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Voller Unruhe und Gehetztheit jagt der Satz dahin, ohne allerdings je die ganze Wucht und Gewaltigkeit des Beethovenschen Anfangssatzes zu erreichen. Eine unheimliche Note tragen Zweiunddreißigstelfetzen hinein, die durch das ganze Orchester gefegt werden und die zu dramatischen Höhepunkten führen, wenn sie mit dem jagenden Klopfthema in der Reprise kombiniert werden. Ohne Nachlassen der Energien wird der Satz zu seinem kraftvollen, in Moll beharrenden Ende geführt. „Es ist immer eine gute, warme, innerliche Musik, wie der Mensch, der sie ge macht hat" - äußerte einmal zutreffend Ernst Kfenek über die Tonsprache des heute 75jährigen französischen Komponisten Darius Milhaud. Und Milhaud selbst, einst neben Arthur Honegger wohl die kraftvollste Erscheinung der „Groupe des Six", sagte über seine Herkunft: „Meine musikalische Bildung ist ausschließlich durch den lateinisch-mittelländischen Kulturkreis bestimmt, was sich schon daraus erklärt, daß ich aus einer sehr alten jüdischen Familie der Provence stamme. Die Südländische, besonders auch die italienische Musik hat mir immer sehr viel gesagt..." 1939 emigrierte Milhaud vor dem Faschismus in die USA und kehrte 1948 wieder in seine Heimat zurück, neben ausgedehnter kompositorischer Arbeit auch pädagogische Ämter übernehmend. Von seiner immensen schöpferischen Fruchtbarkeit und Vielseitigkeit zeugt die Tatsache, daß seine Werkliste heute weit über 400 Titel sämtlicher Genres umfaßt, die stilistisch kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Dabei ist der Komponist, im Wesen und Werk ein typischer Franzose und einer der markantesten Ver treter der zeitgenössischen Musik seines Heimatlandes, seit Jahren infolge einer Lähmung an den Rollstuhl gefesselt. Das hindert ihn jedoch nicht, weiter hin zu komponieren, zu unterrichten und (im Sitzen) zu dirigieren (wie bei spielsweise beim vorjährigen „Prager Frühling"). Paul Collaer, ein hervorragen der Kenner des Komponisten, sagte, daß seine Musik keine Entwicklung durch gemacht habe. „Sie war nicht zuerst impressionistisch, dann avantgardistisch und später klassisch. Sie ist so geboren, wie sie heute ist." Große soziale und historische Ereignisse fanden in ihm einen berufenen Interpreten. Das in unserem Konzert erklingende erste seiner beiden Konzerte für Violoncello und Orchester entstand im Jahre 1934 und ist ein typisches Zeugnis Milhaud- schen Schöpfertums. Eleganz und Raffinesse, Gedrängtheit und verschwende risches Nebeneinander der musikalischen Gedanken kennzeichnen das prägnante virtuose Werk ebenso wie einprägsame Melodik, lebendige Polytonalität und -rhythmik, Formklarheit und schillernde Orchesterfarben. Daß das Erlebnis des Jazz — neben exotischen Anregungen - einst für Milhaud von Bedeutung war, ist in der Lockerheit und Spritzigkeit mancher melodischer und rhythmischer Wendungen zu spüren. Der erste Satz des dem berühmten französischen Cel listen Maurice Marechal gewidmeten und von diesem uraufgeführten Konzertes führt sein grundlegendes thematisches Material mit virtuoser Robustheit im Soloinstrument ein, dem sich sodann mit geistvoller „Nonchalance“ das Orche ster anschließt. Eine nachdenkliche, in weitgespanntem Bogen geführte Melodie (des Soloinstrumentes) beherrscht das ausdrucksstarke Geschehen des lang samen Mittelsatzes. Spielerischer Impetus zeichnet dagegen den dritten Satz aus. Die vom Orchester gegebenen Impulse werden vom Solisten virtuos auf gegriffen. Die von Ludwig van Beethoven 1811 begonnene (einzelne Skizzen reichen schon in frühere Jahre zurück) und 1812 vollendete Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 wurde zusammen mit der Programm-Sinfonie „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria“ in einem Wohltätigkeitskonzert zugunsten verwundeter bayrisch-österreichischer Soldaten, die Napoleon 1813 in der Schlacht bei Hanau geschlagen hatte, am 8. Dezember 1813 in Wien urauf geführt und versetzte dabei die Zuhörer in unglaubliche Begeisterung. Als hochbedeutender künstlerischer Beitrag des vom „reinen Gefühl der Vater landsliebe“ durchdrungenen Meisters zum Befreiungskampf gegen die napo