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MOmsserÄgeM Nationale Tageszeitung für die Landwirtschaft, für Bürgertum, Beamte, Angestellte u. Arbeiter. Sonnabend, den 29. März 1930 F«'»spr°ch-r: Am, Wilsdruff Nr. « «»L?« TagedlattE erschein: an allen Werktagen nachmittags 5 Uhr. Bezugspreis : Bei Abdolung in r ""d de" Ausgabestellen 2 SiM. im Monat, der Zustellung durch die Boten 2,30 NM., bei Postdestellung - ^ZÜgUch Abtrag. gebühr. Lin-einummern /.«LW-W Wochenblatt für Wilsdruff u. Umgegend d^??Ä^^Egegen. Im Falle höherer Gewalt, Krieg oder sonstiger Betriebsstörungen besteht kein Anspruch auf Lieferung ^wng oder Kürzung d» Brzug-P-«I.S. - «ü-üs-ndun, Schris-ftückr °rs°l°. nur. wenn P°rw brU.rg.. Das Wilsdruffer Tageblatt ist das zur Veröffentlichung der amtlichen Bekanntmachungen der Amtshanplmannschaft Meißen, des Amts- genchts und des Stadtrats zu Wilsdruff, des Forstrentamts Tharandt und des Finanzamts Noffen behördlicherseits bestimmte Blatt Nr. 75 — 88. Jahrgang Telcgr.-Adr.: .Amtsblatt" Wilsdruff-Dresden Postscheck: Dresden 2640 Verworrene Wege. b. ist also wieder einmal der übliche Scherben- de-r — und mit wenig Aufregung wird die Masse Kabin, He" Volkes die Kunde vernehmen, daß das Lei^" Müller zu Grabe getragen worden ist. In den stur? also den Kommentaren zum Regierungs- essi^w"d man sich in den sogenannten „politisch rnter- w - - Kreisen" gegenseitig die Schuld dafür zuschieben, bi-^ Das kann man um so leichter, als wirklich an einem einzigen Tage Vorschläge angenom- angezweifelt, kritisiert, abgelehnt, zum mindesten . ,der abgeändert wurden. Die Zeitungen kommen mit er Schnelligkeit des Hin und Her gar nicht mehr mit, wen die berühmte „politisch-parlamentarische Lage" all- Mündlich — anders a u s s a h. Seit vierzehn Tagen balancierte man im Reichstag am Rande der Krise ent- Wö und der Beobachter wußte nie, ob nicht im nächsten Augenblick das Kabinett in diesen Abgrund stürzen würde, stürzt es — stürzt es nicht: es war ein Spiel, wie es pichen im „Faust" — bloß aus anderer Veranlassung — sreibt. Man sah nur die Tatsache des Schwankens hin ter und herüber, aber über die Richtigkeit der Gründe, dafür angegeben wurden, war selten unbedingt Rich- Aes zu erfahren. Und dies alles, obwohl doch der Vliucrgrund, auf dem sich das alles abspiette, von einer »verfluchten Ernsthaftigkeit" ist. Und im Volke hat man «ne sehr deutliche Empfindung für das — um ein zurück haltendes Wort zu wählen — Unerfreuliche auch wieder dieses Geschehens. * Man muß sich schon geistig erheblich anstrengen, um m verstehen, wie es schließlich nun zum Rücktritt des Kabinetts Müller kam. Nach vielwöchigen Auseinander- Mugen war man innerhalb der Regierung zu einem Deckungsprogramm für das Defizit im Haus halt für 1929 und 1930 gekommen, auch über die Steuer- ^nkungen des darauffolgenden Jahres und über die Art, ^ie das Reich sich zu den finanziellen Nöten der Arbeits- losenversichcrung verhalten würde. Im Reichsrat war dieses Programm genehmigt worden, nur — die eine ^eichstagsfraktion war nicht mit diesem, die andere nicht E jenem Punkte dieses Programms einverstanden. Die Ersuche aber, sich innerhalb der Regierungskoalition selbst zu einem Gegenprogramm zu einigen, blieben jrotz unzähliger Kompromißvorschlüge erfolglos, das un bedingte Nein! mancher Parteien hatte dann schließlich Rückwirkungen aus das Verhalten der Parteivertreter im Kabinett, — und so kam es nicht einmal zu der mehrfach Wgedeuteten „offenen Feldschlacht" ini Parlament, näm- uch darum, ob die Negierung nun im Reichstag ihr Pro gramm durchsetzen könnte. Statt dessen resignierte sie, da «n letzter oder allerletzter Kompromißvorschlag über die Regelung der Arbeitslosenversicherung sowohl bei der Sozialdemokratie