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Wöchentlich »scheinen drei Nummern. Luanumeranons-'vrcw 22 j LUdcrgr. (j ö.bir.) vierteiiährlich, il phlr. sür ka« ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen ^heilen der Preußischen Monarchie. M agazin für die Pränumerationen werden von jeder Buchhandlung (in Berlin del Veit u. Comp., Häqerstrafie Nr. 25). sv wie von allen Königl. Post Aemtein. angenommen. Litcriltnr dcs Auslandes. . 1/ 137. Derlin, Sonnabend den 15. November 1845. Frankreich. Mündlichkeit, Anklagevrinzip, Oeffentlichkeit nnd Gcschwornen- geeicht. Mit jedem Tage vermehren und verstärken sich die Stimmen, welche die Umbildung des deutschen Strafverfahrens verlangen. Man kann die Förderer nicht mehr mit den Rainen ungestümer Neuerer, Mißvergnügter, verkappter Demagogen, Anhänger des Franzosenlhums abweisen, wie man wohl vor Jahren zu thuu pflegte, denn selbst höchst ehrcnwerthe NechtSgelchrte, die lange Zeit als Richter nach dein alten deutschen Verfahren thälig waren, selbst ganze Völker durch ihre verfassungsmäßigen Vertreter haben sich entschieden für die Nothwendigkcit einer vollständigen Umgestaltung des peinlichen Gerichts- wesens ausgesprochen. Es genüge hier, auf die sächsischen Kammerverhand lungen von I84Z und auf die württembergischcn und badischen Strafgesetz- Entwürfe nebst den darüber gepflogenen Verhandlungen zu verweisen. ES ist eine entschiedene öffentliche Meinung vorhanden, die allerdings in ihrem Ursprünge zum großen Theile durch die Ideen einzelner erleuchteter Männer angeregt worden ist, wie es ja im Laufe menschlicher Entwickelung nicht anders sepn kann, aber eS ist dies keine künstliche Aufregung, sonst wäre sie, des Halles einer natürlichen Wurzel entbehrend, längst spurlos vorübergegangen. Die Unzulänglichkeit des bisherigen Verfahrens hat sich in mehreren wichtigen Fällen zu klar herausgestellt, als daL irgend noch ein Zweifel über dieselben obwalten könnte, und eben so klar ist die Ueberzeugung geworden, daß mit einem Flicken und Nachbeffcrn des alten Gebäudes nicht geholfen sep. Und wollte man etwa der öffentlichen Meinung einen Vorwurf daraus machen, daß sie sich über das Einzelne dessen, was sie fordert, nicht klar sep, so würde man eben so ungerecht als unverständig handeln, da die Gelehrten selbst, die Männer vom Fache, diesem Vorwurfe noch häufig anheimfallen. ES ist viel mehr Aufgabe der Wissenschaft, die öffentliche Meinung durch klare Ausein andersetzung dessen, um das eS sich handelt, aufzuklären und dadurch den an- gebahnten Verbesserungen und neuen Schöpfungen den Weg zu bereiten. Eig besonderes Verdienst in dieser Hinsicht hat sich der treffliche Mitter- maier erworben durch sein jüngst erschienenes Buch über die Mündlich keit, das Anklageprinzip, die Oeffentlichkeit und das Ge- schwornengericht. °) Er behandelt in demselben zuerst den Stand der Frage in Beziehung auf die öffentliche Meinung und die Leistungen der Wissen- schäft in Deutschland, erläutert und kritifirt sodann die auf diesen Prinzipien beruhenden Gesetzgebungen Englands, Nord-Amerika'S, Frankreichs und der übrigen dahin einschlagenden Länder, beleuchtet ferner die betreffenden Ver handlungen der deutschen Kammern und zieht endlich, aus allem diesem die Nutzanwendung. Wir benutzen für die nachstehenden Spalten außer dem Buche selbst noch