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Nr. L4V — V. Jahrgang nrittwoch den LÄ Juni IVIEd kckcheliU täglich nachm. mitNuSüahme der Sonn- und Festtage. AnSgabe t., Mt .Die Zeit in Wort und Bild' dierteljährlich- 2.10 In Dresden durch Boten 2.40 In gan» Deullchland frei Haus 2,52 »«Saab« v.! Ohne illustrierte Beilage diertclj. 1,80 I» Dresden d. Boten 2, IO In ganz Deutschland srei HnuS 2,»2 ^ - Sinzei-Sir. 10 F- Zeitungspreisi. Nr. «858. Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserate werden die Ngesdaltene Petit,eile oder deren Raum mit 15 ^.Reklame» mit 50 ^ die Zeile dercchnel, bei Wiederholungen entsprechenden Rabatt Buchdrnckerei, Redaktion und tsiesch iftSstellei Dresden, Pilluitzer Ltrastc 15. — Fernsprecher >5«« gürRUckgab» unverlangt. Schriftstücke kcineVcrbtndltchkett Redaitions-Lprechsiundc: ll-12 Udr. ^s'fi'isLlisncj unci labstici Oi'sclo-^isbeei'eii l'funct 15 pssnnlgs. Eerüng 8< stocßstrosi, Oresäeri. 8Iöc1se!s8Lr> ln sllsn ZtscNtsilsn. Illb vas A. QtUartal LULV avonniert man auf die „Sächsische V»lkszeituug"mit der täglichen Roman- beilage sowie der wöchentlich erscheinenden Beilage „Feierabend" zum Preise von 1.8V Mk. (ohne Bestellgeld), durch den Bolen ins Haus 2.1V Me. Bezugspreis aus die Ausgabe mit der illustrierten Unterhaltungsbeilage „Die Zeit in Wort und Bild" erhöht sich um 10 Pfennige. Frankreich und der deutsch-vatikanische Konflikt. ^ Paris, den 19. Juni 1910. Die Manifestationen der deutschen Protestanten wur den aus naheliegenden Gründen in den politischen und kirch lichen Kreisen Frankreichs mit dem lebhaftesten Interesse verfolgt. Der von den Jakobinern ins Extreme gestoßene Kulturkampf ist zu neuen Datums, als daß er nicht in aller Gedächtnis geblieben wäre. Und hat man andererseits vor kurzem nicht von dem Versuche des Wiederaufbaues der ab gebrochenen diplomatischen Brücke zwischen Paris und dem Vatikan gesprochen? Wenn sich die Presse trotzdem ziemlich reserviert verhielt, so erklärt sich das damit, daß ihre Auf merksamkeit durch das in der Deputiertenkammer zur Debatte stehende und von den Linksparteien bekämpfte Re- giernngsprogramm in Anspruch genommen war. Viel leicht spielte auch der internationale Takt hierbei eine Nolle. Immerhin setzten einige Boulevardblätter ihrem Lese- publiknm täglich lange Drahtberichte vor, die die Prote- stationsbcwegnng meistens ohne Kommentar Wiedergaben. Auch die römischen Korrespondenten machten sich ans Werk. Selbstverständlich konnte es nicht ausbleiben, daß das heikle Problem zu sensationellen und bei Licht besehen jeder Be gründung entbehrenden Nachrichten Stoff bot, der Konflikt gewann je nach der politischen und kirchenpolitischen Ver fassung der betreffenden Kreise eine verschiedenartige Fär bung. Die notorischen K i r ch e n st ü r m e r schmunzelten vergnügt ob dem heftigen Anprall, der über dem Felsen Petri selbst vom „willfährigen und frommen Germanien" losbrach. „La Lanterne", das romfeindliche Partei organ der radikalsozialistischen Kammerfraktion, schoß wieder einmal den Vogel ab. Sie weist auf die Vorgänge in Spanien, Portugal und Deutschland hin und kommt natür lich zu folgendem Schluß: „Die Kirche befindet sich gegenwärtig in einer Krisis, die ihr baldiges Ende ankündet. Sie muß sehen, wie ihre Macht überall zusammenstürzt. Das häßliche Tier, das die Menschlseit seit Jahrhunderten gefangen hält, muß niedcr- gehauen werden. Völlig, keine Halbheiten." Die Logik dieses Blattes ist ganz amüsant. Seit Jahren schon predigt es den Tod der Kirche in alle Welt hinaus. Ter Vater des Gedankens ist selbstverständlich der Wunsch. Und dann aber ermangelt dasselbe Kulturkampfsorgan nicht, auf die Gefahr