nicht in der Lage sind, durch Veröffentlichung des zum Schutze der Arbeitswilligen in Aussicht genommenen Gesetzentwurfs den Hetzereien der die Ocynhauser Rede behandelnden Genossen die Spitze abzubrechen, weil der Entwurf — sofern er über haupt fertig gestellt ist — zuvor dem BundeSrathe zur Be schlußfassung unterbreitet werden muß. Zur Plenarsitzung tritt aber der BundeSrath frühestens im Laufe dieser Woche zusammen. Was inzwischen von den Officiösen über den Entwurf gesagt wird, ist auch nicht geeignet, den Stuttgarter Rednern Enthaltsamkeit aufzuerleqen. So schreibt heute die „Nordd. Allgem. Ztg.": „Was den geplanten Gesetzentwurf betrifft, so ist unS nicht bekannt, ob derselbe, wie dieser Tage der „Kölnischen Volks zeitung" und der „Münchener Allgemeinen Zeitung" aus Berlin gemeldet wurde, nicht in einer Aenderung der in erster Linie pur das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer regelnden Gewerbeordnung, sondern in einer Verschärfung des Strafgesetzes zum Schutz der persönlichen Freiheit überall, wo dieselbe bedroht werden könnte, bestehen soll. Wir wissen nur da- Eine, daß nicht mehr und nicht weniger geplant ist, als bessere gesetzliche Abwehr maßregeln gegen den auf Revolution abzielenden focialdemokratischen Terrorismus, unter welchem die Arbeiterschaft furchtbar zu leiden hat und von welchem sie befreit werden muß, wenn anders das deutsche Reich nicht aufhören soll, ein Rechtsstaat zu sein. Nicht der Kaiser und die Bundesregierungen, sondern die gewerbsmäßigen socialistischen Hetzer bedrohen die Coalitionsfreiheit und die Freiheit der Arbeiterschaft überhaupt." Wenn die „Nordd. Allgem. Ztg.", so wird man in Stuttgart höhnend sagen, nicht weiß, wie der Gesetzentwurf aussieht, so kann sie auch nicht wissen, welche Handlungen er unter schärfere Strafen stellen will und welcher Art diese Strafen sind. Um so bedauerlicher ist es, daß eS den in Stuttgart versammelten Agitatoren so leicht gemacht worden ist, sich als Hüter der Rechte der Arbeiter vor drohenden Gefahren aufzuspielen, und baß man besonders seiner Zeit versäumt hat, die Vorkehrungen zu treffen, für die in jedem Parlamente Sorge getragen ist: Vorkehrungen nämlich da gegen, daß bedeutsame Reden nur in der Form der Oeffentlich- keit übergeben werden, in der sie so wirken, wie sie nach der Absicht des Redners wirken sollten. Wie häufig im Reichs tage selbst von ergrauten Parlamentariern von dem „Correctur- rechte" Gebrauch gemacht wird, daS wissen die Herren Bebel und Genossen am besten. Sie haben es vielleicht gar nicht einmal zu hoffen gewagt, daß es verabsäumt werden würde, den durch die Presse gegangenen Mittheilungen über die Oeynhauser Rede eine Correctur folgen zu lassen. Auch der Fall Lutcheni wird in Stuttgart besprochen werden, denn Herr Bebel bat beantragt, Stellung zu ihm zu nehmen. Heiterkeit wird es bei dieser Berathung erregen, daß nach der italienisch-officiösen „Agencia Stefanie" der Conferenzantraa endlich den Regierungen übermittelt worden ist. Geht, so werden sich die „Genossen" sagen, die Conferenzidee im gleichen Tempo wie bisher der Verwirklichung entgegen, so wird man ja am Ende des Jahrhunderts über den Ort sich geeinigt haben, wo die Vertreter der Mächte zusammentreten werden, um zu berathen, worüber sie berathen wollen. Zn ihrer Freude über diese Frist, die den Männern der That durch dieses Tempo ge lassen wird, mögen übrigens die Stuttgarter Genossen nicht vergessen, auch Stellung zu nehmen zu dem Eifer, mit dem die Anarchistenführer seit Jahren ihre Anhänger praktisch und theoretisch in der Herstelluug und im Gebrauche von Dynamitbomben, Schießbaum wolle, sogen. Brandsätzen, sofort tödtlich wirkenden Giften, ferner in der