wie — im Kabinett — beim Neichs- grbeitsministcr auf entschiedenen Widerstand stieß, von Reser Seite auf die — Regierungsvorlage zurück- gegriffen und damit eine politisch nicht mehr haltbare Eage geschaffen wurde, über allem aber steht — wenig es äußerlich! — ein: „Beinahe". Beinahe eine Eini gung im Steuersenkungsprogramm, beinahe eine solche <ber die Arbeitslosenversicherungsfrage, beinahe auch R»er das eigentliche Deckungsprogramm für 1930, — aber -den immer nur „beinahe". * Aber man sollte sich nicht in die vielverschlungenen und dunklen Pfade parlamentarischer Taktik verlieren; Rel interessanter sind die viel einfacheren Linien der Strategie. Einen Augenblick des Sich-Erinnerns: das Zentrum verlangte, daß Young-Plan und Regelung der Finanzen — die eine beträchtliche Steuererhöhung bringen sollte — verpflichtungsgemäß und einheitlich von den Parteien der Großen Koalition erledigt werden Mien. Hiergegen hat sich von Anfang an die Sozial demokratie lauter oder leiser gesträubt, sich aber doch nicht Rrekt ablehnend verhalten. Als weiteres Druckmittel auchte die Aussicht auf, daß bei einem Versagen der Par ken der Artikel 48 der Reichsverfassung in Nnktion gesetzt würde. Der Noung-Plan kam zur Be- Mußfassung, auch das Zentrum stimmte dafür, obwohl von ihm gewünschte, die Koalitionsparteien bindende , ^vigung auf ein zum mindesten die Grundlinien fest igendes Finanzprogramm nicht erfolgt war. Auf die "nannten tiefgehenden Gegensätze zwischen Sozialdemo- /«tie und Deutscher Volkspartei braucht nicht mehr ein- "^vngen zu werden, die bisherize außenpolitische O^ressengemeinschaft" — der Young-Plan — war er- i°igt und so scheiterten die Versuche der beiden Mittel- parteien in der Koalition, das ursprüngliche Aktions- vrogramm bis zum Erfolg durchzuführen. Tatsache ist, «aß es vollkommen in der Luft schwebt, welche Parteien nun eigentlich die Regelung der brennend gewordenen ttmanzfragen in die Hand nehmen werden. Man fürchtet stch vor — Brandblasen! Verworren, kaleidoskopartig wechselnd war die bisherige Entwicklung — und nicht viel anders ist's mit der Frage bestellt, was geschehen und wie -s eigentlich nun weitergehen soll. » Fördert die Ortspreffe » Die VkOMWW Dr. VrmiW Adg. Trcviranus Abg. Schiele gen Unterredung, die Dr. Brüning mit dem deutschnationalen Ab geordneten Schiele kurz nach 2» Uhr hatte. Schiele hat die Ueber- ncühme des Reichsernährungsministeriums angenommen unter der Voraussetzung, das; ihm die Möglichkeit zu sachlicher Arbeit ge geben wird. Er könne allerdings nur in einem Kabinett arbeiten, das die Bedeutung des deutschen Ostens in vollem Umfange er kenne und anerkenne. Wie die Telegraphenunion weiter erfährt, ist dem Volksparteilichen Parteiführer Scholz von Brüning die Vizckanzlerschast angeboten worden. Scholz hat, wie verlautet, zugesagt unter der Bedingung, daß sowohl Curtius als auch Mol denhauer im Kabinett verbleiben. In diesem Zusammenhang ist für Sonnabend vormittag eine Besprechung Brünings mit den beiden bisherigen volrsparteilichen Ministern vorgesehen. Für den Fall, daß der Abg. Schiele das Ernährungsminifterium erhält, ist dem Abgeordneten der Wirtschastspartei, Bredt, das Justizmini sterium zugesagt worden. Der bisherige Reichsverkehrsminister Siegerwald soll das ihm angebotene Arbeitsministerium abgelehnt haben. Die Entscheidung auf Sonnabeud vertagt Berlin, 28. März. Zu der auf Sonnabend vertagten Ent scheidung der Kabinettsbildung wird noch bekannt, daß Landbund- sührer Schiele neben den bereits gemeldeten Forderungen für seinen Eintritt in die Regierung eine Reihe von Bedingungen ge stellt hat, die nicht nur auf dem Gebiete der Landwirtschastshilfe liegen, sondern auch, wie man annimmt, das Polenabkommen, den deutsch-polnischen