eine vortreffliche Anzeige desselben aus der Feder des gewandten und gelehrten Professors Cherduliez. °°) Herr Cherhuliez bcurtheilt die deutschen Zustände weit richtiger, als wir von Ausländern zu hören gewohnt find, ja sogar weit billiger, als viele deutsche Schriftsteller, die vom Liberalismus Profession machen nnd aus Parteistreben oder aus ungenügender Kenntniß der Verhältnisse ein solches Bild entwcrse». „Der Widerspruch zwischen Wissenschaft und Leben", sagt er, „tritt in Deutschland weit schneller hervor, als in irgend einem andere» Lande, obgleich er nicht mehr so arg ist als ehemals. Während die Forschung der Universitäten vor keiner Theorie zurückschrickl und mit freiem und kühnem Schritte die Wahrheit in allen Richtungen aufsucht, folgt die PrariS auf dem ihr eröffneten Wege des Fortschrittes nur mit zögerndem und furchtsamem Fuße und ist in mancher Hinsicht nicht nur hinter dem zurück, was die Wissen schaft billigt und anempfiehlt, sondern selbst hinter dem, was bei anderen Völkern längst zur Anwendung gekommen ist. Dieser Widerspruch läßt sich jedoch erklären. Die meisten Staaten jenseit des RheincS haben keine jener Revolutionen erlebt, welche wie ein Sturmwind daherfahren und alle Ein- richtungcn der Vergangenheit umstürzen; deshalb verändern sich hier diese Ein richtungen nur einzeln und allmälig und wenn sich das Bcdürsniß allgemein fühlbar macht. Da aber in Deutschland Literatur und Wissenschaften in wunderbarem Glanze leuchten und mit ihren Strahlen alle Klassen der Gc- ') Die Miindliidk.it, La- slnklageprinzip, die Oeffentlichkeit und da- Geschwornen- gericht geprüft pon Nr. E. F. Mittermaier, Geheimenraih und Profeffer in .Heidelberg. Stuttgart und Tübingen, Cotta, NUZ. IV und -IS S. gr. 8. ") Zm Angusthcfie der kihliotlwgu« uutvor"Nv ei« t-ouere. sellschaft erwärmen und beleben, so ist ein neuer Geist in die PrariS gekommen und hat auch die alten Formen verjüngt. Dieser neue Geist, der auch in der Anwendung der alten Gesetze lebendig ist, hat ihre Fehler nm ein großes ge- mildert und eben dadurch die Reform dieser Gesetze minder dringend und die Erreichung ihrer Gewährung von Seiten der Staatsmänner um so schwerer gemacht. So vertragen sich die Censur und das geheime und schriftliche Ler- fahren, welche in Frankreich vielleicht unerträgliche Mißbräuche nach sich ziehen und keinen Schriftsteller finden würden, der so unverständig wäre, sie zu vcr- theidigen, in Deutschland mit einem hohen Grade von Wohlbefinden, Sicher- heit und Freiheit und erhalten sich wenigstens eben so sehr durch die Macht des RaisonnementS und der Theorie, als durch die der Gewohnheit. °) „Andererseits fühlen die geistreichsten und einsichlsvollsten Männer ein sehr natürliches Vedürfniß, ihren Wirkungskreis auszudehnen und sich von jeder anderen Beaufsichtigung als der der öffentlichen Meinung zu befreien; und da sie die Mißbräuche der Freiheit und der Oeffentlichkeit nicht ans Erfahrung kennen, halten sie dieselben für unerheblich oder glauben, daß ihnen leicht durch ein Gesetz begegnet werden könne. So befindet sich denn der politische Liberalismus in DFUtschland in jenem Zustande jugendlicher Begeisterung und Unschuld, der ihn für edle und gerade Gcmüthcr eben sowohl als für kühne und konsequente Geister so anziehend macht.. Wenn er sich überschwänglichen Hoffnungen hingicbt, so