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«r. — LO. Jahrgang Mittwoch de« 1L. Oktober IVLR »trlcheint täglich nachm, mit Ausnahme der Sonn- und Festtage. Aosaabe L mit .Die Zeit In Wort und Bild' vierteljährlich »,10 In Dresden durch Boten »,40 In gan, Denischlnnd srei HauS »5» in Oesterreich 4,4,1 X. iv»«aabe l> ohne illustrierte Beilage vierteljährlich I,«0 In Dresden durch Bote» 2,10 In ganz Deutschland frei Hau« 2,22 in Oesterreich 4,0V X — Einzei-Nr. 10 Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit Inserate werden die Sgelpaltene Vetttzeile oder deren Raum mU 15 1, Reklamen mit 50 1 die Zeile derechnet, bei Wiederholung«, enisprechendcn Rabatt. Vnchdrmkeret, ittedaftio» nnd Geschäftsstelle i TreSdr», Pilluttzer Ltraste lti. — Fernsprecher 1.100 IUrRüikgabe unverlangt. Schriststiiste keine tverbtudltchkett RedakliotiS.Sprechstunde: 11 bi« I» Uhr. W- 1788 Paul ttein2e 8perial-?elr>v2ren- unä Mren-üe^lM vresclen unweit Ucke Viktorisstcabe. ksparstuesn. Fernsprecher 5979. Rinxstr. 26 gegenüber 8. llunä- stünclischen liank. ttgusntsrtigungen. pernsprecbvr 5979. Eine Tteuorientierung unserer Auslandspolttik. Die Marokkoverhandlungen Huben für unsere Aus landspolitik Konsequenzen, die weit über Agadir hinaus- reichcn werden. Man darf annehmeu, daß die eben be gonnene aktive Auslandspolitik fortgesetzt wird und daß die Rolle des bequemen Mannes ein- für allemal ausge spielt ist. Wer dem deutschen Volke gerecht werden will, mus; sich immer die Frage vorlegen: wie sollen in 20 bis 2-") Fahren die lOO Millionen Deutsche ernährt werden? Wenn die Gegenwart dieser ernsten Frage der nahen Zukunft nicht vorarbeitet, dann versündigt sie sich an den Lebensinteressen des deutschen Volkes. Ter fried liebende Deutsche hat es dabei gar nicht auf Eroberung fremder Landstriche abgesehen: er ist kein Freund der Lhr- feigentaktik; aber wenn man ihm eine ins Gesicht schlägt, dann wird er süchtig und der Urteutone erwacht in ihm. Deutschland ist zufrieden, wenn es überall auf dem Welt märkte gleichmäßig und gerecht behandelt wird: es plant nicht eine moderne Völkenvanderung, in der sich seine Millionen über die benachbarten Gebiete ergießen; es will aber auch nicht diese dem Hunger auSMiefert sehen. Darum muß Deutschland für seinen Handel freie Bahn fordern. Mit diesem unabänderlichen nnd ernsten Anspruch des deutschen Volkes müssen alle Nationen rechnen nnd sie konnten es um so mehr, als dieses Ziel sich im friedlichen Wettbewerb erreichen läßt. Aber das Reich findet hier einen gewaltigen und nei dischen Gegner auf seinem Friedenswege: England. Wer fe noch gezwcifelt hat, wie das Jnselreich zu uns steht, dem ist es seit Agadir in Flammenworteu cntgcgengetrcten. Jetzt nur keine Duselei nnd falsche Orientierung mehr. Alle Friedensofferten nach England sind ohne Erfolg ge blieben, müssen ohne Erfolg bleiben, wer den Engländer kennt. Was wollen heute noch die deutsch-englischen Friedenskomitees? Es wäre das beste, sie würden sich so fort auflöscn, um ja keinen Anschein politischer Heuchelei entstehen zu lassen. Mit England können wir nur kühl und nüchtern verkehren, jede Ueberschwenglichkeit ablegen, nie das Herz, sondern nur den Kopf reden lassen. Eine solche feste und konsequente Politik erzwingt Achtung und kann den Frieden sichern. Jedes Nachlaufen muß aushören, im Interesse des Reiches. Wir brauchen keine aggressive englandfeindliclie Politik zu treiben, aber wir müssen uns so orientieren, daß England jeden Tag empfindet, daß der Verlust der deutschen Freundschaft nicht so leicht zu nehmen ist und daß das deutsche Volk etwas zu gebe» hat und viel versagen kann. Für eine solche Neuorientierung sind die Zeitverhält nisse sehr günstig. Die Balkan frage tritt mehr in den Hintergrund, so daß Wien und Petersburg sich leichter verständigen können; Deutschland wird dadurch freier, ohne daß es durch Bündnistreue russischen Haß erntet. Der russische Vormarsch auf Konstantinopel wird für lange Zeit ein schöner Traum bleiben. Je