hinzuweisen, die dem Staate von Rom aus drohe. Entweder ist die Kirche eine Leichs und daher schadlos, oder sie ist ein gewaltiger Gegner, dann kann sie weder tot sein noch im Todeskampfe liegen. Auch im nationalistischen Lager, ob klerikal oder nicht klerikal, war die Freude ob des Konfliktes schlecht zu verbergen. Nur ist hier die Motivierung eine andere. Man schmeichelte dem Chanvinisteninstinkt. Die „Li berty" ließ von der Ewigen Stadt her die schillernde Ente anffliegen, daß die Stellung des vatikanischen Staats sekretärs Merry del Val bedenklich erschüttert sei und daß der franzosenfreundliche Kardinal Nampolla, der das päpst liche Rundschreiben einer scharfen Kritik unterzogen hätte, seine Autorität wieder so stark gefestigt habe, daß er dem nächst als der Nachfolger Merry del Vals zu betrachten oder mindestens als der Träger der von nun ab einzig möglichen vatikanischen Politik sei. D e in i s s i o n s g e r ü ch t c schwirrten durch die Luft. Auch der letzte päpstliche Nnnzins an der Seine, Msgr. Lorenzelli, wurde im Falle einer Ablehnung Rampotlas als Nachfolger des gegenwärtigen Staatssekretärs genannt. In hiesigen kirchlichen Kreisen, die am objektiven Urteil festhalten, ständige Beziehungen zu Roni haben und mit den dortigen Stimmungen sehr vertrant sind, lächelte man, wie wir sehr bestimmt versichern können. Eben deswegen, weil wir Zeuge dieses Lächelns waren. Wir müssen es uns versagen, hier näher auf diesen interessanten Gegenstand einzugehen. Diskretion wird auch im journalistischen Berufe manchmal zur Pflicht. Nur eines: Kardinal Merry del Val hat mit der Vaterschaft des fraglichen Rundschreibens wie überhaupt mit jeder der Enzykliken religiöser Natur nicht die mindeste Be ziehung. Der römische Korrespondent des gemäßigt natio nalistischen „Eclair" ist erstaunt ob der gewaltigen Agitation in Deutschland, während die anderen Länder, die dem reformierten Kultus angehören, sich nicht angegriffen sahen und er bezeichnet diese Haltung mit dein Worte: Uw; «>n«-i'6Ua (t'XIIomnuck. Der „Figaro", der sich von: polemischen Gezanke womöglich fernhält, schreibt in national-optimistischem Tone: „Frankreich hat nicht aufgchört, die älteste Tochter der Kirche zu sein, und man kann sich fragen, ob es nicht bald die einzige ist. Es scheint, daß man zur Stunde nur in diesem Lande von religiöser Versöhnung spricht, während in anderen Staaten die Diplomatie des Heiligen Stuhles großen Schwierigkeiten begegnet. Die Affäre Roofe- velt schlug dein amerikanischen Nationalismus eine Wunde, deren Vergiftung die Klugheit und Korrektheit des Expräsidenten verhinderte. Der seit Jahren latente spanische Konflikt hat seinen Höhepunkt erreicht lind nun erschien Deutschland auf dem Plane, dieses Deutschland, ans dem Pius X. auf Grund der freundschaft lichen Beziehungen zur Herrscherfamilie diesen bitteren Kelch nicht erwarten konnte. Hier hat übrigens der Vatikan alles an Erklärungen und Zugeständnissen geleistet, was mit seiner apostolischen Würde noch vereinbar ist. Wenn eine Enzyklika auch nicht die Unfehlbarkeit des Verfassers unbedingt engagiert, so bedeutet sie doch einen sehr feier lichen Auto ritätsakt. Man wirft sie nicht mit derselben Leichtigkeit in den Papier - korb wie eine Nummer des ., O s s c r v a t o r e Romano" . . Ter römische Gewährsmann des seinerzeit von Pro- iestanten gegründeten, jetzt freireligiösen und vornehin redigierten Pariser „T e m p s", der in inter nationalen Fragen als Preßautorität gelten darf, äußert sich u. a. wie folgt: „In der Umgebung des Vatikans betrachtet man diesen Zwischenfall über alle Maßen anfgebauscht. Geht das so weiter, so liegt die Gefahr nahe, ins Lächerliche