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WlömIiUßkr Mnjktzkr. Erscheint wöchentlich drei Mal: Dinstags, Donnerstags und Sonnabends. Preis incl. der Sonntagsbeilage „Der Erzähler" vierteljährlich L Mark, durch die Post bezogen 1 Mark 25 Pf. — Einzelne Nummern 8 Pf. — Jnsertionsgebühren pro kleingespaltene Zeile für Abonnenten 7 Pf., für Nichtabonnenten 10 Pf., im Redactionstheil 20 Pf. Bei mehrmaliger Insertion entsprechender Rabatt. — Jnseraten- Annahme bis Abends 5 Uhr des vorhergehenden Tages. — Geeignete Beiträge sind stets willkommen. 54. Politische KuWM. * Waldenburg, 1. November 1878. Der achte deutsche Handelstag ist am 30. October Vormittags 10'/-Uhr im Berliner Rath- Hause eröffnet worden. Minister Maybach be grüßte die Versammlung und sprach die Hoffnung aus, daß es im Hinblick auf den deutschen Muth, Fleiß und Einigkeit gelingen werde, die wirth- schaftlichen und socialen Verhältnisse in bessere Bahnen zu leiten. Der gestellte Antrag betreffs Bildung eines aus Vertretern des Handels, der Industrie, der Gewerbe und der Landwirthschast rc. bestehenden, der Regierling als Beirath dienenden volkswirthschaftlichen Senats wurde in einer nach den Handelskammern erfolgten Abstinimung des schließlich bleibende» Ausschusses zur Berichterstat tung an die deutsche Reichsregierung überwiesen. Der deutsche Handelstag galt früher als prak tische Bethäligung der von den Hochschulen ge pflanzten und auf diesen in die Bureaux und Comtoirs getragenen volkswirthschaftlichen Theo rien. Die hereingebrochenen Nothstände haben inzwischen den theoretischen Enthusiasmus abge kühlt; das Bedürsniß, die Forderungen der einan der Widersprechenden Interessen zu einem Aus gleich zu bringen, beginnt ausschlaggebend zu werden und die auf verschiedenen Gebieten des Wirthschaftslebens angeordneten Untersuchungen deuten auf die Absicht und die Nothwendigkeit einer gründlichen Reform der wirthschaftlichen Gesetzgebung hin. Hier ist das Gebiet, wo dem socialdemokrati schen Einfluß am gründlichsten begegnet werden kann. Zwar wird das Socialistengesetz für's Erste genügen, der socialdemokratischen Propaganda Zügel anzulegen und die öffentliche Ordnung ge gen die Aufreizung der Gesellschaftsklassen gegen einander zu schützen, aber der Bruch der deutschen Socialdemokraten mit dem socialistischen Wahn glauben wird erst eintreten, wenn das Socialisten gesetz seine Ergänzung in positiven Leistungen staatlicher Fürsorge erhält. Die volkswirthschaft- liche Reform wird dahin zu streben haben, daß durch Schutz die nationale Arbeit wieder belebt und der nationale Wohlstand entwickelt werde, muß aber dabei hauptsächlich die Hebung der wirthschaftlichen Zustände der Arbeiter im Auge behalten, damit bei letzteren das Vertrauen auf die Hilfe des Staates stärker als das Vertrauen auf die Hilfe socialistischer Agitatoren werde. Die Kaiserin Augusta soll, wie die Tesche- ner „Silesia" meldet, dem abgesetzten Fürst bischof von Breslau, vr. Heinrich Förster, zu dessen 25jährigem Jubiläum ein in Brillanten eingefaßtes Bild, Loee Iromo (Bild des leiden den Jesus), als Geschenk gesendet haben. Diese Nachricht macht nicht geringes Aufsehen; sie ist auch in Anbetracht dessen, daß sich der Prälat gegen die Staatsgesetze aufgelehnt und dafür von preußischen Gerichtshöfen mit schweren Strafen belegt wurde, kaum für möglich zu halten. Das energische Vorgehen des Berliner Polizei präsidenten