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und Tageblatt. Amtsblatt für die königlichen und städtischen Behörden zu Freiberg und Brand. Verantwortlicher Redakteur: Julius Braun in Freiberg. LZ* 4 vk !i HrMeun jeden Wochentag Nachmitt. 5 llhr für den 38' Jahrgang. ' Inserate werden bt« Bormtttag 11 Uhr angenom-II FH MH/» F« 45. Mittwoch, den 24. Februar. 1886. Nachbestellungen Monat März werden zum Preise von 75 Pf. von allen kaiserl. Postanstalten sowie von den bekannten Aus gabestellen und der unterzeichneten Expedition angenommen. Expedition des Freiberger Anzeiger. Die Londoner Unruhen. Am Sonntag ist es wiederum in London zu ernsten Ruhestörungen gekommen und scheint die Polizei abermals erst eingeschritten zu sein, nachdem ansehnliche Berwüstungen angerichtet und die Geschäftsleute des Westends in argen Schrecken versetzt worden waren. Die Maßnahmen der englischen Behörden haben leider bis jetzt weit weniger die sozialistischen Aufwiegler als die Lädeninhaber cingeschüchtert, die auf polizeiliche Anordnung wiederholt die Geschäfte schließen mußten, deren friedlicher Fortbetrieb des Schutzes entbehrte. Die sozialistischen Wortführer sind zwar vor das Polizeigericht geladen, aber bald darauf gegen Kautions stellung wieder freigelassen worden. Daß man die Ver handlung gegen sie vertagte, machte allgemein den Ein druck, als ob der englischen Regierung der Muth fehle, gegen diese Rädelsführer energisch vorzugehen, oder als ob sie dieselben zu unklaren politischen Nebenzwecken benutzen wolle. Hyndeman, Champion, Burns und Williams führten deshalb in der letzten Zeit eine noch weit kühnere Sprache als vor ihrem Polizeiverhör. Hyndeman sagte öffentlich: „Wenn wir auch zeitlebens eingesperrt werden, wir haben bereits viele Tausende in unseren Ideen erzogen." Am letzten Sonntag, wo sich im Hyde-Park mehr als zwanzigtausend Menschen versammelten, um den Lehren der neuen Volks beglücker zu lauschen, war es besonders der Sozialist Burns, welcher die Leidenschaften der darbenden englischen Arbeiter aufzustacheln versuchte und voraussagte, daß es zu Blut vergießen kommen werde, wenn die englische Regierung nicht die soziale Lage der Arbeitslosen verbessere. Seltsamer Weise enthalten die im Hyde-Park am Sonntag ange- genommenen Resolutionen neben dem Tadel der Regierung wegen der Nichtbeschäftigung der Arbeitslosen auch die rein theoretische Forderung der Herabsetzung der Arbeitszeit auf acht Stunden, welche doch bei der jetzigen trüben Lage der englischen Industrie so gut wie gar keine Berechtigung hat. Dem Ministerium Gladstone kann man den Vorwurf nicht ersparen, daß es ebenso halsstarrig bei der grauen Theorie des „Gehenlassens wie es eben geht" verharrt und durch sein Nichtsthun die schwerste Verantwortlichkeit auf sich ladet. Schon seit dem Frühjahre 1883 stockt die ge- sammte Erwerbsthötigkeit in England, die industriellen Unternehmer büßen alljährlich bedeutende Summen ein und sobald sie durch Lohnherabsetzungen ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt wiederherstellen wollen, vereiteln die Arbeiter diese Versuche durch Einstellung der Arbeit. Die Folge davon ist der Ruin oder die freiwillige Schließung nicht mehr rentirender großer Fabriken und die schnelle Zunahme des Mangels an Arbeit. Dabei verschieben sich die Besitzverhältnisse immer mehr; die Kluft zwischen den Besitzlosen und den Besitzenden wird immer weiter und läßt sich selbst durch die in England thatsächlich bedeutenden Werke der Mildthätigkeit kaum noch überbrücken. Die jetzige Regierung ist trotzdem noch immer in dem Wahne