geschickten Handhabung von Dolchen rc. unter richten. Es giebt sogar in deutscher, englischer, französischer und anderen Sprachen eine Reihe anarchistischer Hand bücher, in denen genaue Anleitungen zum Morde, zur Ver giftung rc. enthalten sind. Unter den Anarchisten deutscher Zunge ist am weitesten verbreitet die „Revolutionaire Kriegswissenschaft" von Johann Most, eine „Anleitnng betr. Gebrauches und Herstellung von Nitroglycerin, Dynamit, Schießbaumwolle, Knallquecksilber, Bomben, Brandsätzen rc. rc." — Most empfiehlt in diesem Schandbuche, einen Dolch glühend zu machen und in dem Safte gewisser Pflanzen abermals zu Härten. Eine leichte Stich- oder Schnittwunde mit einer so präparirten Waffe genüge, um Blutvergiftung, d. h. den Tod herbeizuführen. 'Noch „einfacher", d. b. wirksamer, soll eS sein, wenn man die betreffende Waffe mit einer gewissen Phosphormischung bestreiche. Dieselbe Wirkung erziele man auch, wenn man Grünspan in einer besonderen, aber ohne Schwierigkeit ausführbaren Präparirung in Verbindung mit einem leicht herzustellenden Klebestoffe auf irgend eine Waffe streiche. Ferner giebt Most eine ausführliche Anleitung, wie man Bomben herstellt. Die Anarchisten preisen aber außer Bomben, Dynamit, Nitroglycerin, Schießbaumwolle, Knall quecksilber u. s. w. auch «noch ganz andere Mittel an, um bereits innerhalb der heutigen Gesellschaft die „Ordnungs büttel" u. s. w. zu erschrecken und zu „beseitigen". Als ein ganz besonderes „revolutionäres Kriegsmittel" empfiehlt Most den sogenannten „Polizistenkuchen", d. h. ein Gebäck, in das die gestoßenen reifen Samenkörner einer überall leicht zu be schaffenden Giftpflanze hineingeschüttet sind. Der so vergiftete Kuchen soll keineswegs an Wohlgeschmack verlieren, im Gegen- theil sehr würzig schmecken. „Mit einem solchen Kuchen traktire man einen Spion, Denuncianten, Büttel oder sonstigen Schuft. Alsbald wird man die Wirkung sehen. Schon in den nächsten Tagen wird die betreffende Canaille verrückt, toll und crepirt." Es wird die Well sehr interessiren, zu erfahren, wie die Herren Bebel und Genossen über derartige Bücher und praktische Unterweisungen denken und ob sie auch ihnen gegenüber von der Toleranz beseelt sind, die ihnen überhaupt nur gegen die Bourgeoisie fehlt. Am zweckmäßigsten ließe sich eine unzweideutige Erklärung über diesen Punct an die Debatte über den Antrag knüpfen, der eine Besprechung des bekannten Artikels der „Rhein.-Westfäl. Arbeiterzeitung", in dem die Anwendung der Prügelstrafe bei anarchischen Mordthaten empfohlen wurde, sowie die Ausschließung deS Genossen vr. Lütgenau empfiehlt. Graf Thun bat im österreichischen ReichSrath sein von uns als unehrlich bezeichnetes Spiel bereits so gut wie ver loren. Auch die Schönerer-Gruppe ist damit einverstanden, daß der Ausgleich,'mit Ungarn zu ungehinderter Berathung gelangt. Er wird also, da die Zeit bis zum 15. October für die von der Opposition beabsichtigte sehr eingehende Behandlung der betreffenden Vorlagen nicht mehr ausreickt, nicht zu Stande kommen. Graf Thun hatte gehofft, die Linke werde wieder die Obstructionstrommel rühren, was ihm Anlaß zur Auflösung des Parlaments und zur Durch führung des Ausgleichs auf Grund des ominösen ß 14 durch direktes Eingreifen der Krone gegeben haben würde. Daraus dürfte nun nichts mehr werden. Das ist der erste Schlag. Aber der Ministerpräsident, der sich rühmte, auf Alles vorbereitet zu sein und für Alles vorgesorgt zu haben, sah sich schon am ersten Tag der NeichsrathSsession vor einer zweiten großen Enttäuschung. Der dem verfassungs treuen Großgrundbesitz angehörende Abgeordnete Freiherr v. Scbwegel hatte den Dringlichkeitsantrag gestellt, die Re gierung möge sofort erschöpfende