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--- SächsischeStaatZzÄung Staatsan)eiger für den Zreistaat Sachsen ErscheintWerktagS nachmittags mit dem Datum des Erscheinungstage». Bezugspreis: Monatl.3M. (durch die Pvst 4M.). Einzelne Nrn. 15Pf. Fernsprecher: Geschäftsstelle Nr. 21285 — Schriftleitung Nr. 14574. Postscheckkonto Dresden Nr. 2486. — Stadtgirokonto Dresden Nr. 140. Ankündigungen: Die 32 mm breite Grundzeile oder deren Raum 30 Pf, die 66 mm breite Grundzeile oder deren Raum im amtlichen Teile 60 Pf., unter Ein- gesandt SO Pf. Ermäßigung auf Geschästsanzeigen, Familiennachrlchten u. Stellen gesuche. — Schluß der Annahme vormittags 10 Uhr. Zeitweise Nebenblätter: Landtags-Beilage, Ziehungslisten der Verwaltung der Staatsschulden und der Landc^kulturrentenbank, Jahresbericht und Rechnungsabschluß der Lärche».Brandversicherungsanstalt, Berkaufsliste von Holzpflanzen aus den StaatSjorstrevierea. verantwortlich für die Redaktion: Hauptschriftleiter Bernhard IolleS m Dresden. Nr. 74 Dresden, Donnerstag, 27. März 1924 Der Rücktritt des Kabinetts Poincarb. Tie Aera Poincarö. Die Höhe seines Triumphes erreichte Poincarä in der französischen Hämmer durch die blinde Gefolgschaft der übergroßen Mehrheit der Abgeordneten für das Ruhrabenteuer. Den überschwänglichen Hoff nungen der Pariser Regierung auf die mate riellen Erfolge der Pfändernahmc im Ruhrgebiet und in anderen Teilen Deutschlands i ahe der Besahungsgrenze folgte ober sehr bald der Katzenjammer über die finanziellen Lasten, die für Frankreich aus dem Ruhrunter- nehmen erwuchsen. Frankreich trieb mit vollen Segeln in die europäische Isolierung hinein. NuS der Ernüchterung, Ne sehr bald ein setzte, wuchsen unausgesetzt neue Gegner der rücksichtslosen Gewaltpolitik Po in- carßs. Auch die Abschwächung des fran zösischen Franken nnd die Notwendigkeit, sich zn seiner Wiederanfrichtung in fremde Finanzabhängigkeit z» begeben und die in den letzten Tagen für viele Unternehmungen katastrovhal wirkende rapide Kursstcigcnmg des französischen Franken taten das ihre. Tie Kammermehrheit Poincaräs schmolz von Abstimmung zu Abstimmung immer mehr dahin und es war beinahe malhcmmisch zu er rechnen, wann die letzten Neuen Mehrhei's- reserven Pomcaris erschöpft sein wmdem Briand, der Borgänger Poincares in dec Ministerpräsldentschaft, war der erste unter den französische» Staatsmännern, der die Notwendig- ke t einer Verständigungspolitik anerkannte. Mitten in dem Versuch, dieser Erkenntnis durch die provisorischen Abmachungen der Konferenz in Cannes Boden zu schaffen, wurde er von PoinrarL gestürzt. Die fa zinierrnde Red nergabe Poincarss und die advokatorischc Gerissen heit dieses mit allen Wassern der französischen Politik gewaschenen Mannes vermochte der Kammer ernsthaft einmreden, daß Briand wichtige sranzösise> e Fntcrcssen vernachlässigt habe. An Briands Stelle bildete Poincare das Ka binett der scharfen Tonart gegen die „böswilligen" deutschen Reparations versäumnisse. Poincarö hat zweimal das französische Kabi nett geführt nnd beide Male hatte er seinen blinden Deutschenhaß bekannt. Er war es, unter dessen ganz hcrvorragendem Einfluß svstc- matisch alle Zündstoffe in Petersburg und in Paris für den großen Welt- brand zusammen getragen wurden. Soweit in dem Weltkrieg persönliches Verschulden in Fragen kommt, ist, nach den Akwnpubikalionen, den Veröffentlichungen aus den russischen Geheimarchiven und