leonische Herrschaft steht das aufrüttelnde, Elan und aktivierende Kraft ausstrahlende Werk gewiß mit der Zeit seiner Entstehung in ideellem Zusam menhang. Da Beethoven zu der „Siebenten" im Gegensatz zu der vorangehen den „Pastorale" keinen Schlüssel für eine bestimmte programmatische Deutung gegeben hat, hat das Werk immer wieder zu mancherlei Erklärungs- und Deu tungsversuchen gereizt. Besonders berühmt wurde Richard Wagners von der ungemein starken Betonung des rhythmischen Elements in dieser Schöpfung ausgehende Deutung als „Apotheose des Tanzes“. Das Grundelement eines vitalen, pulsierenden Rhythmus, der sich als alles beherrschende, alles gestal tende Kraft erweist (charakteristischerweise gibt es in der ganzen Sinfonie, ebenso wie in der „Achten", keinen langsamen Satz), aber auch eine interes sante, neuartig bereicherte Harmonik, eine eng verzahnte Thematik und eine überaus großzügige, kühne Linienführung schufen zusammenwirkend hier ein strahlend-glanzvolles Werk überschäumender Lebensfülle von festlicher Heiter keit bis zu ausgelassenstem, wild entfesseltem Taumel, in dem Beethoven in schöpferischer Entwicklung zu absolut neuen Ordnungen und Formungen vor gedrungen ist. Mit einer breit angelegten, wie abwartend wirkenden langsamen Einleitung, unmerklich zum Hauptsatz (Vivace) hinführt, beginnt der erste Satz. I^JI lebenssprühende, in punktiertem Sechsachtelrhythmus stehende Hauptthema durchzieht als dominierende rhythmische Grundfigur den gesamten, wechsel vollen Stimmungen unterworfenen Satz, der trotz an sich frischen, hellen Cha rakters doch bereits, ähnlich wie später das Finale, reich an schroffen dyna mischen Kontrasten, kühnen Modulationen, starken Ausdrucksspannungen und Steigerungen ist. — Der zweite Satz, von Beethoven als erster entworfen, bildet das Kernstück der Sinfonie und erregte von Anfang an besondere Aufmerksam keit und Begeisterung. Dieses von tiefer Empfindung beseelte, wunderbare a-Moll-Allegretto ist in erweiterter dreiteiliger Liedform angelegt; während der erste Teil ein ernstes Thema in gleichsam gebrochenem Marschrhythmus bringt, dem als Gegenstimme eine innige, ausdrucksvolle Melodie der Celli und Violen beigegeben ist, wird im gesangvollen, freundlichen Mittelteil besonders der Gegensatz zwischen Moll und Dur wirksam. Nachdem am Schluß noch einmal die Marschweise aufgenommen wurde, schließt das Stück, wie es auch begonnen hatte, mit einem fragenden Quartsext-Mollakkord. — Im dritten Satz, einem verhältnismäßig ausgedehnten Scherzo, fällt die damals innerhalb einer A-Dur- Sinfonie ungewöhnliche Wahl der Tonart F-Dur auf. Der lebensfrohe, kapriziöse Presto-Satz rauscht in funkelnder, sprühend-jugendlicher Ausgelassenheit an uns vorüber, zweimal kontrastierend unterbrochen von einem lyrischen, liedhaften Trio-Teil, dessen Thema einem Zeitgenossen Beethovens zufolge einem öster reichischen Wallfahrtsgesang entnommen sein soll und dessen besonderer Effekt eine sogenannte liegende Stimme, hier der Klang des festgehaltenen Tones a, darstellt. - Voller bacchantischem Überschwang gibt sich schließlich das stürmische Finale. Vor allem die Kühnheiten, die zahlreichen melodischen und metrischen Wiederholungen, die Orgelpunkte, und überhaupt die geknöpftheit" dieses ausgelassenen Satzes wurden Anlaß für kritische rungen der Zeitgenossen, und man hat ihn einmal sogar als „Gipfel der Geste,. , losigkeit" bezeichnet. Ein ungestümer Ausbruch heftiger Leidenschaften, von elementarem Rhythmus umtost, trägt aber gerade das in jubelndem Tutti endende Finale des Werkes charakteristischste Züge der eigenwillig-genialen Persönlichkeit seines Schöpfers. VORANKÜNDIGUNG: 9. und 10. Dezember 1967, jeweils 19.30 Uhr, Kongreßsaal 8. AU S S E RO R D E NTLI CH E S KONZERT Dirigent: Lothar Seyfarth Solistin: Masuko Ushioda, Japan, Violine Werke von Grieg, Sibelius und Tschaikowski Freier Kartenverkauf Programmblätter der Dresdner Philharmonie - Spielzeit 1967/68 — Chefdirigent: Kurt Masur Redaktion: Dr. Dieter Hartwig Druck: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden, Zentrale Ausbildungsstätte 41729 III 9 5 1,6 1167 ItG 009/96/67 (•hilhamnomi 3. PHILHARMONISCHES KONZERT 1967/68