befangen, die Leiden von Hunderttausenden von arbeitslosen oder doch mangelhaft beschäftigten Arbeitern dadurch mildern zu können, daß sie die Armenämter anweist, möglichst viele Hungernde zu speisen und indem man den Ruf nach Arbeit durch Darreichung eines kleinen Almosen zum Schweigen zu bringen versucht. Bei dem vorhandenen, durch die lange Arbeitslosigkeit erzeugten Massenelend bleibt nur noch eine wirksame Abhilfe übrig, die schleunige Anordnung öffentlicher Arbeiten, zu denen in England weder das Be- dürfniß noch der Staatskredit fehlt. Es versteht sich von selbst, daß der Staat nicht im Stande ist, auf Jahre hinaus für lohnende Arbeit zu sorgen, daß ferner das System der öffentlichen Arbeiten sich im Jahre 1848 in Frankreich nicht bewährt hat und auch nirgend auf die Dauer bewähren wird. Als Nothbchelf aber, angesichts einer zahlreichen darbenden Bevölkerung, ist dieses System jetzt in England unvermeidlich, wenn sich nicht die schlimmsten Drohungen der Aufwiegler erfüllen sollen, welche die Verzweiflung der Darbenden für ihre Umsturzzwccke zu benutzen suchen. Während der zeitweisen Benutzung des Paüiativmittels der öffentlichen Arbeiten würden die leitenden Staatsmänner wenigstens Zeit gewinnen, das Radikalmittel zu finden, durch welches die Hebung der darniederliegenden Industrie und eine Sozial- resorm nach deutschem Muster zu ermöglichen sein würde. Wenn vor wenigen Tagen die englischen Regierungs blätter die Wahrheit der Mittheiluna der „Pall-Mall- Gazette" bestritten, daß die Brotlosen bei großen Staats bauten, besonders bei Befestigungsarbeiten an der Mündung der Themse, Beschäftigung erhalten sollten, bewies dies deutlich, daß Gladstone die Bedeutung der jetzigen Arbeiter unruhen bisher weit unterschätzte. Die Art und Weise, wie der Minister Chamberlain zwar nicht mündlich aber doch schriftlich mit den Sozialistenführern freundlich unter handelte, machte dagegen fast den Eindruck, als dächte dieser Staatsmann die Einschüchterung der Londoner Kapitalisten dazu zu benutzen, deren Opposition gegen seine radikalen Reformpläne zu brechen. Er und seine Kollegen sind un verkennbar der Meinung, die ganze sozialistische Bewegung noch im rechten Augenblick zum Stehen bringen zu können. Entschuldbar ist dieses Verhalten nur damit, daß das konservative Kabinet Salisbury während seiner kurzen Amtirung auch nicht sonderlich viel für die Lösung der Arbeiterfrage gethan hat. Salisbury hat sich zwar vor übergehend mit der Frage der Arbeiterwohnungen beschäf tigt, aber etwas Thatsächliches zur Linderung des Noth- stindes nicht bewerkstelligt. Die beiden großen Parteien, welche sich bei der Staatsleitung Englands abwechseln, die konservativen TorieS und die liberalen Whigs, sind bisher viel zu sehr mit ihren sich nur um die Machtfrage drehen den parlamentarischen Zänkereien beschäftigt gewesen, als daß sie die Gefahren hätten würdigen sollen, die ihrem Lande aus dem Umstande erwachsen, daß Tausende von arbeitslosen Menschen, die hungernde Familien zu Hause und nach ihrer Ansicht nichts mehr zu verlieren haben, von gewissenlosen Schönrednern gegen die herrschenden politischen Parteien, die ihr Elend nicht sehen, systematisch gehetzt werden. Mehr als je ist es an der Zeit, daß sich in England Tories und Whigs die Hand reichen und ihre kleinlichen Streitereien vergessen, um sich vor Allem der Lösung der sozialen Frage zu widmen, die vor ihren Augen riesengroß emporwächst. Die auswärtigen Regierungen sollten diese Nothwendigkeit den englischen Staatsmännern in aller Freundschaft klar machen. Die Ermordung des Gruben- dircktors