den Fest- stellungcn im Prozeß Suchomlinoff, Poincarö der Hauptschuldige. Unter einer zweiten Minister- Präsidentschaft hat er seinem Vernichtungswillcn gegen Deutschland die Zügel aufs neue schießen lassen. Er hat dadurch nicht nur Deutschland ruiniert, sondern auch die Fäden der Welt wirtschaft in ihrer Gesamtheit in Berwir- rung gebracht. Er ist der Anstifter der Einkreisung des wehrlos gewordenen Deutschland. Selbst in die russisch-rumänischen Beziehungen einzugreisen und d e Spannung zwischen beiden Staaten zu verschärfen, ist ihm ein inneres Gebot gewesen. Unter diesen Umständen wäre es ein Glück für Europa, wenn Poincare von der politischen Bildfläche endgültig verschwinden würde. Selbst der Pariser „Temps" hat das in den letzten Tagen in gewissem Sinne zugeben müssen. Immerhin ist der Ausgang der französischen Kabinettskrise noch mehr als ungewiß. ES ist möglich, daß Poincarä wieder kehrt und die Kammer sofort aufgelöst wird, aber cS ist auch denkbar, daß an seine Stelle wenigstens bis zu den Wahlen ein Ge- schästsministcrium tritt. Kommt Poiucarü trotz der Antipathien, die der Präsident der sranzö- fischen Republik Miller« d gegen ihn hat, wieder, daun dürfte seine Zeit dennoch mit Eine Zusaüsmehrheit Anlaß zum Sturz. Paris, 2«. März. Im Verlauf der Debatte über das Penfiousgefetz wandte sich der -inanzminister gegen die Rückverweisung des Gesetzes an die Kommission und stellte gleichzeitig die Vertrauensfrage, Drotzvem hat sich das Parlament heute vormittag mit 271 gegen 2i»4 stimmen für die Rückverweisung entschieden. Die Regierung verblieb also in der Minderheit. Poincarö begab sich nach einer kurzen gabinettssiyung, die der Abstimmung folgte, nm 12 Uhr zum Präsidenten der Republik und überreichte ihm seine Demission, die angenommen wurde. dem 11. Mai, dem Wahltag in Frank reich, abgelaufen sein. Ticser Tag bring! dem vloc nulional mit ziemlicher Sicherheit eine Niederlage und bedeutet damit praklisch das Ende der Minisierpräsidentschaft Poincares. Die Links- Parteien, einschließlich der Sozialisten, die bei den französischen Wahlen 1910 getrennt mar- schielten nnd darum de Vorteile, die das franzö sische Walllgesetz einer Wahlkoalilion gibt, einseitig dem I>Io« national znsallen ließen, haben für die Wahl am 11. Mai bereits eine Wahlkoalition, das Kartell der Linken, gebildet und sind^ dadurch in sehr aussichtsreiche Konkurrenz zum dlnc nati'mal getreten. Bon der künftigen Zusammensetzung des sranzösischen Kabinetts hängt die für uns lebenswichtige Reparation», frage vollkommen ab und auf den Aus fall der französischen Wahlen sind die acht Tage vorher in Deutschland statt- sindendcn Reichstagswahlen ohne Zweifel von großem Einfluß. Wenn sich in Deutschland eine erheblich große Zahl Nach- läuser sür die Putschparteien findet, dann wird ohne Zweifel die Kraft der nationalistischen »reise Frankreichs gestärk: werden. Demi nichts kann dem dlue Mit »mal, dem Sammclhcrd der sran zösischen Reaktion, willkommener sein als die Möglichkeit, aus dem Ansfall der deutschen Wahlen das Schreckgespenst deutscher Revanche absichten zu konstruieren. Von den deutschen Wühlern hängt es also auch ab, der im Nieder gang begriffenen Reaktion Frankreichs nicht neuen Auftrieb zu geben: denn darüber muß sich jeder klar sein, 'daß ein reaktionärer Wahlmsfall in Frankreich die Wiederkehr Poincarös oder dock eines Kabinetts von gleick-er Unversöhnlichkeit nnd von gleicher