Handelsvertrag, kurz die Politik des Reichs außenministers Dr. Curtius gegenüber Polen betreffen. Alle diese Dinge sollen in der Besprechung, die Brüning für Sonnabend mit Schiele und Curtius anberaumt hat, behandelt werden. Die be dingungsweise Annahme des Ernährungsministeriums durch den deutschnationaien Abgeordneten und Landbundsührer Schiele ist, wie aus deutschnativnalen Kreisen verlautet, ein Schritt, der die Deutschnattvnale Fraktion nicht bindet. Die Fraktion hat am Frei tag abend zu der Angelegenheit noch nicht Stellung genommen. Auch für die anderen Ministerien steht die endgültige Besetzung noch nicht fest. Es scheint, daß die Minister Dr. Wirth, Groener und Schätz! auch im neuen Kabinett verbleiben. Für das Innen ministerium wird neuerdings der bisherige Ernährungsminister Dietrich genannt. Uebrigens soll der bisherige Verkehrsminister Stegerwald das Arbeitsministerium entgegen den bisherigen Mel dungen noch nicht endgültig abgelehnt, sondern sich seine Entschei dung bis zur endgültigen Zusammensetzung des Kabinetts Vorbe halten haben. Für das Wirtschaflsmimsterium wird der vvlkspar- teiliche Abgeordnete v. Raumer genannt. Falls Dr. Curtius auch im neuen Kabinett Außenminister bleiben sollte, würde das Ver lehrsministerium voraussichtlich der christlich-nationalen Arbeits gemeinschaft zufallen. Reichsregiemng der Mitte. Zentrumsführer Dr. Brüning beauftragt. Reichspräsident von Hindenburg hat den Wunsch die durch die Demission des Kabinetts Müller entstandene Regierungskrise so schnell wie möglich zu beenden. Der Reichspräsident empfing am Freitag den Reichstaqsab- geordneten Dr. Brüning und erteilte ihm den Auftrag der Reichsregierung; hierbei brachte der Reichspräsident zum Ausdruck, daß es ihm angesichts der Schwierigkeiten der parlamentarischen Lage als nicht zweckmäßig erscheine, die künftige Reichsregierung auf einer koalitionsmätzigen Bindung aufzubaucn. Dr. Brü ning hat den ihm in dieser Form erteilten Auftrag an genommen. Außerdem empfing der Reichspräsident den Reichstagspräsidcnten Löbe zu einer Besprechung der durch den Gesamtrücktritt der Reichsregierung ent standenen politischen Lage. Dr. Brüning hat sofort nach der Beauftragung durch den Reichspräsidenten die nötigen Schritte zur Regie rungsbildung unternommen. Er hatte mit zahlreichen Abgeordneten längere Besprechungen. Sein Ziel scheint zu sein, ein Kabinett der Mitte zusammenzubrin gen. Besondere Aufmerksamkeit erregte es, daß Dr. Brüning sich mit dem Führer des Neichslandbundes, Dr. Schiele, der der deutschnationalen Reichstagsfraktion angehört, sowie mit dem Abgeordneten Treviranus, der eine führende Rolle in der Volkskonservativen Ver einigung spielt, in Verbindung setzte. Wie es heißt, sollen beide Abgeordnete für einen Ministerposten gewonnen werden. Dr. Schiele soll das Reichsernährungsministe- rium erhalten, das er schon einmal längere Zeit geleitet hat. Selbstverständlich werden auch noch andere Namen für die kommenden neuen Minister genannt; es ist in dessen müßig, sie hier alle zu verzeichnen. Dr. Brüning ist entschlossen, sein Kabinett so schnell wie mög lich zusammenzubringen, so daß die Öffentlich keit bald Gelegenheit haben wird, die neue Reichsregie rung in Augenschein zu nehmen. Wie es heißt, soll der Reichspräsident Dr. Brüning weitgehende Vollmachten in Aussicht gestellt haben, falls sich ihm bei der Durchfüh rung seines Programms größere Schwierigkeiten in den Weg stellen sollten. Der neue Reichskanzler. Der vom Reichspräsidenten mit der Kabinettsbildung beauftragte Führer der Zentrumsfraktion des Reichs tages, Dr. Heinrich Brüning, ist am 26. November 1885 in Münster (Westfalen) geboren. Er besuchte die Universi täten München, Straßburg und Bonn, wo er Geschichte, Philosophie und Staatswissenschasten studierte. Im Jahre 1911 machte er das Staatsexamen für das höhere Lehr amt, 1915 das Doktorexamen In den Jahren 1911/13 unternahm er Studienreisen in England und in Frank reich. Am Kriege nahm er von 1915 bis 1918 teil. Dr. Brüning ist Inhaber des Eisernen Kreuzes 1. und 2. Klasse. 