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reißergerK^^ und Tageblatt. Amtsblatt für die königlichen und städtischen Behörden zu Freiberg und Brand Verantwortlicher Redakteur Julius Braun in Freiberg. 31. Jahrgang. Somabeud, dm 16. August. — - . Erscheint jeden Wochentag Abends 6 Uhr für den I andern Tag. Preis vierteljährlich 2 Mark 25 Pf., -R-O V « zweimonatlich 1 M. 50 Pf. u. cinmonatl. 7b Pf. Inserate werden bis Bormittags 11 Uhr angenom- - men und betrügt der Preis für die gespaltene Zeile 1 / NZ oder deren Raum 1ü Pfennige. Vie neuen Iustygesetze. XX. Allgemeine Uebersicht über die Straf- Prozeß-Ordnung. Die vorbereitenden Arbeiten zur Straf-Prozeß-Ord- nung haben vom Jahre 1869 bis 1873 gedauert. In ersterem Jahre erhielt der preußische Justizminister die Aufforderung des Reichskanzlers, einen Entwurf einer Strafprozeßordnung ausarbeiten zu lassen; und Anfangs 1873 wurde der erste Entwurf nebst Motiven dem Bun- desrathe vorgelcgt. Diese Motiven, obgleich kein offizieller Ausdruck der von der Reichsrcgierung allenthalben ver tretenen Anschauungen, enthalten in ihrer Eigenschaft als „Privatarbeiten" einen immensen Schah wissenschaftlicher Forschung und vergleichender Kritik; sie werden für den Fachmann eine stete Fundgrube der vielseitigsten Beleh rung, eine Quelle für hochinteressante historisch-kritische Studien und für Geschichte der Gesetzgebung bleiben, und sie werden nicht minder ein unentbehrliches Jntcrpretations- mittcl zur Erforschung des authentischen Gesctzeswillens bilden, insoweit beim weiteren Verlaufe der Berathungcn des Entwurfs im Reichstage, sowie in der Kommission, die Reichsrcgierung die Ansicht der Motiven ausdrücklich gebilligt oder ihnen nicht widersprochen bat. Der erste Entwurf der Strafpozeßoronung wurde zur Vorberathung an eine Kommission verwiesen, die aus 11 vom Bundesrathe gewählten Juristen unter Vorsitz des vr. Friedberg in Berlin zusammentrat und bis Anfang Juli 1873 in 39 Sitzungen den Entwurf durchberathen hatte. Die größte Anzahl von Abänderungen dieses Entwurfs bezog sich auf Einzelheiten, nicht auf das System, mit Ausnahme der grundsätzlichen Reform, welche in der Kom mission der Elf Betreffs der Organisation der Strafgerichte erster Instanz angebahnt wurde. Das reine und aus schließliche System der S ch ö f f e n gcrichtsbarkeit durch alle Ordnungen, wie es in dem konsequenten ersten preu ßischen Entwürfe festgehalten worden war, wurde in Folge lebhaften Widerspruchs der Majorität zu Falle gebracht, und dafür wieder ein prinziplos gemischtes System aus Schwurgerichten, Schöffengerichten und rcchtsgclehrten Richterkollcgren substituirt. Mit der Modifikation des Entwurfes war selbstver ständlich eine theilwcise Umgestaltung der Motiven ver knüpft, zu welchen die Kommissionsbeschlüsse das Material darboten. In völlig neuer Redaktion und mit den Beschlüssen des Bundesraths gelangte der neue Entwurf an den Reichstag von 1874, und bei dem letzteren ward am 24. November die allgemeine Diskussion, zugleich auch über die anderen großen Organisationsgesetzentwürfe, eröffnet. Die außerordentliche Bedeutsamkeit und Schwierigkeit des Werkes, an dessen Vollendung der Reichstag Hand anlegen sollte, gebot fast die Anordnung ganz exzeptioneller Maß regeln, und ein