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Voigtlän-ischer Anzeiger. Fünfundsechszigster Jahrgang. Verantwortliche Redaction, Druck und Verlag von Moritz Wieprecht in Plauen. Jährlicher AbonnemmtSpreiS für dieses Blatt, auch bei Beziehung durch die Post, 1 Thlr. 6 Ngr. — Die JnsertionSgebühren werden mit 1 Ngr. für die gespaltene Corpus-Zeile berechnet, größere Schrift nach Verhältniß deS Raumes. — Donnerstag. 12O« 12. October 1854. Rückblicke auf den Gang der morgenlän- dischen Verwickelung. Das Rad der Zeil rollt mit der Schnelligkeit eines Dampfers, die Thalsachen folgen so rasch und überstürzend auf einander, daß heute alt und vergessen erscheint, was vor einigen Monaten oder Wochen Aller Gemülher erregte. Es will uns deshalb passend erscheinen, einen kurzen übersichtlichen Rückblick auf die Händel im Morgenlande zu thun; der Leser wird daraus ersehen, wie das Schicksal, der Gang der Er eignisse, die Gewalt der Thalsachen starker ist, als alle Be rechnungen der feinsten Diplomatie von der Machtstellung oder relativen Schwäche der Staaten, von den Operations- plänen der genialen und nichtgenialen Strategen. Von allem Anfang an, d. h. als es Menschikoff nach Constanti- nopel entsendete, war allein Rußland auf der Bühne und ging entschieden und entschlossen vorwärts, als noch Nie mand an Krieg dachte oder rüstete, sondern ganz Europa, ja die ganze Welt, wir wollen nicht sagen, vor Rußland sich fürchtete, aber doch gewaltigen Respekt hatte. Dieß wußten die Russen aber recht wohl; sie meinten, bei dieser — Furcht oder Hochachtung — vor der Macht und dem Namen des „heiligen" Rußlands, bei der ziemlichen Nichtcinigkeil zwi schen mehreren der größeren Staaten, bei dem allgemeinen Wunsche nach Erhaltung des Friedens in Europa rc., werde es ernstliche Hindernisse gegen die Erreichung seiner Absichten nicht finden, noch weniger eine Vereinigung von Großmäch ten gegen sich zu befürchten haben. Da sing Louis Napoleon an, mit England Freundschaft anzuknüpfen. Kein Mensch, auch in Rußland, hielt es für möglich, daß diese Einigkeit eine wirkliche, dauernde sein könne und werde. Ein Napoleon und England wirklich, wahrhaftig vereinigt!! Das fast unumschränkt regierte Frank reich enge verbündet mit dem Prototyp des Constikutionalis- mus! Niemand glaubte es. Man denke nur zurück, wie daS englische Ministerium anfänglich selber keinen Glauben an solches „herzliches Einverständniß" hatte; wie es, fast widerstrebend, dem französischen Impulse folgte; wie cs das Bündniß mit Frankreich nur als Demonstration betrachtete, wodurch Rußland zum Nachgeben gebracht werden sollte. Das wußten die Russey aber eben so gut, wie die englischen Minister; wußten recht gut, daß England wegen der Theue. rung, der lauernden Yankees, des Mißtrauens in das fran zösische Bündniß rc., an einem Kriege, zumal einem so weit aussehenden, nichts lag, deshalb kümmerten sie sich wenig um das Auslaufen der westlichen Flotten, berücksichtigten sie wohl nur scheinbar die Wiener Conferenz durch höfliche An- wortrn. Da überschritt rin kleines türkisches Corps die Do nau, verschanzte sich schnell und geschickt bei Oltenizza und unglaublich! behauptete seine Stellung gegen die Macht der Feinde. Gortschakoff konnte in Folge dieses Ereignisses nicht über die Donau, mußte in Bukarest Verstärkungen erwarten, es gelang, die Schanzen von Kalefat aufzuführen, der Marsch der Russen auf Sofia, der Aufstand der Serben mußte unter bleiben, bas russische Heer den vorigen Winter elend in Erd, barakcn zubringen, Europa, England sing an, an der Unwi, derstehlichkeit der Russen zu zweifeln, an die Widerstands- unb Lebensfähigkeit der Türken zu glauben, wenn auch vorerst nur noch schüchtern. In diesen Stand der Dinge schlug die Niederlage der widerstandsunfähigen türkischen Flotte bei Sinope, an der nicht viel verloren war, mächtig anregend ein. Die öffent liche Meinung in England, wenn auch zum Theil durch die Presse der Parteien aufgestachelt, drängte das englische Mi nisterium nicht minder vorwärts, als die thatendürstige Ruhm lust Frankreichs. Der Krieg des Westens gegen den Osten wurde erklärt. Aber der Westen war noch keineswegs in der Verfassung, denselben mit Ernst zu führen; die Flotten desselben durchsegelten den Pontus, in Wien ging die Ver mittelung ihren Gang, es wurden zwar Truppen nach Galli poli und Varna eingeschifft, aber der Krieg wurde immer noch, wir möchten fast sagen, höflich und rücksichtsvoll ge führt, so daß die Parteien in England nicht ohne Grund den Premier Aberdeen Neigung für Rußland vorwerfen zu können schienen. Bis hieher,hätte, unserer Ansicht nach, der Friede noch hergesttllt werden, Rußland ohne Gefahr für sein Ansehn nachgeben können. Das that es aber leider! nicht. Im Gcgentheil, ungeheure Heeresmassen überschritten die Donau, drangen bis zumTrajanswall vor und belagerten Silistria. Zu gleicher Zeit erhob sich Albanien, Griechenland und Thes salien; nur Serbien wagte es nicht, aus Furcht vor den nahen österreichischen Bayonetten. Silistria sollte erstürmt, der Marsch nach Sofia und den westlichen Balkan erzwun gen, den aufständischen Glaubensgenossen die Hand gereicht, bas ganze illyrische Dreieck in Brand gesetzt, der Friede in Adrianopel oder Constantinopel dictirt werden. Aber die elenden Trümmerhaufen von Rassowa wider, standen, das äußerst wichtige Silistria, durch des Deut schen Grach Talent und Kenntniß und der Türken Ausdauer mit dem glänzendsten Erfolge vertheidigt, wich selbst den blutigsten Stürmen der Russen nicht, die österreichischen Heere sammelten sich in Galizien, Bukowina und Siebenbürgen zu immer drohenderen Wetterwolken, die Truppen der West, Mächte boten den Türken einen festen Stützpunkt und schlu-