Watrin in Decazeville und die in neuester Zeit in der Nähe dieses Ortes erfolgte Einstellung des Betriebes bei umfangreichen Gruben haben der französischen Regierung gezeigt, daß das Beispiel der englischen Sozialisten auch leicht für Frankreich verhängnißvoll werden könnte. Aehn- liche Besorgnisse erfüllen in Spanien die Regierung und die Arbeitgeber und veranlassen die spanischen Machthaber, auf vorbeugende Maßnahmen zu sinnen. Die Londoner Vorgänge gehen auch an den Deutschen nicht spurlos vor über, sondern werden hoffentlich dazu beitragen, die Reichs tagsmehrheit gleichzeitig für die Verlängerung des Sozialisten gesetzes und für die Fortsetzung der sozialen Reformen zu stimmen. Den breiten Schichten der Bevölkerung, sowie der schwer bedrängten Produktion kann aber selbst der bcst- organisirteste Staat nur dann nachdrücklich helfen, wenn er bei solchen Fragen auf den Beistand aller Parteien rechnen kann, wenn in der Stunde der Noth alle kleinlichen Fraktions zänkereien vergessen werden. Wenn das die Engländer jetzt nicht cinsehen, werden sie es schwer zu bereuen haben. Tagesschau. Freiberg, den 23. Februar. Dem deutschen Reichstage wird heute der von dem deutschen Bundesrath mit geringfügigen Aenderungen ange nommene Branntwein - Monopol - Gesetzentwurf zugehen. Die offiziösen „Berliner politischen Nachrichten" veröffentlichen eine Rentabilitäts-Berechnung des Monopols, welche die Gesammt- Bruttoeinnahme auf 668 692 000 Mark, die Geschästs-Gesammt- ausgabe auf 365 948 000 Mark veranschlagt, so daß sich ein Ncttoüberschuß von ca. 303 000000 Mark ergeben würde, welcher mit der Tilgung der zur einmaligen Ausgabe aufzu nehmenden 720 500 000 Mark allmählich um deren Zinsen von rund 32 000 000 Mark, also bis 335 000 000 Mark, steigt. — Der neuerdings dem deutschen Bundesrathe vorgelegte Gesetzentwurf über den Verkehr mit Kuustbutter bestunnu, daß die Geschäftsräume und die Gefäße, worin Kunstbutter feilgehaltcn wird, die deutliche, unverwischbare Inschrift „Verkauf von Kunstbutter" tragen müssen. Kunstbutter im Sinne des Gesetzes sind der Milchbutter ähnliche Zu bereitungen, deren Fettgehalt nicht ausschließlich der Milch entstammt. Wie die Begründung ergiebt, beträgt die Gesammt- erzeugung der Kunstbutter in Deutschland jährlich 15 Milli ¬ onen Kilogramm im Werthe von 18 Millionen Mark. — Das preußische Abgeordnetenhaus beschäftigte sich gestern wieder mit der Polen frage. Nachdem Abg. Wierzbinski in leidenschaftlicher Weise gegen das vor gelegte Ansiedlungsgesetz gesprochen und hervorgehoben hatte, daß Polen in einem Kampf auf Leben und Tod nicht unter gehen würde, bezeichnete der Minister Lucius die Vorlage als einen Akt der Nothwendigkeit und der Selbstvertheidigung. Die Polen wollen nicht in den preußischen Staatsverband ein treten und halten stets die Hoffnung auf die Wiederherstellung Zolens fest, trotzdem Polen erst durch die Könige von Preußm us der Zerrüttung erlöst und in gedeihliche landwirthschaft- liche und soziale Verhältnisse eingeführt worden sei. Die Vor lage bezwecke die Schaffung eines seßhaften leistungssähigm Bauernstandes und Arbeiterstandes, sowie die Ansiedelung ganzer Kolonien. Die Beschaffung der nöthigen Kolonisten ei nicht leicht; dieselben dürften wesentlich aus denen zu ent nehmen sein, welche nach dem Westen der Monarchie über- iedeln. Da eine Parzeüirung der Staatsdomänen nicht an- zängig sei, so werde es sich um Erwerbung polnischen Groß grundbesitzes handeln. Zahlreiche Güter würden in Folge der landwirthschastlichen Lage durch Subhastation erworben werden können. Die zur