Abweichcn von der sonstigen parlamenta rischen Geschäftsgepflogenheit. Nach der Gcncraldiskussion wurden die Justtzgesetzentwürfe zur Vorberathung an eine besondere Kommission verwiesen, in welche 28 Mitglieder des Reichstags gewählt wurden. Zur Bewältigung ihrer Riesenaufgabe erhielt diese Justizgesetzkommission die Zeit zwischen den Sessionen des Reichstags von 1874 und 1875 angewiesen und sie ward durch ein Spczialqesetz vom 23. Dezember 1874 ermächtigt, auch nach Vertagung des Reichstags versammelt zu bleiben und Berathung zu pflegen. Wie vorauszusehcn war, hatten die Arbeiten beim Beginn der 1875er Sitzungsperiode noch keinen Ab schluß gefunden; es wurde deshalb die Kommission auf's Neue gewählt und durch abermaliges Spezialaesctz vom 1. Februar 1876 der frühere Auftrag zur Fortsetzung der Berathungcn außerhalb der Sitzungsperiode wiederholt. Aus d.n an den Reichstag erstatteten Berichten war zu ersehen, daß die Justizkommission sich bereits am 26. Ja nuar 1875 konstituirt und unter dem Vorsitze Miquel's und bcziehcndlich vc. von Schwarzc's ihre Arbeiten be gonnen hatte. Im Ganzen hat die Kommission 160 Sitzungen ge braucht, um die Entwürfe in 2 Lesungen zu bewältigen, und es hat die Strafprozeßordnung allein 52 Sitzungen für die erste, 20 Sitzungen für die zweite Lesung in An spruch genommen, also ziemlich die Hälfte. Der Schluß der Arbeiten fand Anfang Juli 1876 statt, und es waren sämmtliche aus der Mitte des Reichtagcs während der ganzen Heit gestellten Anträge zu den Entwürfen von der Kommission mit durchberathen worden. Der hierauf an den Reichstag erstattete Bericht seine dem Stuoium nicht genug zu empfehlende Meisterarbeit aus der Feder von Schwarze s) betont ganz besonders nur die wichtigsten Prinzipfragen und die wesentlichsten Differcnzpunkte zwischen Kommission und Bundesrath. In seiner nunmehrigen doppelten Gestalt, als modifi- zirter Regicrungsentwurf und als Entwurf in der Fas- jung, wie er aus den Beschlüssen der Justizkommiffion hervorgegangen war, begann der Reichstag seine abschließende Thätigleit im Winter 1876. Ueber die noch verbliebenen, Anfangs 56, Differcnzpunkte wurde mit der Bundes-Re gierung besonders verhandelt. Am 2. Dezember 1876 kam der Entwurf bereits in seiner Fassung nach den Resultaten der zweiten Berathung wieder an das Plenum des Reichstages zurück, während die Beschlüsse des Bundcsraths über das Ergebniß der Berathungcn in zweiter Lesung am 12. Dezember dem Reichstage zugingcn. Von diesem Tage an blieben die berühmten 18 dunklen Punkte am Horizonte stehen, nachdem die ursprüngliche Zahl 56 sich auf so viel vermindert hatte. Der Strafprozeßordnuug gehörten die wichtigsten der von der Reichsregierung mit Zähigkeit beanstandeten Beschlüsse des Reichstages an (namentlich Gerichtsstand in Prcß- sachen, Schwurgerichte in Preßsachcn, Zeugnißzwang, Ein fluß des Rechtsirrthums auf den Geschworncnwahrspruch, Verfahren bei Ablehnung der öffentlichen Klage Seitens der Staatsanwaltschaft, Verkehr des Vcrtheidigers mit dem verhafteten Angeklagten, Beschlagnahme von Briefen und Telegrammen). Es war, bei der leidenschaftlichen Zuspitzung der Gegen sätze, und da cs zum Mindesten den Anschein hatte oder nach dem Vorausgcgangcnen konsequcntcrweise erwartet werden mußte, daß der