Volltext Seite (XML)
Friedrich Heorg Wiecks — Deutsche Mmtnrte OewcrbeZeüunI. Herausgegeben von vr. Ä. Lach MN NN. Abonnements-Preis: Jnseraten-Preis Halbjährlich 3 Thlr. Verlag von F. Ürrgyold in Lrrlill, Links-Straße Nr. 10. pro Zeile 2 Sgr. Vreiun-dreikiglier Jahrgang. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postämter. Wöchentlich ein Logen. Inhalt: Gewerbliche Berichte: Zur Architektur und Technik des Häuserbaues in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. BonN. Doehn. — Ueber Verhütung von Gas explosionen in Kohlengruben. — Die neuesten Fortschritte in den Gewerben und Künsten: Patente für Monat März und April. — Wilder's Patentirte Loch maschine. — Keßler's Schmierapparat. — Anderson's verbesserte Methode Sägen einzuhängen. — Du-Temple's Torfförder- und Torf-Ziegel-Maschine. — Neues Verfahren beim Seisensieden. — Neue Anwendung der Eleklrotypie zur Fabrikation von Sommerhüten. — Maschine zum Zurichten der Felle in den Gerbereien. — Feuilleton: Werkvereine zur gemeinschaftlichen Benutzung von Maschinen. — Tonsignale statt der Lichtsignale an Meeresküsten. — Ueber die Erzgruben in China. — Organisation des Eishandels in der Schweiz. — Recepte. — Zur Literatur der Natur-, Volks- und Gewerbskunde. GrumAicht t-erichte. Zur Architektur und Technik des Hönserbaues in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Bon Rudolf Doehn. Es dürfte kaum zu bestreiten sein, daß in den Vereinigten Staa ten von Nordamerika, wenige Ausnahmen abgerechnet, weder in den plastischen Künsten, noch in der Musik und Poesie ein selbstän diges Schaffen sich Bahn gebrochen hat. Was z. B. den Häuserbau anlangt, dem wir hier eine kurze Besprechung zu widmen beabsichti gen, so greifen die Nordamerikaner, anstatt klar und bewußt zu bauen, was sie nöthig haben, und dann die Ornamentik zur Hervor hebung, Herausbildung und Verschönerung des zweckmäßig Gebauten heranzuziehen, in den meisten Fällen ohne große Wahl nach allen Gegenden der Erde hin und errichten griechische Tempel und verone- sische Paläste, gothische Dome und schottische Bauwerke theils in voll ständiger, theils in stückweiser Nachahmung. Auf diese Weise ent stehen dann selbstverständlich traurige, zusammenhangslose Bauten, die nach innen kein einziges constructives Princip verrathen und nach außen nur nichtige Spielereien als Ornamentik aufweisen, so daß cs den Anschein gewinnt, als wenn man den Flitterputz nur gebraucht, um die innere Leere und Haltlosigkeit zu verstecken. Von einem na tionalen Bausthl kann mithin in den Vereinigten Staaten kaum die Rede sein; denn geborgte Architektur wird niemals und nirgends eine eigene. Es ist eine Thatsache, daß vielleicht in keinem andern Lande der Welt mehr gegen das Hauptgesetz der Baukunst gefehlt wird, als in der nordamerikanischen Union. Dieses Hauptgesetz besteht aber we sentlich darin, daß Decoration und Construction in einem richtigen Berhältniß zu einander stehen müssen. Sobald die organische Ver bindung dieser beiden Momente gelockert ist, sobald sich, um die Worte von Wilhelm Lübke zu gebrauchen, die Decoration von der Construction losgelöst und in willkürlichen Gebilden auf der Ober fläche ein, wenn auch noch so glänzendes Sonderleben ausgebreitet hat, ist die vernichtende Axt an die Wurzel auch des herrlichsten Bau- styls gelegt. In den Vereinigten Staaten ist nun zwar eine solche Loslösung nicht cingetreten, aber nur aus dem Grunde, weil die richtige Vereinigung von Decoration und Construction dort noch niemals im großen Ganzen cxistirt hat; allein darum bleibt cs doch immer eine beklagenswerthe Thatsache, daß die sonst so ruhmwürdige transatlantische Republick noch nicht im Stande gewesen ist, das Hauptgesetz der Architektur in nationaler Weise technisch zur Anwen dung zu bringen. Einen andern in der Baukunst normirenden Grundsatz möchten wir hier noch erwähnen, nämlich den, daß die Ornamentik oder Decoration abhängig sein muß von der Construction und nicht umgekehrt. Das constructive Princip ist das bestimmende „Prius", oder sollte es wenigstens sein; denn die reale Zweckmäßig keit muß der idealen Schönheit vorangehen, jene muß diese schaffen und sich dann mit ihr organisch verbinden. Diese natur- und ver nunftgemäße Ordnung kann ungestraft nicht umgestoßen werden. Lenken wir nun nach diesen mehr allgemeinen Bemerkungen un sere Aufmerksamkeit zunächst auf die äußere Architektur und Technik des Häuserbaues in den großen Städten der nordamerikanischen Union; sie sind die Centralpunkte des Reichthums und der Intelligenz, und schon aus diesem Grunde dürften sie hier vorzüglich zu berücksich tigen sein. An Größe und Reichthum übertrifft aber New-Jork alle anderen Städte der Republik; und keine Straße ist wohl mehr be kannt, keine hat einen ausgesprocheneren amerikanischen Charakter, als der Broadway von New-Jork. Es ist nicht leicht, irgend eine Straße einer andern Stadt mit diesem Broadway zu vergleichen. Weder in der Geschichte, noch in der Geographie dürften wir eine ganz zutreffende Parallele finden. Er gleicht weder dem London Strand, noch dem Pariser Boulevard, weder der Ludwigstraße in München, noch dem Kanal Grande in Venedig. Während der Broadway von New-Jork die Ungleichmäßigkeit des London Strand und die Pracht des Boulevarv besitzt, gleicht er doch mehr durch die Menge von großen, an einander gereihten palastähnlichen Gebäuden den Straßen der letztgenannten beiden Städte, München und Vene dig. Vielleicht giebt es keine Straße in Europa, die mehr Aehnlich- keit mit ihm hat — dem Totaleindrucke nach zu urtheilen — als der Kanal Grande, diese stille Hauptstraße der „Tochter des Meeres". Es ist wahr, der Broadway ist gerade, wie nach der Richtschnur auf gebaut, der Kanal Grande dagegen hat eine stark gewundene Form; der eine ist ein gepflasterter Steinweg, welcher von dem-Lärm einer Welt- und Handelsstadt wiederhallt, in dem andern wäscht daS Wasser in trauriger, einsamer Stille die alternden Mauern zerfal lender Paläste; und was den Baustyl anbetrifft, ist der venetianische kaum durch einzelne Nachahmungen in ganz Nordamerika repräsen- tirt. Und dennoch ist eine Aehulichkcit da, und sie besteht darin, daß der vorherrschende Eindruck bei beiden die Abwesenheit jeder gcnerali- sircuden Anordnung ist, daß die Frontseiten der einzelnen Gebäude sämmtlich eine unabhängige, selbständige Eleganz darbieteu. Der Broadtvay und der Kanal Grande erzählen dieselbe Geschichte: es war der Reichthum und der Unternehmungsgeist der Bürger, und nicht die Freigebigkeit eines absolutistischen Herrschers, wodurch Pa-