Aufschlüsse über ihre mit Ungarn für den Fall der Actionsunfähigkeit des Parlaments getroffenen geheimen Abmachungen geben. Graf Thun sprach sich gegen den Antrag aus. Bei der Abstimmung ergaben sich für die Dringlichkeit 172, gegen dieselbe 162 Stimmen. Zur Zuerkennung der Dringlichkeit ist allerdings die Zweidrittel-Majorität erforderlich, der Antrag erschien also abgelehnt, aber die erste Abstimmung des Hauses zeigte doch, daß die Opposition über die absolute Mehrheit verfügt, die Regierungsmehrheit also, aus die Graf Thun sich verlassen, nicht mehr vorhanden ist. Deshalb wurde die Abstimmung von der Linken auch mit stürmischem, anhaltendem Beifall, Händeklatschen und dem Rufe: „Für uns ist die Majorität!" begrüßt. Eigentlich hätte das Ministerium Thun nach einem solchen Abstimmungs resultat sofort zurücktreten müssen. Es hat diesen Schritt nicht gethan. Will Graf Thun damit sagen, daß er den Kampf noch nicht verloren giebt? Das könnte doch nur heißen: die Regierung ist entschlossen, den Ausgleich doch, obwohl er in parlamentarischer Berathung steht, durch den 8 14 zu sichern. Das aber wäre die Depossedirung der Verfassung. Warten wir ab, ob Graf Thun und der Kaiser thatsächlich entschlossen sind, diesen verhängnißvollen Schritt zu thun. Zn Paris ist es am Sonnabend und Sonntag wegen der DreysnS Sache zu erregten Kundgebungen gekommen. Der Socialist Jaurös hielt ein großes öffentliches Meeting für Dreyfus und die Revision, der Redacteur des „Temps", Pressensv, wollte in der Salle Wagram zu dem gleichen Zwecke ein Gleiches thun, fand das Local aber gesperrt. Hatten schon nach Schluß der ersteren Versammlung leiden schaftliche Rufe: „Hoch Zola!" „Hoch die Armee!" die Straßen erfüllt, wobei ein Anarchist, der einen Revolverschuß ab gegeben hatte, verhaftet wurde, so nahmen die Demonstra tionen anläßlich der Sperrung der Salle Wagram geradezu den Charakter des Straßenkampfes an. Zusammen rottungen fanden an verschiedenen Stellen von Paris statt, viele Tausende waren auf den Beinen, wirr schrie es durch einander: „Hoch Picquart, Hoch die Armee, Nieder mit den Verräthern, 0on8puer 2ola, Hoch die Revision, Vivo Iv roi!" Mehrfach geriethen die Parteien ins Handgemenge, cs hagelte förmlich Prügel, ungezählte Verletzungen, auch eine Anzahl schwerer kamen vor, Militair mußte einschreiten und zahlreiche Verhaftungen wurden vorgenommen. Ganz Paris ist in Erregung. Wird sie sich wieder legen oder werden die Wogen in der nächsten Zeit noch höher schlagen? Zedenfalls wird der Spruch des obersten Gerichtshofes, mag er nun günstig oder ungünstig für Dreyfus ausfallen, die Bewegung, die sich zu einem Kampf zwischen Republik und jesuitischem Milita rismus ausgewachsen hat, nicht beenden. Oel in- Feuer werden auch die Enthüllungen Esterhazy'S gießen. Viel hat er sckon gesagt, wenn er es hinterher auch dementirt oder doch bereut. Da Esterhazy dem Pariser Correspondenten des „Observer", Strong, in der „Libre Parole" den Vor wurf gemacht hatte, er habe ihn hintcrgangen und in eine Falle gelockt, läßt Strong im „Matin" folgende Briefe Esterhazy'S veröffentlichen: * Brüssel, 4. September. Lieber Freund! Ich habe Ihnen geschrieben und telegraphirt. Ich wage nicht, nach London zu kommen, da ich nicht weiß, ob Sie noch da sind. Telegraphiren Sie mir nach Hotel de la Providence in Brüssel. Ich habe viel zu thun und zu sagen und möchte, daß Sie sich mit meinem Buche beschäftigen und daß Sie mir die Mittel angäben, damit ich einige Guineen durch Artikel oder Interviews verdienen kann, ohne jedoch die große Bombe zu berühren, die ich für später aufbewahren will. Sie verstehen, daß diese Bombe dadurch noch nteressanter werden muß. Aber es ist nothwendig, daß ich bis