zu verfallen. Wovon handelt es sich, sagt man mir, in dem Rundschreiben? Ist von Deutschland die Rede? Vom spezifisch germanischen Protestantismus? Vom gegenwärtigen Deutschland? Vom gegenwärtigen Protestantismus? Ganz und gar nicht. Man mag den Text unter die Lupe nehmen, und man ent deckt nichts, was dis Deutschen von heute und ihre Fürsten betrifft. Tie Enzyklika verfolgt den Zweck, die Tugenden und Verdienste des hi. Karl Borromäus anläßlich seiner dritten Jahrhundertfeier zu Preisen. Aber jeder weiß, daß der Ruhm des hl. Karl darin besteht, die Reformation wirksam bekämpft zu habe». War es möglich, eine Apologie dieses Mannes zu schreiben und die Kainpfesphasen dabei zu über gehen? Ter lateinische Redakteur der Enzyklika hat also nebenbei auch ans die katholischen Apostaten angespielt, welche die Religion, der sie Treue geschworen, verlassen hatten. Es handelt sich nicht um jene, welche in der prote stantischen Religion geboren sind, also die Protestanten von heute, Fürsten und Völker, welche die Kirche als vollkommen ehrlich und aufrichtig betrachtet. Wenn also die ersten Pre diger der Reformation, die Rebellen, eine Kritik erfahren, waS übrigens der kirchlichen Doktrin entspricht, io kann man keine Beleidigung für die heute Lebenden daraus ableiten. Zugegeben, daß der Verfasser etwas zu schwarz gemalt hat, um die Figur des hl. Karl desto klarer abzuhebcn. Das ist indes eine rein rhetorische Sache . . ." Dem Abschluß des Konfliktes widmet der „Temps" noch einen Aufsatz an leitender Stelle. Man weiß, daß die Redaktion dieser vielzitierten anonymen Anslandsartikel vom früheren Diplomaten Tardien besorgt wird< Es heißt n. a. darin: „Die vom preußischen Ministerpräsidenten überreichte Note >uar höflich aber trocken. Darauf hat der Vatikan mit einer Mäßigung geantwortet, die fast einer Emschnldigung gleichkommt. Herr v. Mühlberg konnte nicht mehr verlangen, und der diplomatische Schritt ist erledigt. Der Heilige Stuhl hat sich Deutschland gegenüber versöhnlicher gezeigt als bei manchen anderen Anlässen. Das ist sein Recht . . / Politische Rundschau. Dresden, den 2l.Ju:V 1910. — Der Kaiser trifft nun doch am Mittwoch in Ham burg ein. Er wird nach einem Frühstück beim General direktor Ballin die neuen Hafenanlagen und den Elbtunnel bau besichtigen. Dann begibt sich der Monarch an Bord der Jacht „Hshenzollern" und fährt nach Kkl. — Die Hetze gegen den ostafrikanisitzcn Gonvernrur v. Rechenberg wird in einem Teile der Presse weit übertrieben. Rechenberg soll dadurch genötigt werden, sein Rücktritts- gesuch einzureichen. Wir möchten aber sehr bczweif.ln, ob diese Machinationen von Erfolg begleitet sein weiden. Der neue Staatssekretär v. Lindeguist wird sich hüten, dem verdienten Gouverneur einigen alldeutschen Schreiern zu Hexenwahn und Hexenprozetz und Reformation. Es ist sehr zu begrüßen, daß der verdiente Geschichts forscher N. Paulus seine Aufsätze über die Stellung der Re formation und des Protestantismus gesammelt (Hexenwahn und Hexenprozeß vornehmlich im 16. Jahrhundert. Herder. Jreiburg 1910) herausgegeben und damit zu einer Dar- stelluug des Themas „Reformation und Herenprozeß" einen recht schätzenswerten Beitrag geliefert hat. Dieses Buch ist nämlich noch nicht geschrieben. Begreiflich. Es ist ja viel leichter und viel bequemer, etwa an der Hand von Hoeus- broechschen Pamphleten gegen die katholische Kirche zu donnern, als znzugestehen, daß auch die Reformatoren im selben Spitale an derselben Krankheit Niederlagen. Man huscht förmlich darüber hinweg und glaubt mit der Phrase, daß die Reformatoren von ihrer katholischen Vergangenheit her durch das katholische Mittelalter belastet gewesen