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UNd Waldenburger Anzeiger Amtsblatt für den Stadtrath zu Waldenburg 1881 Sonntag, den 16. Zannar Erscheint täglich mit Ausnahme der Tage nach Sonn- und Festtagen. Beiträge sind erwünscht und werden eventuell honorirt. Annahme von Inseraten für die nächster scheinende Nummer bis Mittags 12 Uhr des vorhergehenden Tages. Der Abonnementspreis beträgt vierteljähr lich 1 Mk. 50 Pf. Alle Postanstalten, die Expedition und dis Colporteure dieses Blattes nehmen Be stellungen an. Einzelne Nummern 8 Pf. Inserate pro Zeile 10 Pf., unter Eingesandt 20 Pf. "Waldenburg, 15. Januar 1881. i Der Kern der Judenfrage. Fortwährend liest man jetzt in den Zeitungen von antisemitischen und judenfreundlichen Versammlungen in Berlin, die immer von einer großen Menschen menge besucht sind. Wäre die Judenfrage nur eine Racen- oder eine Neligionsfrage, sicherlich, die Be wegung wäre nicht aus der innersten Seele des Volkes hervorgekommen mit einer Naturnothwendig keit, wie dies in Berlin thatsächlich geschehen ist. Was die antisemitische Bewegung hervorgerufen hat, ist auf socialpolitischem Gebiete zu suchen. Das werkthätige und schaffende deutsche Volk ist empört über die Auflösung aller sittlichen, staatlichen und geschichtlichen Ordnungen zum ausschließlichen Vor theile des nur nach Prozentchen rechnenden Handels kapitals, welches die deutsche Arbeit in scine Fesseln genommen und in vielen Gebieten bereits ausge- beulet hat. Die angeblich liberale Theorie des Gehenlassens, des Freihandels, des bedingungslosen Gleichmachens hat alle festen Punkle in unserem gewerblichen und socialen Leben aufgelöst. Nicht übel ist ein Bild des „Reichsboten"; der selbe meint: in den allgemeinen Urbrei des gleichen Slaatsbürgerthums ist alles eingebrockt, da schwimmt Meister, Geselle und Lehrling wild durcheinander — aber wie die Fettaugen auf der Suppe schwimmt daraus der kapitalreiche Händler, vor welchem die Gewerbefreiheit alle Schranken niedergerissen und alle Thüren geöffnet hat. In den gewerblichen und socialen Verhältnissen, sagen im Anschlusse an das Obige die „Dr. N.", ist die gemeinschndliche Theorie der unbarmherzigen Kapitalübermacht bisher am siegreichsten gewesen; 1 er sind auch ihre Früchte am schnellsten herange- '"st und deshalb sind auch hier zuerst Tausenden Augen geöffnet worden. Fahren wir so fort, geblendet von Schwindelphrasen, das wirthschaftliche und sittlich-religiöse Gebiet dem maßlos begünstigten Handelskapital zu überlassen, so dürfen wir uns über unser Endschicksal nicht beklagen. Die Bahn- bereilung sgr das moderne Faustrecht der schranken losen Kapitalhcrrschaft, die ausschließliche Begünsti gung der Schuldknechtschaft — das ist es, was sich das Volk nicht länger gefallen lassen will. Und wenn es die Augen aufschlägt, so begegnet fein Blick unter den es bedrängenden und ausnutzenden Wortführern dieser Theorie, unter den am meisten von derselben Profilirenden Niemandem so häufig und in so bevorzugter Stellung als dem handel treibenden Judenihume. Kein Gebiet der Volks- wirlhschaft, der Kunst, der Wissenschaft ist davon frei. Wohl giebt cs auch deutsche Ausbeuter gerade genug. Aber derartige Deutsche sind im Grunde nur die Beiläufer. Ihnen legt man mit das Hand werk, wenn man im Allgemeinen dem ausbeutenden Kapitalismus wieder vernünftige Schranken zieht. Der Sinn für die Realitäten des Volkslebens ist in weiten Kreisen wieder aufgegangen. Man erkennt, daß das Volksleben auf sittlichen Grundlagen zu ruhen hat und daß auch die edelsten Dinge sich in Verderben verwandeln, wenn sie von diesen Grund lagen hinweg gehoben