da hin lebe. Senden Sie Ihre Antwort an obige Adresse unter Bicourt. Esterhazy hatte ferner behauptet, daß Frau Beer, die Eigenthümerin des „Observer", versucht habe, ihm durch List seine. Enthüllungen zu entreißen. Strong antwortet auf diese Behauptung mit folgendem Brief Esterhazy's: * Paris, 9. September. Lieber Herr! Ich kenne die loyale Haltung, die der „Observer" in zahlreichen Artikeln über die Dreyfus- Sache eingenommen hat, und weiß, wie unparteiisch das Blatt stets gewesen ist. Gestatten Sie mir daher, mich unter folgenden Um ständen an Sie zu wenden. Der Gehorsam gegen meine Vorgesetzten leitete mich in allen meinen Handlungen, und dieser Gehorsam allein verhinderte mich, irgend etwas zu meiner Vertheidigung vor- zubringcn. Ich glaube nun, daß ich diesen Gehorsam lange genug beobachtet habe; man hätte mich beschützen sollen, man hat mich aber verlassen, und ich glaube berechtigt zu sein, mich zu ver» theidigen. Solange ich Soldat war, habe ich geschwiegen. Heute bin ich keinem Anderen als mir selbst Rechenschaft schuldig über meine Handlungen. Ich habe stets und vollständig Alles den Be- fehlen untergeordnet, die meine Vorgesetzten mir gaben, und ich war berechtigt, zu glauben, daß man mich bis zu Ende unterstützt hätte, aber man hielt es für angebrachter, mich zu opfern, wie man Ballast abwirst. Als ich in einem höheren Interesse (hier hat sich Esterhazy wahrscheinlich verschrieben, er wollte offenbar sagen: im F-ttiHeton. Die kleine Lulu. 1j Seeroman von Clark Russell. Nachdruck »erbotkN. Erstes Capitel. Es war Juni, als ich nach einer Abwesenheit von zwei Jahren und vier Monaten in die Heimath zurückkehrte. — AIS vierter Maat, mit einem Monatseinkommen von einem Pfund, hatte ich zwanzig Pfund erhoben. Mit dieser Summe in der Tasche fühlte ich mich nach Art der Seeleute nicht wenig stolz. Freilich mußte ich einen Theil davon sogleich für Kleidung ausgeben, denn mein Anzug, in welchem ich das Schiff in den Docks ver ließ, war mehr malerisch als anständig. Er bestand aus einem Paar Hosen, die mit Flicken von verschiedener Farbe besetzt waren, keiner Weste, einer alten Lootsenjacke, zwei nicht zu sammengehörigen Schuhen und einem alten Filzhut, den ich mit einem Bootshaken aus dem Wasser gefischt hatte, als wir auf der Höhe von Hongkong lagen. Die Sache hatte rhren Grund in dem Umstand, daß, als ich mich für die Reise ausgestattet hatte, ich auf keine längere Fahrt als bis Madras und wieder zurück rechnete. Bei unserer Ankunft daselbst wurde das Schiff aber als Frachtschiff ge heuert, und elf gesegnete Monate lagen wir in der Bai von Petschili vor Anker, unter schwerer, oft recht schmutziger Arbeit. — Kleidungsstücke waren weder für Geld noch gute Worte zu haben, nicht einmal ein Chinesen-Kittel, denn diese Schelme hatten nichts anderes zu verkaufen al- Geflügel und Eier. So nützte sich mit der Zeit Stück für Stück meiner spärlichen Aus rüstung ab, bis ich nichts mehr besaß, als einen alten Rock, ein Paar vollständig zerlumpte Hosen, da- Vordertheil und die Aermel eines Hemdes und einen Südwester. Mir blieb schließ lich nichts übrig, als die Stücke, deren ich durchaus bedurfte, für einen hohen Preis an Rum, Tabak, mein« silberne Uhr, zwei gute Pfeifen und vier Pfund baaren Geldes von der Mannschaft zu erhandeln. Jetzt, — mit zwanzig Pfund in meinem Vermögen, hatte es indcß keine Schwierigkeit gehabt, mich in London mit einem so schönen Anzug zu versehen, daß ich getrost in ihm hätte Hochzeit machen können. Außerdem hatte ich noch einige ander« ansehn liche Einkäufe gemacht und in meine Kiste verstaut, und zwei Lage nach Ankunft de» Schiffe« fuhr ich nach meiner Heimath, d. i. nach Bayport, unter welchem Namen ich einen kleinen