Volltext Seite (XML)
Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumiratton«-Prü« 22z Silberne, jj Töle.) viertelilikrlich, Z Tdlx. für dos ganze Jahr, ohne ErdöI> ung, in allen Theilen Ler Preußischen Monarchie. IK agazin für die Man »ränumerirt auf diese« Literatur« Blatt in Berlin in der Expedition der Mg. Pr. StaaiS-Zeitung (Friedrichs- Straße Nr. 72); in der Provinz so wie im Auslände bei den Wohllodl. Post - Aemtern. Literatur des Auslandes. 73. Berlin, Freitag den 24. Juni 1842. Frankreich. Jouffroy über den Menschen und dessen Bestimmung. Adolph Garnier, von den Schülern des kürzlich in der Blüihe seines Lebens verstorbenen Jouffroy der einzige, der sich ebenfalls dem philosophischen Unter richte widmet, hat es wenige Tage nach dem Tode seines Lehrers in einer seiner Vorlesungen übernommen, die Verdienste zu schildern, die sich derselbe um die Philosophie erworben. Der Vorlesung Garnier's, die so eben im Druck erschienen, entnehmen wir zunächst die Worte der Anerkennung, die darin Jouffrop als Menschen und Denker zu Theil werden. „Ein umfassender Geist", heißt cs dort, „der alle Theile des Wissens in sich aufnahm und sie vereinigte, ohne sie zu verwirren, ein Scharfsinn, dem auch nicht der subtilste Unterschied entging, eine Einbildungskraft, welche die fernsten Küsten des Denkens mit Licht und Farben belebte und doch nie einer schönen Erfindung die Wahrheit opferte, eine unversieglichc, gefällige, glänzende Beredsamkeit, eine Wärme des Gefühls, die, weil sie aus dem Herzen stammte, auch ohne die Schminke der Dcclamation zum Herzen sprach, ein leiser Hauch von Schwermuth, ein tiefes sittliches und religiöses Gefühl, völlige Gleichgül tigkeit gegen die Reize der Welt, die feste Hoffnung auf ein künftiges besseres Leben — dies sind die Tugenden des Geistes und des Herzens, die wir an Jouffrop am Anfang wie am Ende seiner leider sehr kurzen Laufbahn bewun dert haben. Ich bin seinem Unterrichte von der ersten bis zur letzten Vorlesung gefolgt — diese wie jene waren Zeugen für die Täuschungen des Lebens und die Unsterblichkeit der Seele." Was die tiefsten Denker aller Zeiten und Völker zu lösen versuchten, die Frage: was ist der Mensch t wo kommt er Herr wo geht er hin? hat auch Jouffroy's Geist ohne Unterlaß beschäftigt. Was er darüber dachte, versucht Garnier in Folgendem wiedcrzugcben: „Der berühmte Lehrer fängt daimt an, die gewöhnlichen Meinungen über diesen Punkt znsammcnzutragen. Es war dies ein Charakter seiner Methode. Er war überzeugt, daß alle sittliche Probleme schon halb vom gesunden Menschenverstände gelöst würden, und daß mit dessen Aussprüchen vie Philo sophie nie in Widerspruch stehen dürfe. Nun unterscheidet die Menge im Menschen zwei Grundbestimmnngen: Seele und Körper. Sic hat diese Unter scheidung ausgesprochen, ehe cs noch cinc Wissenschaft gab. Jetzt wurzelt jene Ansicht, die so alt ist, daß cs schwer scyn würde, eine ältere zu finden, nicht nur noch immer im Bolksbcwnßtscyn fest, sondern ist auch von der Wissenschaft anerkannt. Denn was sind die letzten Gründe, bei denen die gelehrten For scher unserer Tage im Studium des Menschen stehen geblieben sind? Was haben sic gesundens Zweierlei: Materie und Leben skrmst. „Die Lebenskraft bewirkt, daß sich die unendlich kleinen materiellen Thcil- chcn an einander legen; werden sie von ihr verlassen, so löst sich der