werden auf der einen kahlen, inhaltlosen, rein formalen Theorie von der allge meinen Gleichheit. Wenn wir alle Religion, sociale und wirthschaftliche Institutionen, alle Sitten und Nechtsbegriffe und die christliche Weltanschauung verpulvern, bleibt schließlich nichts übrig, als der kahle, gerupfte „Staatsbürger", und es giebt weder Christ noch Jude, weder Meister noch Geselle, weder Obrigkeit noch Unterthan, zondern es wird die Glasglocke der endlosen Gleich heit über Alles gestülpt, und es ist die Hand des allmächtigen Großkapitalisten, welche die Glocke hält und aufhebt und zudeckt, je nachdem es ihm beliebt. Daß hat schließlich das Volk herausgefunden, daß es wesentlich das handeltreibende Judenthum ist, das sich zu dieser Allmacht emporgaukelt, und daß es dies nicht länger zugeben will, kann man dem Volke selbst nicht zum Vorwurf machen. Die studentische Jugend tritt frisch und vo-urtheilslos diesen Zu ständen entgegen. Sie läßt sich nicht mehr von dem schnöden Mißbrauch des schönen Wortes „Frei heit" bethören, welches man allem, was man durch setzen wollte, anhing, um das Volk kirre zu machen. Redete man doch nicht blos von Gewerbefreiheit, obwohl diese Freiheit gar nicht den Gewerbetreiben den, sondern den Geldlcuten zu statten kam, son dern man kettete das edle Wort so^ar an den schmutzigen Wucher, an die Schnapsschenke und redete von Wucher- und Schankfreiheit! "Waldenburg, 15. Januar 1881. Politische Rundschau. Deutsches Reich. Der „Neichsanz." veröffentlicht die Namen der 75 Mitglieder des Volkswirthschaftsraths; darunter befinden sich: Rittergutsbesitzer, Gutsbesitzer, Hand werksmeister, Amtsräthc, Fabrikbesitzer, Kaufleute, Handmerksgehilfen und Fabrikarbeiter. Im preußischen Abgeordnetenhause ward am 14. d. die Berathung des Zuständigkeitsgesetzes fort- gesetzt. Der Antrag Windthorst auf Straflosigkeit des Messelesens und des Sakramentespendens ist dem preußischen Abgeordnetenhause zugegangen. Er wird von allen Mitgliedern des Centrums und der Polen unterstützt. Die „Nordd. Allg. Ztg." kündigt die Vorlage eines Erlasses über Versicherung der Arbeiter gegen Unfälle für die bevorstehende Session des Reichstages an und bemerkt: Durch denselben wird der Versuch gemacht, durch Einführung eines allge meinen Versicherungszwanges den Arbeiter gegen die Folgen nicht bloß der haftpflichtigen, sondern aller Unfälle sicher zu stellen, ohne daß ihm selbst ein pecuniäres Opfer zugemuthet wird. Das Gesetz ist ei» erster Schritt auf der Bahn einer gesunden staatssocialistischen Politik. Es entspricht den Ge danken, welchen der Reichskanzler zu wiederholten Malen im Reichstage Ausdruck gegeben. Das Re gierungs-Blatt erinnert weiter an Aeußerungen des Reichskanzlers von der Nothwendigkeit positiver Maßregeln für die Arbeiter und führt einige Stellen aus Reden an, die der Reichskanzler bei der Be- ralhung des Socialistengesetzes gehalten hat. Dan- kenswerlher märe es, wenn das Blatt die Grund- züge des Entwurfes mittheilte, über welchen die wiedersprechendsten Mittheilungen umlaufen. Nach den obigen Andeutungun handelt es sich um eine Zwangsversicheiung, welche den Arbeitern keine Lasten auferlegt. Wie die Prämien aber aufge bracht und unter die Interessenten vertheilt werden sollen, bleibt immer noch ein Geheimniß. Zur Schleuderconcurrenz in unserem Geschäfts loben bemerkt die „Staalsb.