blühenden Seehafen der Südküste verberge. AchtuNdzwanzig Monate hindurch hatte ich nichts wie Himmel und Wasser und ab und zu in der Ferne einmal einen Uferrand gesehen. Diese Einförmigkeit war nur hin und wieder unterbrochen worden durch das Anlegen an einer Tropenstadt, wo wir dann während der Glühhitze des Tages Ladung ein nahmen, die Nacht hindurch aber, nach Uankee-Brauch, in einer Schenke schwelgten. — Nach solchem Leben war der Anblick der reichen englischen Landschaft, der herrlichen Felder und Wiesen, des wogenden Getreides und der gebräunten, auf ihre Gabeln und Sensen gestützten Arbeiter ein Labsal für das Auge. Man kann sich nicht satt sehen an so viel unvergessener und doch neue: Schönheit. Ich lehnte mich so lange aus dem Wagenfenster, bis Ruß und Staub in meinen Augen mich beinahe nichts mehr sehen ließen. Gott weiß, welch' liebe Erinnerungen die heimath- liche Landschaft in mir erweckte. Es tauchten in mir Gedanken auf an meine Mutter, die schon seit zehn Jahren tobt war, an meine Schulzeit, die Bücher, welche ich damals las, und an meine knabenhaften Hoffnungen und Bestrebungen; — tausend freund liche Bilder schimmerten mir aus der Vergangenheit herüber wie blaue Blicke aus wolkenbedecktem Himmel. Seit der letzten Nachricht von meinem Vater waren fünfzehn Monate vergangen, aber ich hatte nie daran gedacht, daß in einem solchen Zeitraum viel geschehen kann, um das Leben eines Menschen in andere Bahnen zu lenken, sein Glück zu zerstören, seinen Charakter zu ändern, ihn plötzlich ostwärts zu werfen, nach dem er bis dahin immer westwärts steuerte. Junge Seeleute be schweren sich nicht oft den Kopf mit Grübeleien dieser Art. Es war Abend, al» der Zug Bayport erreichte. Die unter gehende Sonne schien von der Seite auf di« rothen Dächer der Stadt und die grauen Mauern d«S Kirchthurms; ihre letzt-r. Strahlen machten die Wetterhähne auf den Häusern wie Gold erglänzen und beleuchteten die beiden Hügel, auf deren einem des Küstenwächter» Hau» stand und zwischen welchen tn tief dunklem Blau der Spiegel der See lag. Ich hatte meinem Vater von den Dock» aus geschrieben, daß da» Schiff angelangt wär« und wann er mich erwarten könne. Als ich den Zug verlieh, sah ich mich daher auf dem Perron um, ob der alte Mann gekommen sei, mich zu empfangm und zu bewillkommnen. Es war jedoch Niemand da, den ich kannte. Ich nahm mir deshalb einen starken Burschen zum Tragen meiner Seekist: und ging von der Station die bekannt« Straße entlang, an deren Ende da» Hau» meine» Vater» lag. Die Sonne war jetzt untergegangen und Dämmerung lag auf den Häusern der engen Straße. Ich begegnete vielen Menschen: — Leuten von den kleinen Küsten-Fahrzeugen, die mit ihren Mädchen scherzten, Dienstboten, die Besorgungen machten, und Seeleuten von den im Hafen liegenden Schiffen, welche an den Schaufenstern des Pastetenbäckers und des Ju weliers standen und laut schwatzten. Gefolgt von meinem Gepäckträger, erreichte ich das alte Haus und drückte auf die Thürklinke, wie ich es so viel hundertmal in vergangenen Tagen gethan hatte. Ich ließ meine Kiste aus den Hausflur stellen und blieb dann horchend stehen in der Er wartung, meines Vaters Stimme zu vernehmen und ihn mir entgegenstürzen zu sehen. Indessen Alles blieb todtenstill, und mir wurde unbehaglich. Ich sagte mir: „Jack, der Alte, hat die Bude verlassen, und Du bist hier «in Eindringling in eines anderen Mannes Reich, — besser, Du machst die Thür wieder von draußen zu und hältst erst Nachfrage." Als ich aber meine schwere Kist« stehen sah, entschloß ich mich doch wieder anders. — „Was kann es schaden", dachte ich, „Du versuchst es erst hier, — irgendwo wird doch wohl ein dienstbarer Geist sein." — Ich hustete, aber