Körper auf, die Thcilchcn verlieren ihren gegenseitigen Zusammenhang und fallen den physikalischen und chemischen Gesetzen anheim, dcrcn Macht sic die Lebenskraft auf einige Augenblicke entzogen hatte. Ihrer Natur nach sind die Theilchcn nicht befähigt, eine Lebcnsfunction zu verrichten: sic könnten sich nicht einmal mit einander verbinden, ließe sic nicht die Lebenskraft eines dem anderen cnt- gegcnwirkcn. Also muß in jener gchcimnißvollcn Schöpfungsstunde des Menschen die Lebenskraft eher dagcwescn sevn als der Körper. Denn sic ist die Ursache des Körpers, nicht der Körper die ihre. „Das Leben ist also vom Körper verschieden. Es fragt sich: ist cS einfach? muß eS auf eins oder auf mehrere Prinzixe zurückgeführt werden? Bei manchen LebenScrscheinungcn kann ich mir keine Rechenschaft von den Ursachen geben, auS dcncn sie hervorgchcn, bei anderen kann ich cs. Ich weiß z. B. nicht, wieso ich verdaue, wieso mein Blut zirkulirt, ob beide Phänomene von der selben ober von verschiedenen Ursachen abhängen. Ich möchte diese Ursache, oder vielmehr beide Ursachen, die negative Kraft im Körper nennen. Aber ich erinnere daran, diese Kraft ist nur eine Hypothese; ich kann teineSwcges ent scheiden, ob sie wirklich von jeder anderen äußeren Kraft, z. B. von der Schwere, verschieden oder nicht gar Gott selbst ist. „Wenn ich aber eine Bewegung mit meinem Arine mache, brauche ich da- für nach keiner wahrscheinlichen Erklärung zu suchen: ich weiß bestimmt, daß ich selbst der Grund dieser Bewegung bin. Denn ich bin mir derselben bewußt, wie ich es weiß, wenn ich denke, empfinde oder will. Bin ich aber selbst die Ursache meiner Gedanken und Willensäußerungen, dann muß ich natürlich diese Ursache kennen, und da ich auf der anderen Seite die Ursache der Verdauung und deS Blutumlaufs nicht kenne, so kann ich diese Ursache nicht sepn. „Die Functionen also, die das Leben bedingen, zerfallen in zwei streng von einander getrennte Gruppen. Die einen schreibe ich einem Wesen zu, das ich kenne und Ich heiße, die Anderen einer Kraft, die mir ganz und gar unbekannt ist und von der ich nur weiß, daß sie nicht Ich ist. Das Leben also geht von zwei Prinzipien aus, eS ist nicht einfach, sondern zweifach. Das eine dieser Prinzipe bin ich, das andere bin ich nicht. „Doch sind darum, nach dem Gange der Namr, die beiden Prinzipe nicht von einander unabhängig. Das Ich muß gewisse Geschäfte übernehmen, damit das physische Leben nicht stocke, z. B. damit die Ernährung des Körpers vor sich gehe, und wiederum muß die negative Kraft, oder wie sie immer heißen mag, ihre Functionen treu erfüllen, damit der Körper ein brauchbares Werk- zeug für die Eindrücke und den Willen des Ich sey. — Darum greift die Psychologie oder die Lehre vom Ich oft über in die Physiologie oder die Lehre vom physischen Leben, darum auch maßt sich die Physiologie an, die Psychologie aus sich zu entwickeln. Aber obgleich beide Disziplinen sich gegenseitig unter stützen müssen, sind ihre Gegenstände doch sehr verschieden. — Mit Messer und Mikroskop geht man an die Beobachtung physiologischer Thatsachen; damit sich psychologische ergeben, darf der Geist nur auf sich selber reflcktiren. Diese zwei Arten der Forschung erfordern jede ein anderes Talent und sind wahrscheinlich nie von einem und demselben Manne mit gleich glücklichem Erfolge betrieben worden. — So urtheilt Jouffroy