mehr Italien sich als unzu verlässiger Kamerad zwischen Dreibund und Zweibund herumtreibt, um so eher sollten wir über Wien nach Bukarest und Konstantinopcl ein festes Bündnis schmieden. Der Weg hierfür ist frei: Kiderlen kennt gerade die Verhältnisse im Orient sehr genau und es muß ihm möglich sein, diesen Vierbund zur Erhaltung des Statusquo zu schaffen. Was er im Ernstfälle für Aegypten und Indien bedeutet, brauchen wir nicht länger auszuführen. Wenn cs zutreffend ist, daß England und Frankreich dieser Tage ein Schutz- und Trutz- bündnis geschlossen haben, das über den Inhalt der fran- zösiscl)-russischen Abmachungen hinausgeht, so trifft für uns doppelt der Satz zu, daß „Allianzen gut sein können". Je mehr England das Schwergewicht in die Nordsee verlegen will, um so mehr müssen wir die Dinge im östlichen Mittel meer verfolgen. Der Besuch des türkischen Thronfolgers in Berlin kann sicherlich in dieser Richtung ausgenützt werden; in Konstantinopel sind die Aussichten günstig für ein solches Bündnis, das mit einem Schlage die Gesamtsituation ändert. Unser Verhältnis zu Rußland leidet nicht darunter: denn schließlich weiß man auch an der Newa, daß das goldene Horn widerstandsfähiger ist, als man annchme. Wenn vollends Deutschlands das russische Streben auf Ocffnilng der Dardanellen unterstützt, kann Frankreich seinen Bundesgenossen nicht in den Rücken fallen und kein Machtwort aus London könnte eine Konzession, die Kon- stantmopel gab, ungeschehen machen. Wenn Frankreich und England allein über Aegypten und Marokko verfügen, kann die Türkei-sich auch mit Rußland verständigen, besonders, wenn Wien und Berlin den ehrlichen Makler bilden. ES liegt im europäischen' Interesse, daß der Osten Ruhe und Geschlossenheit erhält. Rußlands Tendenz kann in Per sien, Afghanistan und Tibet ein reiches Feld eröffnet wer den und mir könnten nicht finden, daß durch ein zielbe wußtes Verschieben der russischen Macht in Tibet oder Afghanistan ein deutsches Interesse gefährdet erscheinen könnte. Olauz im Gegenteil, Deutschland kann in Mittel asien Rußland so viel bieten, daß es auf Jahre hinaus be schäftigt ist und daß England schließlich noch einige andere Sorgen erhält als die Nordsee. Wir müssen nur konse quent durch ein volles Jahrzehnt hindurch die Politik der Ruhe und .Kräftigung des Balkan und der russischen Expansion nach Osten unterstützen. Auch die Vergangen heit zeigt uns, daß Rußland im allgemeinen treu zu uns stand und in schweren Augenblicken uns nicht bedrohte. Man wird daher gut tun, den Faden, den Bismarck spann, wieder aufzunehmen. aber nicht nur in einer Laune, son dern reiflich überlegt und erwogen. Tie „englischen Vettern" mögen dann noch so nervös werden; eine konse quente aktive deutsche Auslandspolitik ist mehr wert als eine deutsche Flotte; sie kann internationale Gcfechtswerte schaffen, die höher als 500 000 Tonnen Schiffsgehalt einzu setzen sind, und sie kann uns den Frieden erhalten, den wir wünschen. Das weltpolitische Risiko muß geschickt verteilt werden. Von unserem Heere fordern wir vollendete Schlag fertigkeit; unsere Marine bietet den Kampf um die deutsche Ehre in voller Todesverachtung; die Reichssinauzen sind in bester Gesundung und unterstütze» die derzeitige Aktion. Da wäre es einfach unerträglich, wenn nicht die Diplo matie, auf diese Machtfaktoren gestützt, das vollenden und vollbringen könnte, was die Leistungsfähigkeit des deutsclM Volkes im Innern angebahnt hat. Liebe zum deutschen Volke braucht sie nicht zu schaffen; aber als begehrenswerte Bundesgenossen, die anderen etwas geben können, muß sie uns auf dem Weltmärkte erscheinen lassen. Das ist eine große Aufgabe des Auswärtigen Amtes in der nahen und nächsten Zukunft. Der italienisch-türkische Krieg. Dresden, den 10 Oktober 1911. Die Türkei hat die Mobilmachung der drei mazedo nischen Armeekorps ungeordnet und sie mit Beschleunigung durchgeführt. Die Negierungskreise in Sofia betrachten dies mit Rücksicht auf die bisherige korrekte Haltung