das nutzte nichts. — „Ach, — was wirst Du hier lange fackeln", brummte ich vor mich hin und stieß die Wohnzimmerthür auf. — Der erste Blick überzeugte mich sofort, daß mein Vater hier doch noch leben mußte; — du lieber Gott, wie heimelte es mich an: — da standen ja die alten, mir vertrauten Möbel, — da hing die altmodische Uhr mit dem silbernen Zifferblatt und lauten Tick-tack, — dort der ovale Spiegel über dem Kamin, — das Modell des Schooners, — das Bild meines Vaters und das — nein — das Bild meiner Mutter nicht; — das war fort. An seiner Stelle hing in einem Rahmen eine ganz erbärmliche Stickerei, die Auffindung Moses darstellend. Ich kehrte auf den Flur zurück und rief, so laut ich konnte: „Schiff ahoy!" — Auf diesen Ruf hörte ich oben eine weibliche Stimme aufkreischen und schreien: „Herr Gott, wer ist denn da, — wa» wollt Ihr hier? — packt Euch — Ihr habt hier nichts zu suchen!" „Na, beruhigen Sie sich und kommen Sie herunter", ent gegnete ich, und ging verstimmt in das Wohnzimmer zurück, wo ich mir ein Glas Sherry aus einer auf dem Buffet stehenden Flasche eingoß, um mich für diesen unangenehmen Empfang zu trösten. ES war wahrhaftig zu arg, tn dieser Weise nach einer so langen Abwesenheit begrüßt zu werden. — Wo war mein Vater? Hatte er meinen Brief nicht erhalten? — Nicht einmal eine Tasse Thee war für mich vorbereitet; — das hatte ich mir, weiß Gott, anders gedacht. — Meine Vorstellung von einem herz lichen Händedruck, einem guten Abendbrod mit einem heiteren, langen Geplauder und danach einem guten Bett schien gründ lich ins Wasser gefallen. Statt all dessen dieser Empfang von de: widerwärtigen Stimme da oben, und dieses ausgestorbenc Zimmer. — Meine Kiste barg ein gut Theil prima Honigtau (Kautabak), eine chinesische Börse und noch verschiedene andere Kleinigkeiten für den alten Mann. — Ich hatte ihn nicht ver gessen und dafür nun diese Vernachlässigung meiner Person! Wahrhaftig, mir war, als hätte mir Jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Ich warf mich ärgerlich in einen Armstuhl und wartete auf das Frauenzimmer. Endlich hörte ich das Schlappen von Pan toffeln auf der Bodentreppe, gleichzeitig öffnete sich aber auch die Hausthür, Jemand reinigte seine Stiefel auf der Thürmatte und es wurde eifrig geflüstert. „Ah", dachte ich freudig, „da ist er gekommen." Ich sprang schnell auf und eilte nach dem Hausflur; bei oer dort herrschenden Dunkelheit konnte ich aber nur am Fuße dec Treppe eine Art Magd erkennen, die gerade fragte: „Sind Sic das, Madame?" „Na, wer denn anders, Du dumm« Gans?" kam die Antwort zurück. Ich drehte mich nach der Stelle und bemerkte nun in der Nähe der Hausthür, dicht bei meiner Kiste, einen Mann und eine Frau. Die Gesicher zu unterscheiden, war bei der Finsterniß nicht möglich, — daS aber wurde mir klar, — mein Vater war der Mann nicht. „Bitte", sagte ich so höflich, als ich eS vermochte, „wohnt Mr. Chadburn nicht hier?" „Was, Sie wissen nicht " „Wissen, — was?" unterbrach ich. „MrS. Chadburn, meine Theure", sprach 'der Mann, „wäre es nicht zur Schonung Deiner Gefühle da- Beste, wenn ich mit unserem jungen Freund in das Wohnzimmer trete und Du es mir überließest, ihm dort, während Du Dich die Treppe hinauf begiebst und Deinen Hut ablegst, — die angreifende, — die schmerzliche —" Bei Nennung deS Namens „MrS. Chadburn" prallte ich vor Erstaunen einen Schritt zurück und stieß dabei an die Magd, welche sich — wahrscheinlich, um über meine Persönlichkeit ins Reine zu kommen — dicht hinter mich geschlichen hatte und mir um die Leeseite mein«s Rückens herum in das Gesicht starrte. Der Mann mit der sanften Stimme ergriff nunmehr meinen
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