-Ztg." sehr zutreffend: Das Concursgesetz bestraft allerdings das „Ver schleudern" von Waaren, aber doch immer nur für den Fall, daß der Gemeinschuldner diese Verschleu derung begangen hat, um das dadurch zusammen gescharrte Geld seinen Gläubigern zu entziehen. Kann ihm dies nicht nachgewiesen werden, oder hat er das Glück, mit einem Accorde durchzukommen, so ist es ganz gleichgiltig, ob er die Handwerker der einschlagenden Branche durch seine Schleuder preise benachtheiligt hat, oder nicht. Ja noch mehr, er betreibt im letzteren Falle sein Geschäft weiter, um seine Concurrentcn abermals durch die unsin nigsten Schleuderpreise zu schädigen. Es kostet ihm dies ja nicht sein Geld, sondern das Geld derje nigen, die ihm im guten Vertrauen Geld und Waare zur Verfügung stellen. Oder ist es nicht so? Man blicke doch ein wenig um sich, und man wird finden, daß das Concursmachen heute für sehr viele Geschäftsleute kaum mehr anders, als ein „Geschäfi" betrachtet wird. Die gute alte Zeit, in welcher der Kaufmann sehr oft den Tod dem Bankerutt vorzog, ist längst vorüber. Heute werden durch die unsinnigsten Schleuderverkäufe ganze Handwerkerkategorien ruinirt, ohne daß auch nur ein Hahn danach kräht. Wir reden sehr gern der Gewerbefreiheit das Wort und werden auch weiter für dieselbe plaidiren, soll sie aber dem Volke wirklich zum Segen gereichen, so müssen derselben auch strenge Gesetze gegenüberstehen, die es ge wissenlosen Leuten unmöglich machen, diese Freiheit zum Schaden ihrer Mitbürger auszubeuten. Wir meinen, daß der Hauptzweck der freien Vereinigun gen der Handwerker darin bestehen sollte, der Schleuderconcurrenz nach allen Richtungen hin ein Enoe zu machen, um alle krankhaften Erscheinungen auf diesem Gebiete auszumerzen und wiederum eine gesunde Basis im Geschäftsleben zu schaffen. In Berlin wird gegenwärtig zur Gründung einer größeren antisemitischen Zeitung gesammelt; dec Besitzer eines der größeren Berliner Confections- und Manufacturwaarengeschäfts (Hertzog?) hat 50,000 Mark dafür gezeichnet. An Geld und Credit fehlt es den Sezessioni- sten nicht; denn um eine eigene Zeitung zu besitzen, zahlten sie für die „Tribüne" in Berlin 300,000 Mark. Die Zeitung erscheint in größerem Format und täglich zweimal. Geschäftlicher Leiter bleibt der , seitherige Eigenthümer Herr Briegl. j In der judenfreundlichen Presse wird die ganze ! antisemitische Bewegung natürlich als eine tief be dauerliche, als eine Schmach für das deutsche Volk, als eiu Parieimanvöer hinzustellen versucht. In Broschüren sucht man die gegen die Juden erhobe nen Behauptungen zu widerlegen. So sagt in einer Schrift von Or. S. Neumann: „Die Fabel von der jüdischen Masseneinwanderung" der Verfasser, daß der jüdischen Einwanderung in Preußen eine noch stärkere jüdische Auswanderung gegenübersteht. Nach ihm sind von 1843—1871 aus Preußen 36,702 Juden mehr ausgewandert als eingewanderl. (Aber wie steht es damit von 1871 an? Grade von dieser Zeit an dürfte eine starke jüdische Einwanderung stattgefunden haben.) „Bis hierhin," so schreibt Hr. v. Treitschke, der sich gegen diese Schrift wendet, „ist dem Verfasser sein Beweis gelungen. Wie groß war aber die absolute Zahl der jüdischen Ein- und Auswanderer? Auf diese Frage weiß Herr Neumann nur durch Vermuthung zu antworten, da die amtliche Statistik das Glaubensbekenntniß der Ein- und Auswanderer nicht mehr angiebt. Und doch kommt auf die Frage schlechthin alles an; denn die socialen Wirkungen einer starken fremdländischen Einwanderung werden durch das Wiederabströmen der Zugezogenen nicht wieder aufgehoben; es liegt vielmehr auf flacher Hand, daß diejenigen Elemente des Judenthums, welche Deutschland nach Verlauf einiger Jahre wie der verlassen, am wenigsten geneigt sein werden, sich zu germanisiren. Meines Wissens hat bisher nur eine deutsche Stadt, Leipzig, diese verwickelten so cialen Verhältnisse einer genauen statistischen Be-