über die Natur des Men schen, und die Deutlichkeit und Schärfe, mit der er den Unterschied zwischen Psychologie und Physiologie fcststcllt, wird selbst noch in der schwachen Skizze durchblickcn, die ich eben davon entworfen habe. „Der Mensch ist also nicht der Leib, nicht einmal die ganze Lebenskraft des Leibes ist er, sondern von beiden Prinzipcn des Lebens dasjenige, das sich selbst crkcnnt und das wir das Ich nannten." Von Jouffroy's Ansicht über die Bestimmung des Menschen gicbt Garnier folgenden Abriß: „Die Bestimmung eines Dinges", sagte Jouffrop, „ist aus dem Wesen desselben ersichtlich. Der Mensch ist unterschieden von der Materie, er ist un terschieden von der Lebenskraft des Körpers: sein endliches Schicksal kann also nicht mit dem des Körpers zusammenfallen. Ferner ist dem Menschen das Bc- dürfniß, zu handeln, zu erkennen und zu lieben, angeboren, darum strebt er nach Macht, Wissenschaft und nach dem Besitz dessen, was cr liebt. In diesen drei Richtungen bewegt sich seine Thätigkcit, anfangs getrieben von der blin den Gewalt deS Instinkts. Später aber arbeitet er mit freiem Willen und dem Bcwußtseyn eines Zweckes den drei Zielen entgegen. Dies ist die Periode der Selbstbeherrschung — aber — unter der Macht des Egoismus. Endlich gewinnt der Mensch die Ueberzeugung, daß, da Jeder nach Realisirung seiner Wünsche streben soll, das Wohl des Einzelnen aufgeht in das allgemeine, und daß die Freiheit deS Einen von der Freiheit eines Anderen nicht geschmälert werden darf. Durch diese Ueberzeugung wird der Mensch zu einem sittlichen Wesen und verdrängt den Egoismus, der in ihm an die Stelle des Instinkts getreten war, durch seine Unterwerfung unter die Weltordnung. In der An erkennung dieser Ordnung erhebt sich die Vernunft zu Gott, und ihr gehor chend, gehorcht sic ihm. „In letzter Instanz ist die Bestimmung des Menschen die vollkommene Ausdehnung seiner Macht, seiner Erkcnntniß und seiner Liebe. Auf Erden aber versperren ihm Schranken den Weg dazu. Da gebraucht er seine Freiheit, um gegen die Hindernisse zu kämpfen, und die Gränzen seiner Wirksamkeit machen ihn zur Persönlichkeit, indem sic in ihm das Bcwußtseyn seiner Frcihe-t erwecken und ihn lehren, ein Verdienst im Kampfe zu finden. — Die Bestimmung deS Menschen ans Erden ist also, zu ringen, d. h. seine Freiheit zu gebrauchen. Diese Bestimmung aber kann nicht die ganze seyn, so wenig, als der Knoten eines Drama's ohne die Entwickelung das ganze Drama ist; noch ist des Kampfes Lohn der Kampf selbst, vielmehr verlangt die endliche Bestimmung die Vernichtung deS Widerstandes, die Ruhe nach der Arbeit, den Preis nach Sem Siege, die vollkommene Realisirung der Bestrebungen der Menschheit." Wir wollen nicht schließen, ohne einige Einzelheiten über die letzten Augen blicke Jouffroy's zu erwähnen. Die Worte, welche Garnier berichtet, sind von der Art, daß sie auch für einen weiteren Kreis Interesse haben. „Nie trennte sich Jouffroy von dem Gedanken an die geistige Natur des Menschen und die Unsterblichkeit, die seiner warte. Sicher ist unserem Lehrer seine Todesstunde durch dieses Vertrauen auf die Vorsehung, durch diesen Glauben an eine bessere Welt, den er auf so feste Grundlage baute, erhellt worden. Dieser Satz war ihm nicht bloß ein Satz der spekulativen Philo- sophie, den er außerhalb des HörsaalS vergaß, ein praktischer Glaube war eS,