1919 trat er als Referent in das preußische Wohlfahrtsministerium ein. Seit 1921 ist er Geschäfts führer des Deutschen Gewerkschaftsbundes. In den Reichstag wurde er 1924 als Vertreter des 7. Wahl kreises (Breslau) gewählt. Dr. Brüning gilt in Reichs- tagskreisen als ein kluger Kopf, der es versteht, m ruhiger, vornehmer Art den Weg auch in schwierigsten Situationen zu weisen. Daß ihn auch seine Fraktion besonders schätzt, ersieht man am besten daraus, daß sie ihn, der noch ein junges Mitglied in ihren Reihen ist, mit der Führung der Fraktionsgeschäfte betraute. Noch alles in Flutz Berlin, 28. März. Dr. Brüning setzte am Freitag abend seine Verhandlungen über die Bildung der neuen Regierung fort. Die Besprechungen haben ihren Abschluß gesunden mit einer Das Kabinett Müller. Seit dem 9. November 1918 Hai das republikanisch ge wordene Deutschland 19 Regierungen gesehen und davon hat das jetzt zurückgetretene Kabinett Müller-Franken sich am längsten im Amt halten können. Während das erste Kabinett der „Großen Koalition" 1923 schon nach zwei Monaten ausein anderbrach, hat das zweite dieser Art etwa 21 Monate, also säst zwei Jahre über eine wenn auch bisweilen recht unsichere Mehrheit von der Deutschen Volkspartei bis zur Sozial demokratie verfügen dürfen. Allerdings auch unter manchem Personalwechsel auf den Ministersesseln, unt?' manchen Um bildungen, wobei der offizielle Zutritt des Zentrums schließ lich drei Minister dieser Partei — teilweise aus Kosten der Demokraten — in das Kabinett hineinbrachte. Einen Wechsel erzwangen auch der Tod Dr. Stresemanns und der Rücktritt Dr. Hilferdings, die durch Dr. Curtius bzw. Dr. Molden hauer ersetzt wurden. Am 27. März 1930, dem Tage der De mission, bestand die Regierung Müller aus vier Sozial demokraten, zwei Volksparteilern, ebensoviel Demokraten und vier Mitgliedern des Zentrums bzw. der Bayerischen Volks partet. Die Ergebnisse der Reichstagswahlen 1928 hatten die Schaffung der Großen Koalition ermöglicht, aber es dauerte viele Monate, ehe sich die hierfür in Frage kommenden Parteien auch offiziell dazu bekannten. Die latenten partei politischen Gegensätze stießen immer wieder durch, waren durch die parlamentarischen Verhältnisse in Preußen wesent lich beeinflußt und dadurch mutzte die innenpolitische Betäti gung des Kabinetts stets und ständig unter größter Zurück haltung und Schonung „berechtigter Eigentümlichkeiten" der hier zusammengefaßten Parteien erfolgen Mehr oder minder deutliche Krisen von bisweilen monatelanger Dauer waren die häufige Folge, - das eigentliche Band, das hier wirklich die oft Auseinanderstrebenden bis zur letzten Stunde zu sammenhielt, war die gemeinsame außenpolitische Linie. Vom Auftreten des Reichskanzlers im September 1928 in Genf bis zur Annahme des Young-Planes führte diese Linie und zwischen diesen beiden Punkten liegt die eigentliche Bedeutung des Kabinetts Müller. „ Innen-, Wirtschafts-, sozialpolitisch sind Entscheidungen von schwerwiegendem Einfluß und Folgenschwere nicht er folgt, — was von weiten Kreisen eben als die eigentliche Schwäche des Kabinetts Müller betrachtet wird. Es ist dabei oft nach stärkerer, energischerer Führung gerufen worden und sicherlich nicht ganz mit Unrecht. Aber andererseits ist Deutsch land ja nicht nur außen-, sondern auch Wirtschafts- lind sozial politisch durch stärkste Rücksichten auf das Ausland gefesselt. Und wird es bis auf weiteres bleiben.