Reichstag an seinen Majoritäts beschlüssen mit derselben Energie und Ucberzeugungstreuc festhalten werde, wie die Reichsregierung an ihrem Stand punkte, in jenen Tagen das beklemmende und beängstigende Gefühl in die Gcmüther cingczogen, daß uns nur noch eine kurze Spanne Zeit von der unheilvollen Kunde der Zertrümmerung jenes großen Werkes trenne, dessen Voll endung die höchsten Hoffnungen und die unsäglichsten Mühen Deutschlands jahrelang gewidmet worden waren. Da brachte der 16. Dezember 1876 die seltsamste Wen dung der Dinge, ebenso überraschend und ungeahnt für die Rcichsboten selbst, wie für die Bewohner der fernsten Provinz. Das drohende Unwetter, dessen Blitz in einem Nu das ganze kunstvolle Bauwerk in seine Elemente aus einandersprengen konnte, fand im letzten Augenblicke eine Ableitung in der Wcttcrstange des Kompromisses. Frei lich hat das Spuren an dem Bauwerk zurückgclassen; aber es blieb doch wenigstens stehen. Ich kann auf weitere Details der äußeren Geschichte nicht eingehen, und lasse nunmehr den Umriß des fertigen Gesetzes selbst in wenigen Strichen folgen. In sieben Büchern, welche wieder in Abschnitte zerfallen, umfaßt die Strafprozeßordnung 506 Para graphen; hierzu gehört noch ein besonderes Einführungs- gcsetz von 12 Paragraphen, beides am 1. Februar 1877 nn Rcichsgesetzblatt publizirt. I. Buch enthält die „Allgemeinen Bestimmungen" in 11 Abschnitten, nämlich: Sachliche Zuständig keit — Gerichtsstand — Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspcrsonen — Ent scheidungen und deren Bekanntmachung — Fristen und Wiedereinsetzung — Zeugen — Sachverständige und Augenschein — Beschlag nahme und Durchsuchung — Verhaftung und vorläufige Festnahme — Vernehmung des Be schuldigten — Vertheidigung. H.Buch, „Verfahren in erster Instanz", 8 Ab schnitte: Oeffentliche Anklage — Vorbereitung derselben — Gerichtliche Voruntersuchung — Entscheidung über Eröffnung des Haupt- vcrsahrcns — Vorbereitung der Haupt- Verhandlung — Hauptvcrhaudlung — Haupt verhandlung vor dem Schwurgericht. 111 .Buch, „Rechtsmittel", in 4 Abschnitten: All gemeine Bestimmungen — Beschwerde — Be rufung — Revision. IV .Buch, „Wiederaufnahme des durch rechts kräftiges Urthcil geschlossenen Ver ¬ fahrens" in einem Abschnitte. V.Buch, „Betheiligung des Verletzten", 2 Ab schnitte: Privatklage — Nebenklage. VI.Buch, „Besondere Arten des Verfahrens", 5 Abschnitte: Verfahren bei amtsrichterlichen Strafbefehlen — Verfahren nach polizeilicher Strafverfügung — Verfahren bei Zuwider handlung gegen Vorschriften über Erhebung öffentlicher Abgaben und Gefälle — Verfahren gegen Abwesenoe, die sich der Militärpflicht entzogen — Verfahren bei Einziehungen und Vcrmögcnsbeschlagnahme. VN.Buch, „Vollstreckung und Kosten", 2 Abschnitte: Strafvollstreckung — Kosten des Verfahrens. Ich habe dieses Jnhaltsverzcichniß hier aufgestellt, nicht etwa, weil ich der Meinung bin, daß es von Nöthen sei, dasselbe überhaupt erst noch zur Kenntniß der Leser zu bringen, deren juristischem Theile es mindestens bereits geläufig geworden sein soll; sondern vorzüglich deshalb, weil diese knappe und mit einem Blicke übersichtliche Ncbcneinanderstellung mir das geeignetste Mittel erschien, das allgemeine Urthcil über den Bau des Ganzen zu rechtfertigen und thatsächlich