Unterstützung der preußischen Re gierung in Aussicht genommene Kommission solle nicht nur eine berathende, sondern auch eine praktische Thätigkeit für die Ausführung der Kolonisation entwickeln. Die Regierung sei sich der Schwierigkeit der Aufgabe vollkommen bewußt und wisse, daß damit eine Arbeit für ein Menschenalter geschaffen werde. Die gesteckten nationalen agrar politischen Ziele seien aber nur dann zu erreichen, wenn sie die Unterstützung sowohl des Landtages, als auch der verständnißvollen patriotischen Bevölkerung im Lande dafür haben. Für und gegen die Vorlage hatten sich je 19 Redner gemeldet. Abg. von Benda sprach für die Vorlage, wünschte aber die Kommissionsberathung, Abg. von Huene erklärte sich entschieden gegen die Vorlage. Im weiteren Verlaufe der Debatte sprachen noch die Abgg. Holtz und von Treskow für die Vorlage, Osterwitz und von Schorlemer-Alst gegen dieselbe. Letzterem gegenüber bemerkte Minister Lucius, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sei der Ansicht, daß die Politik des Reichskanzler- das nationale Interesse fördere; es sei ein schöpferischer Ge danke, aus welchem die Vorlage beruhe. Die Fortsetzung der hochwichtigen Bcrathung findet heute statt. — Die preußische Regierung scheint von der Annahme der Vorlage im Voraus überzeugt, da ihre Organe bereits ankündigen, daß die Ab- thcilungen des Staatsraths für Inneres und für Landwirth- schast zur Berathung der Instruktionen für die Kommission, welche mit der Ausführung des Kolonisationsgesetzes in den Ostprovinzen betraut wird, in Kürze zusammenlreten. würden. — Die „Nordd. Allg. Ztg." wiederholt die Mittheilung, daß die in Spandau angestellten sehr eingehenden Ermittelungen nichts ergeben haben, woraus geschlossen werden könnte, daß die in Osfizierskleidung gesehene Person, welche aus der dortigen Kaserne ein Gewehr entwendete, königlich sächsische Abzeichen getragen habe. Während im österreichischen Abgeordnetenhaus jede Besprechung der auswärtigen Politik grundsätzlich vermieden und den Delegationen überlassen wird, verhält sich das ung a- rische Parlament weniger selbstverleugnend, was die ungari schen Minister häufig veranlaßt, sich über die auswärtige Lage zu äußern. Bei der gestern im ungarischen Abgeordnetenhause stattgefundenen Berathung des Budgetgesetzes für das Jahr 1886 verwahrte sich der Ministerpräsident Tisza auf das Ent schiedenste gegen die Behauptung, daß bezüglich des Orients eine Politik befolgt werde, deren Zweck die Einverleibung des westlichen Balkangebiets durch Oeslerreich-Ungarn und des östlichen Balkangebietes durch Rußland sei. Er bemerkte, Oesterreich-Ungarn verfolge keine Annexionsziele und beab sichtige keinerlei Uebcreinkommen mit irgend Jemandem behufs Feststellung der Interessensphäre. Sowohl er, als auch die Leiter der auswärtigen Politik Oesterreich-Ungarns seien be müht, den Frieden zu erhalten, wozu auch Hoffnung sei, da die europäischen Mächte denselben wünschen. Das Buget- gesetz wurde hierauf mit großer Stimmenmehrheit angenommen. Wohl in Folge der in Katalonien und Andalusien drohen den Unruhen verfügte die spanische Regierung die Einbe rufung von 50 000 Mann. Die amtliche Zeitung in Madrid veröffentlicht den bezüglichen königlichen Befehl. — Die Ver mählungsfeier der spanischen Prinzessin Eulalia mit dem Prinzen Anton von Moutpensier mußte angeblich wegen einer Halsentzündung der Prinzessin aufgeschoben werden. Sowohl das schwächliche Verhalten gegenüber den Anarchisten als auch die Unklarheit der irischen Politik tragen viel dazu bei, das Ansehen des jetzigen englischen Kabinets zn