Rücksichtslosigkeit gegenüber den Lebensintcressen des deutschen Volkes bedeutet. An PoincarS I. sollten wir hinreichend genug haben. * Tie falsch instruierten Saalöicner. Paris, 26. März. Als der Präsident der Republik, Millerand, die Demission des Kabinetts angenommen hatte, bat er den Kammer- und Scnatspräsidcnten und später Poincarö zu sich. Tic Unterredung zwischen Millerand nnd Pomcarö dauerte von 5,30 bis 6,20 Uhr. Poincarö lehnte beim Verlassen des Elysees jede Äußerung ab. Über die Unterredung wurde folgendes offi.ielle Kommunique verbreitet: „Ter Präsident der Republik hat Herr» Poinrarb gebeten, das Werk sortz«» setzcn, das er seit zwei Jahre» i« vollkommenrm Einvernehmen mit den beiden Sammer» des Paria» me«ta ansführt. Poinrarb hat dara»f geantwonrt, daß erden lebhaften Wunsch habe, dieser Aufforderung nach»«- komme«, aber eine definitive Ent scheidung erst am Touuerstagvor» mittag geben ISnne, sobald er darüber mit seinen politijchen Freunden beraten haben werde." Der eigentliche Anlaß zum Stnrz wnrde in Wirklichkeit durch eine Zufalls«,hrhett hervor- gernsen. Das zeigt nicht nur da» Stim«cu»,r- HSltni», sondcrn vor altcm auch die Tatsache, daß bet der Abstimmung noch nicht ein mal Ivb Abgeordnete zugegen war.« und dir meiste« Stimmen nach einem in kn 'lavzöjischcn Sammer üblichen Brauch aus Grund >.r ihnen von den avmesenden Abgeordneten er- inUen Instruktion,« von dcn Saaldrenern ab gegeben worden jinv. Tic Abstimmung wäre zweifellos anders ausgefallen, wenn dle abwesenden Abgeordneten Senntnis von der Situation gehabt hätten. In dcr Tat hat z» Brginn der Nach- mittigssitzung eine ganze Rcihe von Adgeord- nctl« ihre Stimm ivgabr vom Vormittag be richtigt. Es tonnlc sonach auch für dir Regie- rnug kein Zweifel mrhr karüber beftrhen, daß die Sammer kcincswrgs dirAbjicht ge habt hat, das Ministerium zu stürze«. Poincart ko nute also, wenn er gewollt hätte, die Temission vermeide«, und Millerand bat ihm dazu jrdrasatls die Möglich keit gegkbrn. In dem Ministrrrat, drnMillerand sosortuach Bekanntgabe desAbstimmuagsergednijses ins Elyse, rinbcnrs, Hal rr Po iura re ge- beten, seine Temission ausjuschicde« und sich am Nachmittag rrneitt der Sammcr z« präsentierrn, der Rillrrand in riner brsondrren Botschaft die Lag, auieinandcrzujkyrn bereit war. Poiacars hat es adcr adgelrhnt, dirsrn Weg zu brtretrn, weil rin formelles Votum der Sammrr voilicgr, das dcn Rück tritt des Kabinetts rrfordere. Mille rand blirb also trinr andrrr Wahl, als die Tt- Mission anznnrhmen. Daß Poincars sich heute rinrm Zufall beugt, i achcrm er monatelang seine gefährdete Ministern»» Position mir großer Zähigkeit vrrtridigt hat, ist mrhr als charakte- ristiich. * Ter Trmnsionsbries. Paris, 26. März. Havas vcrvffe.llilll folgenden Wortlaut des D emissiousbricfes, den Poincar! uud die Mitglieder seines vaünctts dem Präsidenten der Republik überreicht baden: Herr Prüfiden: v.r Republik! Nach der Abstimmung, die m dcr heutigen Sitzung der Abgeordnrtrnlamnnr erfolgt ist in dcr T,- datte, in drrrn Verlaufe die Vrrtranrnssrage gestellt worden w- r, berhrrn wir >»s, Jdne« die TkMijsion des Kabinetts zn unterbreiten. Gruel,migen Lie «iw. Besprechungen zur Neubildung des Hablnettö. Paris, 2». März. Ter Präsiden, Ser Republik hat heute nach mittag seine BeivrechungentnrReubildung de» Sabinens begonnen. Er hat um 4 Uhr deu Präsidenten de» Senats Toumergueund rarauf den Präsidenten der