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Mittwoch, 20. Oktober 1M9. 0iitwrSv0O»wiiilltimii«i Rr.24^. Vierter Jahrgang 6uer Tageblatt und Anzeiger kür das Erzgebirge VerartwirUicher Redakteur! Vrttr -trovsiil. Für die Inserate verantwortlich: lvrtttr Xe»«». Beide in Aue i. Lrzgeb. mit der wöchentlichen Unterhaltungsbeilage: Illustriertes Lönntagsblatt. Sprechstunde der Reva'Unn mit Ausnahme der Sonntag» nachmittag» von »—s Ahr. — Telegramm.Adresse: Tageblatt Au». — Fernsprecher Für onverlangt «ingesandt» Manuskripte kann Srwühr nicht geleistet werden. Druck und veilag U«tt VNI»-«. 0tkI»«»-»>e«II»<!t-r. m. b. S- in Aue i. Lrzgeb. ssstezugepret»: Durch unser« Boten frei in» Haus monatlich io pfg. 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Eine Berliner Korrespondenz meldet, die sächsische Regie- rung Hobe im Bundesrate beantragt, die Bera tung des Gesetzes über die Schiffahrtsabgaben bis auf weiteres zu verschiebe». O Der Verfassungskampf in England ist auf einem loten Punkt angelangt. Der Premierminister empfing eine Anzahl Lords des Oberhauses, die ihm ihre Bereitwilligkeit zu Konzessionen ausge drückt haben sollen. Ein französisches Geschwader soll am 25. oder 26. Oktober zur Begrüßung des Zaren nach Neapel einschiffen. Der Zar wird in Dijon wahrscheinlich vom Präsident en Fallieres begrüßt werden. * Wegen der andauernden Reibereien zwischen Ara bern und Griechen soll die Verhängung des Belagerungszustandes über Jerusalem von der türkischen Negierung verfügt werden. Auf, zur Wahlurne! Der morgige Tag bringt unserem Königreiche die Landtags wahlen, die nach einem neuen Wahlgesetz einen völlig neuen Landtag ergeben sollen. Es sind also kSiesmal wesentlich ver änderte und erschwerte Verhältnisse, unter denen die Wah len von statten gehen. Einmal handelt es sich nicht bloß, wie bisher, um die teilweise Erneuerung der Zweiten Ständekam mer, sondern es ist eine vollständig« Neuwahl. Zum anderen aber soll die erste Proibe auf das Exempel des Plural wahlrechts gemacht werden, das im neuen Wahlgesetz an die Stelle des alten Dreiklassenwahlrechts gesetzt worden ist. Ferner bieten die politischen V e r h ä l t n i s s e d e s R e i- ches, unter denen die Landtagewahlen diesmal stattfinden, kein erfreuliches Moment. Ist es doch leider Tatsache, daß die Verteuerung der verschiedenen Konsunstgegenstände, die die Reichssinanzresorm mit sich gebracht hat, in viele Kreise unseres Volkes eine Verstimmung getragen hat, die sich jetzt in Oppo sition Lust zu machen sucht. Und vielfach ist man in diesen Kreisen der Ansicht, daß sür die Durchführung einer solchen die Landtagswahlen eine sehr passende Gelegenheit bieten. Man konzentriert sich nach links, man geht mit fliegenden Fah nen ins Lager der Partei über, die das Prinzip der Opposition als einen der Hauptpunkte ihres Programms betrachten zu müssen glaubt. Aber wie kurzsichtig und unsinnig ist ein solcher Standpunkt! Wohl keiner jener Mitläufer, die sich auch für die bevorstehenden sächsisch«« Landtagswahlen wieder anschicken, zur Sozialdemokratie aus dem Gefühle der Verärgerung heraus hinüber zu wechseln, würde eine bejahende Antwort geben wol len. wenn man ihm die Frage vorlegte, ob er denn in der Tat das Programm jener Partei billige und sich dafür einsetzen wolle, diesem Programm zur praktischen Durchführung zu verhelfen. Und doch tut er das, w.nn er bei!der Wahl einem Sozialdemo kraten seine Stimme gibt. Diese Konsequenz seines Tuns sollte sich jeder Wähler reiflich vor Augen halten, bevor er zur Wahl urne schreitet und ohne Bedenken jedem Kandidaten iugendeiner Ordnungspartei lieber seine Stimm« geben, als einem Sozial demokraten. Daß die für morgen bevorstehenden Wahlen zur Zwei ten Kammer des sächsischen Landtages einen entschcidungsvollen Wendepunkt in der Geschichte unseres engere« Versassungsleb ns bedeuten, beüars keiner weiteren Ausführung, Noch in lebhafte sten Färb n stehen die Kämpfe vor unseren Augen, die Jahre hindurch um die Neugestaltung des sächsischen Landtagswahlrechts geführt worden sind, bis endlich auf dem Wege des Kompromisses ein von der Regierungsvorlage weit abweichendes System die Zustimmung der Heiden Kammern und Ker Regierung und die Bestätigung der Krone fand. Jede Neugestaltung eines Wahl- r.chtes, auf wie umfangreichen statistischen Erhebungen und poli tischen Erwägungen sie auch fußen mag, bedeutet einen Sprung ins Dunkle; auch drin neuen Wahlrecht, unter dessen Herrschaft mir morgen zum erstenmal wählen werden, kann man kein gün stigeres Prognostikon stellen. Soll aber die Wahl einigermaßen ein Bild der öffentlich.