zu illustriren. Man prüfe die Ueberschriftcn der einzelnen Bücher und die Titel der Abschnitte in ihrem Zusammenhänge, und man wird bald, selbst ohne Fachmann zu sein, zu der wahrhaft wohlthucnden Wahrnehmung gelangen, daß die gesammte Anordnung des Systemcs, die Bertheilung des Stoffes, die Szenerie und Oekonomie des Werkes, eine geniale Meisterschaft in der Kunst der Gesetzesrcdaktion zur Schau trägt. Da reiht sich Alles so klar und so ein fach aneinander, da folgt Alles so leicht und sicher aus einander, da ist alles Wesentliche mit so beherrschendem Geiste und mit so fester Hand an seinen Platz gestellt, daß man nach der Einprägung dieser Jnhaltsskizze sich hochbefriedigt sagt, wie groß und schwierig auch das ganze Gebiet an sich erscheinen mag, und wie unbekannt im Augenblicke Dir das Einzelne sein mag, da kannst Du ge trost Dich hincinverliercn, denn überall findest Du so feste und sichere Marksteine aufgcrichtct, die Dich zuverlässig orientiren und stets zu dem bestimmten Ziele bringen werden. Die drei ersten Bücher entwickeln in äußerst unge zwungener Weise alle Hauptstücken des Strafprozesses und alle diejenigen wesentlichen Normen des Verfahrens, und zwar in derjenigen Reihenfolge, wie sic in jedem regel mäßig verlaufenden Straffalle vorhanden zu sein pflegen und' beobachtet werden müssen, von der Vorbereitung einer öffentlichen Anklage an bis zur Entscheidung der letzten Instanz. Das erste Buch enthält alle Requisiten, welche im Strafprozeß möglicherweise gebraucht werden, das zweite und dritte Buch alle Stadien, welche der regelmäßige, ordentliche Strafprozeß durchlaufen kann und theilwerse wenigstens durchlaufen muß. Die folgenden drei Bücher (IVtes bis Vites) befassen sich in der Hauptsache mit Ausnahmeregeln, welche an be stimmte Voraussetzungen gebunden sind, und ich möchte nach möglichst allgemeinen Merkmalen diese Bücher etwa dadurch zu charaktcrisiren versuchen, daß ich sage, das 4. Buch behandelt ein Ausnahmcverfahren, welches die Wie derholung des regelmäßigen Verfahrens im Jnteresfe des Angeklagten oder der Staatsbehörde bezweckt; das- 5. Buch ein Ausnahmeverfahren zum Behufc der Ver folgung einzelner bestimmter verletzter Privatinteressen, und das 6. Buch eine Reihe von vereinfachenden Aus nahmeregeln mit Rücksicht auf die besondere Beschaffen heit der strafbaren Handlungen. Man wird sich ohne große Mühe dieses einfache Schema einprägen können, und wird beim praktischen Gebrauche der Strafprozeß ordnung kaum einmal in Zweifel gerathen, an welcher Stelle m jedem einzelnen Falle nachzuschlagcn und Aus kunft zu suchen sei. Diese rückhaltlose Anerkennung soll sich aber , wie aus dem Gesagten hcrvorgcht, vorzüglich auf die technische, mehr formelle Seite des Gcsctzeswerkes beschränken; der materielle Inhalt der Strafprozeßordnung dürfte dagegen nicht so glücklich gewesen sein, eine ungctheilte Befriedigung hervorgcrnfcn und eine Erfüllung der mannigfaltigsten Wünsche gebracht zu haben. Beides aber, die formell- technische Vorzüglichkeit, sowie die materielle Unvollkommen- ycit in Einzelnem, erklärt sich aus der besonderen Sach lage so mit Nothwendigkcit, daß die Erstere kaum als ein inßergewöhnlichcr Vorzug mehr erscheint, und die Letztere aum mit einem Tadel verfolgt werden darf.