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Fei« rabend. A»tnh»lt»>t»-§kil>tk der „Sachs. Bolkszeitung". 31. Sonntag, den 30. Juli. 1S0S. " ' ^ chokdene Schranken. Frei nach dem Englischen von Clara Rheinau. o. Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) Inzwischen wurde Vera von verschiedenen jungen Da men in Beschlag genommen, die sie in das Teezimmer ent führten. Schweren Herzens folgte sie ihren Begleiterinnen die Treppe hinunter. Doch sie bemühte sich, ihren Kummer in den Hintergrund zu drängen; in dieser heitern Umgebung mußte ja jedermann eine heitere Miene zeigen. Als sie nach einer Weile ihre Stiefmutter wieder an dem Platze aufsuchen wollte, wo sie dieselbe verlassen, fand sie niemand mehr, als die vermeintliche Gouvernante, dje sich hier ziemlich einsam zu fühlen schien. Vera dachte sofort, es müsse Mabel sein. Wie gerne hätte sie mit ihr gesprochen! Aber ihres Vaters warnende Worte klangen ihr in den Ohren und sie wagte nicht, die Fremde anzureden. Diese jedoch kannte solche Skrupel nicht. Sie hatte ihre schöne Cousine schon im stillen bewundert und fragte jetzt in ihrer frühen: brüsken Weise, doch ohne ihre frühere Schüchtern- heit: „Sie sind meine Cousine Vera, wie ich glaube?" Einen kurzen Augenblick vergaß Vera die Mahnung ihies Vaters und mit einem freundlichen Lächeln entgegnete sie: „Die bin ich. Und Sie sind Mabel, nicht wahr? Ich habe durch Cousine Jenny von Ihnen gehört." „Und ich von Ihnen. Wir werden nun oft zusammen kommen, hoffe ich, denn Cousine Jenny hat Sie so warm ins Herz geschlossen." Vcru durchlief es wie ein Schauder. Ihr Vater hatte dringend gewünscht, daß sie jedes Glied dieser Familie sich fern halte und nun kündigte ihr Mabel einen häufigen Ver kehr als etlvas Selbstverständliches an. Was sollte sie sagen? Sie blieb die Antwort schuldig und auch Mabel schwieg, sichtlich verletzt. Doch der Wunsch, mehr von ihrer Cousine zu erfahren, öffnete ihr bald wieder die Lippen. „Sie liebten Godwinhall sehr, nicht wahr?" fragte sie ohne jeden Uebcrgang. „Es war mein Heim," entgegnete Vera und ihre Miene war kalt und stolz, obschon ihre Lippen bebten. ..Wie herrlich muß es sein, ein eigenes Heim zu haben! Ich kannte nie ein solches, bis ich nach Queens Gate zu Cousine Jenny kam, und ein Haus in London ist nicht wie ein Haus auf dein Lande." Es lag etwas so Rührendes in Mabels Stimme, daß Vera sich wider Willen bewegt fühlte. „Aber nun haben Sie Godwinhall als Ihr Heim," sagte sie etwas freundlicher. „Q lervahre! Ralphs Mittel erlauben ihm nicht, dort zu wohnen. Es ist verpachtet." „Verpachtet! Godwinhall verpachtet!" „Dies tut Ihnen leid? O, hätte ich lieber davon ge schwiegen." Vera nahm ihr frostiges Wesen wieder an. „Warum sollte es mir leid tun? Natürlich liegt mir nichts daran, nur ist es das erstemal, daß Godwinhall von 'einem Besitzer verpachtet wurde." Im stillen dachte sie, ihr Vater habe doch wohl recht — es mußten schreckliche Menschen sein, daß sie Godwinhall ver pachten konnten. Diese Gedanken beschäftigten sie auch noch, als sie mit ihrer Stiefmutter bereits die Heimfahrt angetreten hatte. Frau Godwin plauderte unablässig und bemerkte erst nach geraumer Weile Veras Einsilbigkeit. „Hast du dich nicht amüsiert, Kind?" fragte sie an gelegentlich. „O gewiß, weit mehr, als ich erwartete, aber — es quält mich etlvas, Mama. Tu weißt, welche starke Ab- neiguirg der Vater gegen die Percival Godwins hegte. Mehr als einmal mahnte er mich, keinen Verkehr mit ihnen zu haben, aber wie kann ich dies, jetzt, da Mabel bei Cou sine Jenny wohnt? Trotz allem muß ich des Vaters Wunsch zu erfüllen suchen." „Ist das dein ganzer Kummer?" rief Frau Godwin lachend. „Welch törichtes Kind du bist! Dein armer Vater hatte infolge seiner Krankheit viel unvernünftige Ideen und dies war eine davon. Wenn du klug bist, suchst du all diese Warnungen und Befehle zu vergessen und behan delst die Percival Godwins wie andere Verwandte." Ganz entrüstet blickte Vera auf. Aber ehe sie antworten konnte, hielt der Wagen an und Frau Godwin entschlüpfte ihm mit einem eiligen Gutenachtgruß. Inzwischen war auch Ralph mit Schwester Mabel nach Hause gefahren, aber seine Gedanken weilten bei Vera - nicht wie er sie heute abend gesehen, sondern wie sie in Furlby, dem kleinen Oertchen an der See, so kindlich zutrau, lich mit ihm geplaudert hatte. Welche Veränderung war mit ihr vorgegangen! Wilfred Godwins Testament hatte sein Werk getan. Von jetzt an lvar zwischen ihr und jedem, der den Namen Godwin führte, eine Schranke errichtet. Dennoch brauclste sie nicht zu befürchten, wie es sichtlich der Fall war, daß jedes männliche Glied der Familie sich ihr niit Heiratsabsichten näherte. „Ist sie nicht reizend?" unterbrach hier Mabel seinen Gedankengang. „Wer? Was?" war seine zerstreute Entgegnung. „Ich meine Vera. Ich erkannte sie augenblicklich als das junge Mädchen, das uns gegenüber wohnte, obgleich sie noch viel schöner geworden ist. Wie gern möchte ich mich recht eng an sie anschließen, aber ich glaube nicht, daß sie es dulden wird. Sie war so kalt und zurückhaltend und doch hat sie ein so einnehmendes Lächeln." „Du wirst am besten jeden Gedanken an einen intimen Verkehr mit ihr aufgeben," sagte Ralph ein wenig bitter. „Eure Wege gehen weit auseinander. Ueberdies," fügte er mit seinem angeborenen Gerechtigkeitssinn bei, „hatte ihr Vater, leider nicht ohne Grund, eine Abneigung gegen uns, also ist sie wahrscheinlich nicht zu unseren Gunsten vorein- genommen." „Ich fürchte es. Und sie schien ganz entrüstet, als sie hörte, daß Godwinhall verpachtet sei. Kein früherer Besitzer habe dies jemals getan." Das arme törichte Kind. Ich weiß, ihr ganzes Herz hing an dem alten Heim. Doch wenn die zukünftigen Be sitzer sich nichts Schlimmeres zu schulden kommen lassen, als dies, so darf man mit ihnen wohl zufrieden sein." 12. Die Saison in London hatte ihren Höhepunkt erreicht und die Damen Godwin waren von Einladungen jeglicher Art übermäßig in Anspruch genommen. Die Frühstücks-