« Meinung in unserem Lande geben, so ist es vor allen Dingen notwendig, daß sich all« Wahlberechtigten an der Wahl beteiligen. Id mehr sie sich aber bei der Abgabe ihrer Stimmen lediglich von den nächstliegenden Gesichtspunkte« unserer sächsischen Politik beeinflussen lasten, um so reiner und ungetrübter wird der Ausdruck der öffentlichen Meinung unseres Landes sein. Es werden 'dann die bürgerlichen Kandidaten in erdrückender Mehrheit im ganzen Lande siegen, in unserem 2 0. städtischen Wahlkreise also der gemeinsame Kandidat aller bürgerlichen Parteien, Herr Fabrikbesitzer Alwin Bauer in Aue. Politische Tagesschau. «ne, 20. Oktober. * Die Obstruktion im österreichischen Abgeordnetenhaus. In der heutigen Eröffnungssitzung des österreichischen Abgeordneten hauses wird die slawische Union sofort mit der Obstruk tion beginnen. Es wird Lurch die Tschechisch-Radikalen zu gro- ßen Skandalen kommen. Alle bürgerlichen deutschen Par teien haben sich aus Einladung Dr. Luegers gestern im Rat hause auf eine einheitliche Taktik geeinigt. Auch dap Bündnis der Deutschen mit dem Polenklub scheint noch zu bestehen. Trotz dem ist es jedoch möglich, daß das Haus heute bereits von den Tschechen gesprengt wird. * Zollkrieg zwischen Fvankreich und Amerika. Zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten ist ein Zollkrieg un vermeidlich geworden. Frankreich hatte eine Verlängerung der bis zum 3. Oktober gültigen gegenseitigen Zollkonvention verlangt, war aber dabei auf keine Gegenliebe in Washington gestoßen, so daß also Frankreich nunmehr vom 1. November ab die amerikanischen Waren mit dem Maximaltarife belegen wird. * Wachsende Gärung in Griechenland. Der Korrespondent der Times in Athen sagt, daß, nachdem der Beschluß, die königlichen Prinzen ihrer Vorrechte in der Armee zu berauben, von der Kammer angenommen wutve, sich die Aufregung in den Kreisen der Militärpartei etwas gelegt habe. Auf der anderen Seite lasse sich aber nicht verkennen, daß die Unzufriedenheit des Volkes wegen der neueingeführten Steuern immer bedenklicher werde. von M! VW MNW nur- 5tMM Ksuvi-. C-iue Minute vor Mitternacht. Skizze von Thea von Harbou. (Nachdruck verboten ) Die Riesenuhr in der Halle von Mr. CutleyS Haus holte wucbtig zum Schlage au«, doppelt machtvoll uns feierlich in der tiefen S ille der Nacht. Rudolf Wegner hob das Gesicht von den Hängen und zählte. Elf Uhr. Alsv noch eine Stunde. Um Mitternacht würoe es geschehen sein. Er besaß schon längst keine Uhr wehr. Die Treppenuhr des Vorderhauses, die er nie gesihen hatte und die >r dennoch liebte wie einen Freund, tue hatte ihm iii all den Woche« der Not, der Krankheit, de Verzweiflung Stunde um Stunde seines elenden Lebens zugemesfen. Und ihre lauste, majistälische Stimme würde mit dem nächsten Stunden« ^schlag den Tag und sein Leben ruhig ausklingeu lassen mit dem rilösrnden: Es ist vollbracht! Rudolf Wegner atuute Isis und fiebernd aus. Seit der Entschluß, ein Ende zu machen, in ihm zur Gewißheit geworden, war alles zum Schweigen gebracht, was ihn eirnd hatte werdin lassen — selbst der Haß gcgin den, der schuld dran war. Er war schon völlig aur geschieden aus dem Lrbcn. Und wäre dieser eine, wühlende Schmerz nicht gewesen, diese dumpfe O ml, mm so vertraut, daß sie eins mit ihm gc- rvorocu — er hätte vergisstn könne', daß er noch lebte. Aber das schmieg nicht, das schrie auf in ihm, heiß, leidenschaftlich, be gehrend, qualvoll süß in seiner hoffnungslose» Gläubigkeit: die Gitunerung an das, was Put vor zwei Jahren war. Und wie rin Pt euer m r dem heilig« Fest sich selber wctht, so wollte der Mann die letzien Minunn seines Lebens ausjüllen mit drin Ge danken ao das Giück. Sie war'« zuerst, die thn ausrütlelic aus der Dumpfheit seiner Resignation. Mit ihren kleinen, weichen Mütchenhänden Haire sie ihn an den Schultern gepackt. Rolf, Rolf, wach doch auf! Wehr' dich