Bulgariens und die an sie abgegebenen offiziellen Friedensversichc- rungen als eine Herausforderung Bulgariens und sind zu Gegenmaßnahme» entschlossen. Die Negierung hat gegen die türkische Mobilmachung bei den Großmächten und bei der Pforte energischen Protest eingelegt und betont, daß diese den Frieden auf dem Balkan ernstlich gefährde. In der Budapester Munitionsfabrik Manfred Weiß, der größten Ungarns, arbeiten seit acht Tagen 6000 Ar beiter infolge außergewöhnlicher militärischer Bestellungen in doppelter Schicht Tag und Nacht. In hiesigen diplomatischen Kreisen glaubt man an eine baldige Beendigung des türkisch-italienischen Krieges auf Grund der vollzogenen Tatsache der Besetzung von Tripolis. Die Bedingungen seien: Dauernde italienische Besetzung, Suzeränität des Sultans, Zahlung einer Geldentschädigung durch Italien. Es tritt dabei das Bestreben zutage, Deutschland die Vermittlerrolle zuzuschiebcn. Auf Ersuchen der italienischen Negierung hat Oester reich-Ungarn den Schutz der italienischen Staatsangehörigen in denjenigen Teilen der Türkei übernommen, wo sich kein deutsches, wohl aber ein österreichisch-ungarisches Konsulat befindet. Es handelt sich hauptsächlich um Albanien und Mazedonien, wo Oesterreich-Ungar» in Skntari, Janiua, Turabo, Valona, Uesküb und Prizrent Kousulate besitzt. UebrigenZ nehmen auf Grund des deutsch-österreichischen Handelsvertrages an den Orten, wo keine deutschen Konsu late bestehen, die österreichischen Konsulate auch die Inter essen der deutschen Staatsangehörigen wahr. Konstantinopeler Blätter melden: Tie türkische Gar nison von Tripolis zog sich unter dem Oberst Ncschet nach Vehare und Kirckarisch zurück, wo sie eine Verteidigungs stellung einuahm. Eine italienische Kompanie versuchte bis Vehare vorzurücken, mußte aber infolge des Wider standes der türkischen Truppen sich zurückziehen. Die ein heimische Bevölkerung nahm an dem Kampfe teil. Die Zirkulardepesche der Türkei ist am Sonntagabend von dem türkischen Botschafter in Berlin Osman Nisami Pascha dem Unterstaatssekretär Zimmermanu überreicht worden. In der Note fragt die Türkei, ob die fremden Mächte angesichts der erfolgten militärischen Besetzung von Tripolis den Zeitpunkt für Unterhandlungen gekommen halten und auf welcher Grundlage eine Vermittlung auf- genommen werden würde. Wie wir hören, sind unverzüglich Besprechungen zwischen den Kabinetten eingeleitet worden, die eine Vorbereitung zu Vermittlungsvorschlägen im Auge haben. Wegen der zahlreicl>en Einberufungen von in Deutschland lebenden italienischen Arbeitern zum Heeres dienste ist nach hiesigen Privattelegrammen der Weiterbau der Ahrtalbahn oberhalb Dümpelfeld vorläufig unter brochen worden. Fast sämtliche italienischen Erdarbeiter sind in die Heimat zurückbeordcrt worden. Das Abendblatt des „Pcster Lloyd" meldet neue Operationen italienischer Kriegsschiffe an der albanischen Küste in nächster Nähe Dalmatiens. Italienische Kreuzer beobachten in der Adria alle Handelsschiffe und beschlag nahmen alle für die Gegend von Prevesa bestimmten Güter. Diese von Italien provozierten Vorgänge an der albanischen Küste werden in Wien sehr ernst beurteilt. Sie machen OesterreichUngarns militärische Vorbereitungen im Süd- osten der Monarchie erklärlich. Wie dem Renterschen Bureau aus Malta mitgeteilt wird, ist der frühere Bürgermeister von Tripolis, Hassun Pascha, von den Italienern zum Vizegonverneur von Tri polis ernanut worden. Evangelischer Bund. 6pe. Dortmund, drn 7. Lktrter IVII. Ter Lobpreisung des Evangelischen Bundes galt di? öffentliche Versammlung, die heute abend unter Leitung des Justizrates Pork in den „Fredenbanmsälen" stattfand. AIS erster Redner sprach Professor Tr. v. Wenckstern (Breslau) über „Der Protestantismus nnd die deutschen Volksschichten". Dann sprach Stadtpfarrer Fickenscher- Nürnberq über „Protestantismus und die deutschen Volks stämme". Nach ihm war nach dem anfänglichen Sieges- zuge der Reformation der Partikularismus das Verhäng nis des