ttwren, alles erledigt. Ja, ist denn damit etwas erklärt? Warum stellt man nicht gleich die andere Frage: Wenn aber die Reformatoren so viel Katholisches und Mittelalterliches abgeschüttelt haben, ja, wenn sie sonst alles, was nach „papistischen Greueln" aussah, schleunigst von sich abtaten, warum haben sie dann gerade diese uns modernen Menschen am befremdlichsten erscheinende Sache wie Hexenivahn und Hexenvcrfolgnng nicht auch verworfen? Und weiter: Wenn für die Reformation eine „Belastung" als Milderungsgrund Geltung hat, warum will man den- selben Umstand nicht gelten lassen für die „Belastung" der zum Cbristcnti'me bekehrten Heidenvölker durch ihr Heiden tum, das sie äußerlich zwar abgelegt, innerlich aber keines wegs ganz überwunden hatten? Und wenn man gegen die Theologen der katholischen Kirche die Anklage erhebt, durch ihre Schriften den Wahn gefördert zu habe», ei, warum erhebt man nicht denselben Vorwurf gegen Luther, obwohl er vollberechtigt ist? Pau lus zeigt auf Grund zahlreicher Aeußerungeu Luthers, wie der Reformator durchaus für ein Vorgehen gegen die Hexen eiutritt und wie gerade Luthers Schriften wiederum de» Wahn und die Herenverfolguiig fördern mußten, denn für viele Gegner der Heren sind nicht der „Hcrenhammer" und nicht die Hereubiille Innozenz VIII. die Quelle ihrer Weis heit und Beraterin ihrer Praxis geworden, sondern -- Luthers Schriften. Ter Reformator aber seinerseits schöpft seine Kenntnis nicht ans päpstlichen Bullen noch ans Schriften katholischer Mönche — beide bildeten für ihn ja gar keine Instanz! sondern aus der Bibel. In dem Abschnitt „Die Bibel als Autorität für protestantische Hexenverfolgnng" (S. 67 bis U>0) bringt Paulus Belege aus allen Gauen Deutschlands. Tie Bibel ist für alle diese protestantischen Kreise die Richt schnur für ihr Einschreiten gegen die Hexen, daran ist nach dem »mfassenden Zeugenverhör, das Paulus vornimmt, kein Zweifel. Nicht minder beliebt als die so viel zur Rechtfertigung der Reformatoren in Anwendung gebrachte Bclastungs- thcorie ist die gewöhnliche Darstellung, daß die katholischen Theologen von wegen ihres Zölibats die Schuld an der Verachtung des weiblichen Geschlechtes tragen und daher verantwortlich gemacht werden müßten für die Zuspitzung des Herenwahnes ans das weibliche Geschlecht. Hierin hatte der Leipziger Ncchtsgelchrte Friedbcrg richtig gesehen, als er die Frage aufwarf, ob da nicht ältere Vorstellungen mitspielten, „ob nicht die Frauen auch im Altertum, in der Germanen- sowie in der Frankenzeit weit mehr als die Männer mit übernatürlichen Gaben ausge rüstet angesehen worden sind, und ob demnach nicht bei den Hexenverfolgnngen die durch das Christentum noch nicht ausgerotteten Anschauungen des Volkes wenigstens eine ebenso große Rolle gespielt haben wie die Niederschläge mönchischer Aszetik. Sonst wäre es kaum z» erklären, daß diese spezifisch mönchisch-aSzetischen Lehren beim Volke einen so breiten Boden gefunden haben". Dem ist in der Tat so. Und ganz unhaltbar ist die gewöhnliche Behauptung, daß die betreffenden Partien im „Hexenhammer" an dieser Miß achtung der Frau schuld seien. Das erscheint von vornherein wenig glaubhaft, wenn man bedenkt, daß das zudem noch lateinisch geschriebene Buch eine ungeheuere Verbreitung hätte finden müssen, um in so kurzer Zeit eine so weitver breitete Ansicht fest einwnrzeln zu lassen. Auch der Um stand gibt zu denken, daß jenes Kapitel aus dem „Hexen- bammer" herzlich wenig als Quelle von den Antihexen schreibern angeführt wird. Tatsächlich liegt die Sache auch ganz anders. Dev „Hexenhammer" selbst gibt nur allgemein verbreitete An schauungen wieder. Ter Wcibcrverachtung hat aber der