doch! Lu gehst ja daran zu- gründe! Set doch du selbst! Und er hatte sie angistarrt: Du wiN-l nicht, was du sprichst! Tein Vater hat michSaufgevoben. ais ich, vatec- uns mui eclos, herrenloses Gut, auf der Straße lag, er hat mich erzogen nve einen Sohn, was ich bin und was ich habe, Sant' ich ihm, ich l>bte nicht, wenn er nicht wäre. Nun Hai er ein Recht aus mich, — größer und schwerwiegender, als wäre ich sein Sohn in Wahrheit. — Kein Mensch hat ein Recht auf einen anderen, sagte das Mädchen, und in dem blassen Gesicht loderten die Augen: Was wir tun, tun wir der Welt, der Menschheit, der Zukunft. Und daß Vater dich rettete als Kind, sollst, du ihm nicht danken, indem du dir dein Leben nach seinem Willen verpfuschst und zerbrichst, sondern die Tausende von Menschen, denen du Heilung bringen willst. Jeder Puls schlag drängt dich dazu, Aizl zu werden, jede Fiber in dir schrickt vor den, KausmannSweien zurück, — gilt es da noch eine Wahi? — Nein, antwortete er: Ich habe keine, dein Vater hat mein Schicksal in der Hand gehabt, und ihm die Bahn gezeichnet. Meinst du, ich würde nicht verbrennen vor Scham, wenn ich, der ihm alles dank', «in meiner selbst willen sein mühsam aukgebauies Lcbensnurk zerstören würde, meinst Ku, ich ertrüge cs, von ihm als Undankbarer verachtet zu werden? — Gegen Menschen, die un» zum Danke für eine Wohltat fesseln und knechten wollen, ist Undankbarkeit G-setz, sagte Marie Luise. Und wer der Schöpfer eines groß.» Lebens iverkes sein will, steht über der Wertung ge wöhnlicher Menschen. Das war der Weckruf seines Willens gcwescn. Da fing das Kümpfen an, Rudolf Wegner rückte die müden Schulkern. Drüben in der Halle schlug die Uhr halb Zwölf. Es brannte Licht in einigen Räumen. Er sah es, ohne dm über nachzuvenken. Die knappe l-tz'e Siundc, die ihm gehörte, harte nicht Roum für alle Erinnerungen, die ihn überfluteten. Da mar die erste heiße Aus sprache zwischen dein großen Kaufherrn und ihm, dem Findling, daß erstemal. daß harte Worte c.n die Kette mahnten, die lange Jahre genossen"« Wohltat um seine Füße geschmiedet. Friedrich Franz zur Wehre bestand auf seinen Schein. Wo wärst du ohne mich? Im Sumpfe! Run geh' Vie gerade Landstraße, auf die ich dich gestellt. Da waren die heimlicken Studien, Nächte hindurch das fiebernde Lernen, das ihm die Nerven zerrieb, in seiner Hast und Heimlichkeit. Da kam die Stunde, da ihn der Pflegevater überraschte bei einem medizinischen Werk, als der Haß des Unter drückten und des Enttäuschten zuerst in bösen Flammen aufschlug, — und der Tag, als er entdeckte, daß man ihm seine Schätze, seine Heiligtümer, seine Bücher weggenommen und verbrannt hatte . . Und über all dem Widerwärtigen und Traurigen als milder Stern das blasse, leuchtende Gesicht Marie Luisens. Und dann — heut vor zwei Jahren war er geflohen. Niemand wußte davon. Nie mand sollte davon wissen. Aber eine erriet eS doch. An Ker Kirschenallee, die der Stadt zuführte, holte sie ihn ein und ging mit ihm, — im gleichen Schritt und Tritt. Si, sprachen kaum miteinander. Aber als sie sich trennen mußten lagen ihre weich.n Hände wieoer aus den Schultern, und ihre Augen strahlten wie zwei Kerzen. Du tust recht, sagte sie, und legte allen Ernst und alle Kraft ihres Herzens in diese Worte: Vergiß das nie, daß ich es dir gesagt habe, Rudolf; du tust recht, daß du gehst. Vergiß auch nie, daß ich an deiner Seite gegangen bin und stolz auf dich war, und daß meine ganze Seele voll Zu versicht und Bertram« dich begleitet. Nun leb wohl! — Sie halten sich nur die Hände reichen wollen, aber plötzlich standen sie Brust an Brust und Mund an Mund und fühlten in diesem Kuß, daß aus Bruder und Schwester Mann und Weib geworden, die für einander leben und sterben wollen. Und so strahlend, so überwältigend war das Glück dieser Minute gewesen, daß Rudolf Wegner den Tag seiner Erinnerung wie ein Fest beging und auS- kcsten wollte bi« zur letzten Minute, daß e» ihm diese letzten Minuten verklärte und alles Elend vergessen ließ. Denn da» Elend kam und kam bald. Mittellos, unerfahren, kaum verfrem den Sprache mächtig, warf ihn das Leben von Stufe zu Sius« in Not und Verzweiflung. Schließlich war es kein Leben mehr, uur noch ein Ringen um Lufr, ein krampfhafte» Anklammern an