Protestantismus: Rom, jesuitisch geschult, hat das klug benutzt zur Rückeroberung. Bayern und Baden, Ober pfalz und Böhmen, Köln und Bamberg und viele andere haben es erlebt, wie der spanische Stiefel der Gegenrefor mation die jungen Halme evangelischen Glaubens nieder trat. Erst mußte ein Bismarck kommen, damit die Stämme durch fühlbare Opfer zusammenwuchsen. Der Evangelische Bund, der alle Stämme unseres Vaterlandes umfaßt und seine Freunde aus allen Kirchengemeinschaften sammelt, hat bewiesen, daß der Protestantismus eine einigende Kraft besitzt, und daß die Zentrumstheorie von der „Selbstaus lösung des Protestantismus" eine große Torheit ist. » » » Opo. Dortmund, d?n 8. Oktober 1911. Im „Neinholdushos" fand heute die Hauptversamm lung statt. Ter stellvertretende Vorsitzende Superintendent I). W ü ch t l e r - Halle a. S. eröffnet die Versammlung. Pastor Sch r a p p - Dortmund überreicht dem Bunde eine in Westfalen gesammelte Ehrengabe von 31 000 Mark, die als Grundstock für eine Dr.-Friedrich-Christian-Meyer-Stif- tuug dienen soll. Dann spricht Amtsgcrichtsrat Dr. Loh ma n u - Weilburg über „Die Vorbedingung eines wahren konfessionellen Friedens". Redner führt etwa aus: Deutsch land leidet unter der konfessionellen Spaltung. So alt das Nebel, so alt sind auch die Bemühungen, es zu heilen. Aber trotz aller Mühen und Sorgen edler Männer schwindet das lockende Ziel in immer weitere Ferne, klingen die Zurufe hüben und drüben rauher und drohender. Wodurch wird am nachhaltigsten und am empfindlichsten der Friede unter den Konfessionen gestört? Nicht durch einzelne Privatper sonen. sondern durch die, die an verantwortlicher Stelle in der Kirche stehen, und zwar um so mehr, je höher der Frie densstörer steht. Prüfen wir jetzt zunächst einmal, welche Vorschläge zur Herstellung des konfessionellen Friedens von hochstehender katholischer Seite gemacht worden sind. Da stoßen wir auf die Schriften des Bischofs Martin von Pa derborn und Wilhelm Emanuet v. Ketteler. Mit dem Erst genannten können wir überhaupt nicht diskutieren, denn er verlangt von uns einfach bußfertige Rückkehr der Pro testanten in den Schoß der katholischen Kirche. Aber auch das Rezept, das v. Ketteler gibt, können wir nicht akzep tieren. Er, der Vater des Schlagwortes von der bürger lichen und dogmatischen Toleranz, spricht zwar immer von der Gleichberechtigung der Konfessionen, aber nur bezüglich derjenigen Staaten, in denen die Gleichberechtigung der Konfessionen bereits festgelegt ist. Aber für solche Staaten, in denen die katholische Kirche bisher alleinherrschende Staatsreligion war, lehnt er die Ncchtsparität ab. Die katholische Kirche verlangt zwar für sich überall die volle Wahrung der Nechtsparität, für andere Kulte aber lehnt sie sie grundsätzlich ab. Das als Grundlage für einen reli giösen Frieden ausgeben, heißt einen Tiefstand evangeli schen Ehrgefühls und Selbstbewußtseins bei uns voraus- setzen, das wir als beleidigende Zumutung ablehnen müsscu. (Lebhafter Beifall.) Was wollen demgegenüber gelegent liche Friedensworte von Gelehrten und Bischöfen besagen? Es sind liebenswürdige Inkonsequenzen, die zu nichts ver pflichten und nötigenfalls durch die meisterhaft geübte Interpretation in ihrem Wert auf Null reduziert werden können. Schon hören wir den Ruf: „Braunschweig und Mecklenburg — diese durch ihre Katholikenquälerei berüch tigten StaatenI" Wir wollen nichts beschönigen, die Rechts lage der katholischen Kirche in den genannten Ländern war rückständig: aber als erst durch stärkere katholische Ein wanderung die Härten zutage traten, da hat das evangelische Deutschland fast einmütig die Aenderung dieser Gesetze ebenso energisch verlangt, wie unsere katholischen Mitbür. ger. Das ist der Unterschied, wir gestehen ein solches Un> recht ein und bemühen uns, es gutzumackxm. Rom hat einen intoleranten Grundsatz, eine intolerante Tat noch nie aufgegeben oder zurückgenommen. Es ist eine Unwahrheit, daß der Evangelische Bund es sei, der fortgesetzt den kon-