Sammer Raoul Perri rmpfangen. Unter Führung des Abgeordnetrn Lrhxuts habe« die S a m m rrg ruppr« dcr repu- dlitauische« und demokratische« Li»kr«, der «. a. der Sammrrpräjidrnt u«d der Abg. Loncheur augthü,u, und bitSammergruppt Arago, Henie nachmittag in einer gemein same« Sitzung vertrauliche Entschlir- ßuuge« zuguusttn PoiurarSs äuge» «ommen u»d den Wnnsch ausgesprochen, baß er sobald als möglich bi, Leitung drr jranrösische« Annen» nnd A«ß,»Politik wieder über: ehm, Paris, 27. März Nach dem „Marin" ist Poinrar» gestern abend, nachdem ihm Präsident Millerand den Austrag zur Sabinettsbildung erteilt hatte, nach dem Luaid Lksah zurückgetthrt und hat eine längere Unterredung mit dem Kammerpräsidenten Raonl Peret ge habt. Später juchte Poinrar» den Lenatspräsi- dentrn Toumergue auf. „Leuvre" berichtet, man habe gestern abend di, Tatsache, daß Francois Marsalsich nach dem Etysee begeben habt, besprochen. Muß mau daraus schließen, daß er de Laftehrie er setzen wird? Man erklärt, daß das nor der Fall sein werde, wenn Robineau, der Gou verneur der Bank von Frankreich, sich weigern sollte, das Finanzponefkuill, zu übernehmen, was übrigens wahrscheinlich sei. Im übrige» besitzt man nur sehr unbestimmte Andeu tungen über dir Absichten, di, Poin» ear» hinsichtlich d,r Umbildung seines Sabin,tts hege. Man habe gestern abend erklärt, daß das «csundheitsministrrium mit d,m Arbeitsministerium verbunden, das Ministerin« sür die besreiten Gebiete in ,in Unrrrstaat»- setretariat im Finanzministerium um-cwandelt und sonst alle Uatentaaisfekretariate, mit Aus nahme der Post und Hanvklsmarine, »rrschwin den sollen. * Auch Millerand droht mit seinem Rücktritt. Pari», 27. März. Ter „Matin" ist ermächtigt, folgende Er klärung des Präsidenten Millerand über die Srisr witderzugcbcn: Ti, großen Linien der französischta Politik können auf keinen Fall ans einem an deren Grunde, als dem klar ans» gedrückten Wunsche des Landes, ge- ändert wrrdt«. Ter Präsident der Rtpublik hat kas ftslc Vertrauen, daß Poinear» ein neues Sadinett bilden werde, das tine Politik der Festigkeit nach außen und tine Politik dcr Lrdnnng und Sparsam lcit »ach innen sortsctzcn werde. War die auswärtige Politik brtrisft, so kann Frankreich dos Ruhrgebiet nicht räume», bevor cs vollkommene Reparations zahlung (puiewent total) erlangt hat. Was dic iaverc Politik ictrfst, so muß Frank reich ras Gl, ich gewicht im Budget aus- stellcn, eine An leiht ansuthmru, ktinc Aus gaben machkn, dic nicht durch E »nahmen g,- dcckt seitn. Wenn cs — was frei! ch eine Eocntu,.lttä» wäre, die der Präsident der Re- pndlik nicht ins Auge faßt, Pointarb viellticht nicht möglich wäre, ein Ministerium zu bilden, dann könnt dtr Staatschtf noch tin Sabintti bildrn, das ftst t« »schlosst« ist, die all- gtmeine Politik des Laude» nach deu a»- gtsührtt« Li»ir» weitcrzuleiten Für den Fall jedoch, daß das Land sich einer Forts,tznng dieser Politik gegen. Ldrr fkindlich verhiklt,, würde der Präsident der R,publik, was ihu selber brtrifs«, unverzüglich di, Son» srqnknztn liehe», dir ,r für «ng,- vrächt däit. * Tkr Eindruck in London. London, 26. Marz. Zum Rücktritt Poincares bemerkt das Reu^r Bureau, erhobt in England erheblich, Überraschung heworgerusen. Man glaube, daß Pvinrare rinwill gen u c.de, sich seinen En sckluß ne.l mal« zu überlegen. Hier ?cbe der allgemein, Eindruck dabur, daß es für England ent schieden besser sei, den der Linken an-