sind dies doch Hoffnungen edler Art, nnv er vertrant ihnen mit solcher Uneigennützigkeit und ehrlichen Zuversicht, daß diejenigen, welche ihm ihre Beistimmung versagen, ihm doch ihre Achtung kaum versagen können." Diese Behauptung dcS Herrn Cherduliez findet ohne Zweifel auf einen großen Theil unserer wahrhaft liberalen Männer ihre Anwendung (denn von dem Trosse derer, die sich lärmend der Bewegung anschließen, blos weil eS eben eine Bewegung ist, oder gar deshalb, weil sie die wenig beneidenSwerthe Entdeckung gemacht haben, daß der Göttin untcrdeß auch eine tüchtige Milch kuh untergeschoben werden könne, kann natürlich hier nicht die Rede sepn); aber die Besonneneren, diejenigen, denen die Erfahrung der Vergangenheit und des Auslandes nicht verloren ist, wissen recht wohl, daß man auch mit der Freiheit „sich behelfen" lernen muß. Sie fordern rcichSständische Ver- faffung, Preßfreiheit, mündliches und öffentliches Gerichtsverfahren, eigen« Verwaltung der Kommunal-Angelegenheiten und des KirchenwcscnS nicht darum, weil sie glauben, daß dann aller Uebel Ende und alles Heiles Anfang eintrcten werde, sondern weil sie wissen, baß ein hcrangereifteS Volk solches LebenSathemS bedarf, daß mit der Begründung dieser Einrichtung sich Güter einstellen, die sich zwar nicht so gleichsam nach der Elle hermessen oder nach dem Pfunde vorwiegen lassen, dagegen aber um so tiefer in das ganze Daseyn des Volkes eindringen und in alle seine Verhältnisse segensreich eingreifen. Aber weil sie das erkannt haben, ist ihnen auch nicht verborgen, wie schwierig die Ausführung dessen ist, was im Prinzip« so leicht scheint, wie vorsichtig und prüfend zu Werke gegangen werben muß. Sachkenntnis), Mäßigung, Toleranz, Unbefangenheit, Wohlwollen und Schonung der Personen: das sind die Kennzeichen solcher Männer. Ehe wir nun zu dem Mittcrmaierschcn Buche selbst übergehen, von dessen Verfasser wir sicher nicht erst zu rühmen brauchen, daß er als Muster eines liberalen Gelehrten im besten Sinne dasteht, wollen wir nach dem Beispiele Cherbuliez'S an einige Grundbegriffe erinnern, die vielleicht manchem unserer Leser nicht gerade ganz gegenwärtig sepn dürften. Dir Anwendung des Strafgesetzes aus irgend ein Verbrechen setzt voraus: I) daß dieses Verbrechen wirklich begangen worden und mit allen Umständen, die es charakterisiren, bekannt ist; 2) daß dieses Verbrechen einer Person zugc- schrieben werden kann, und daß diese Person bekannt, gegenwärtig und fähig ist, die Strafe zu erleiden. Um zum Kriminal-Urtheil zu gelangen, welches das Strafgesetz anwendet, bedarf eS aber einer Reihe von materiellen Hand lungen und geistigen Operationen, welche tausenderlei verschiedene Formen annehmen können. Das Strafverfahren ist nun nichts Anderes als dicke Reihe von Handlungen und Operationen, deren Formen durch das Gesetz oder die Gewohnheit jedes Landes bestimmt sind. ') Wir können ei dem gelehrten Verfasser nicht verargen, das er, durch seine Ver hältnisse nicht im Entferntesten daran erinnert, ein sehr wichtige- Moment übersehen Hai: da- der Furcht und der Seldsterhaltung, nm deswillen Alle, die durch einen Umschwung der Staal--, Recht-- und Kommunal-Verhältnisse ihre Stellung zu gelährden oder doch eine Einbuße ihre- bisherigen Einflusses zu erfahren besorgen, sich irber Neuerung auf La- Entschiedenste widersetzen.