v. Modai mit der Ausführung des Socialistengesetzes hat allseitige Anerkennung gefunden. Dasselbe scheint auch für den Modus der Ausführung auch außerhalb Berlins von gro ßer Bedeutung gewesen zu sein. Für die that- sächliche und moralische Wirkung des Gesetzes Sonnabend, 2. November war die erste wuchtige Handhabung desselben von größter Wichtigkeit, und es fällt in dieser Be ziehung die offenbar sorglich vorbereitete rasche und scharfe Durchführung seitens des Berliner Polizeipräsidiums sehr in's Gewicht. Der „Reichs-Anzeiger" macht das Verbot folgender Vereine bekannt: Theaterverein „Germania", Gesangsklub „Vorwärts", Gesang verein „Liederfreund" sämmtlich in Dortmund, ferner das Verbot einer einzelnen Nummer und des ferneren Erscheinens des von der westphälischen Genossenschafts-Buchdruckerei in Dortmund ver legten hessischen Volksblattes „Organ für das werkthätige Volk." Aus Barmen wird gemeldet, daß der Dramatische Verein" und der Gesang verein „Bruderkette" polizeilich geschloffen worden sind, aus Solingen, daß die „Solinger Freie Presse" ihr Erscheinen eingestellt habe. Die Genoffenschaftsdruckerei in Berlin, in wel cher die „Berliner Freie Presse" gedruckt wurde, hatte ihren Verkauf bekannt gemacht. In zwischen hat dieselbe einen Prospect versandt, worin sie zum Abonnement auf eine neue von ihr heranszugebende Zeitung einladet. Die neue Zeitung soll den Namen „Berliner Nachrichten" führen und sich jeder Aufreizung fern halten. Daß den Berliner Socialdemokraten trotz der für sie so schweren Zeit der Humor noch nicht ausgegangen, beweisen ihre „Stammkneipen," die sich nach Thunlichkeit dem Ausnahmegesetz anzupassen versuchen. So hat z. B. ein social demokratischer Wirth in seinem Local ein riesiges Placat anbringen lassen mit der Aufschrift: „Ueber Thema's darf nicht gesprochen werden!" In einer anderen socialdemokratischen Kneipe des Frankfurter Viertels finden sich an den Wän den Plucate mit der Inschrift: „Achtung vor dem Ausnahmegesetz!" und in einer anderen auf dem Köpnicker Felde gelegenen Restauration liest man in einem riesigen an der Wand befindlichen schwarz-weiß-rothen Schilde die Worte: „Meine werthen Gäste ersuche ich, in diesem Local keine politischen Gespräche zu führen." Da die soge nannte „Arbeitermarseillaise" verboten ist, behilft man sich damit, daß man das Lied vom „Guten Mond" nach der Melodie der „Marseillaise" singt, ohne daß man in diesem kindlichen Ver gnügen gestört wird. Sämmtliche Socialistenführer Sachsens mit Ausnahme der Jnhaftirten Kayser, Vahlteich, Motteler und Volkmar sollen am 27. October nach einem Telegramm des „Pester Lloyd" eine Versammlung in Leipzig abgehalten haben, in welcher sie allgemeine Abrüstung, Anlage der noch vorhandenen Gelder in England und Agi tation auf wissenschaftlichem Felde beschlossen. Die Hebung des „Großen Kurfürst" scheint sich verwirklichen zu wollen. Auf der deutschen Botschaft in London wurde ein Contract unterzeichnet, welcher die Hebung des „Großen Kurfürst" einem Herrn A. Leutner überträgt. Die Thalerstücke werden nach und nach aus dem Verkehre verschwinden, indem die in die öffentlichen Kaffen fließenden Thalermünzen ein gezogen werden; auf diese Weise sind bereits 163 Millionen Thaler zur Einziehung gelangt. Der Gesammtbetrag der Reichsgold- und Silbermünzen hat dagegen die zweite Milliarde bereits über stiegen. Es ist nämlich nicht nur ein Theil des früheren Silbergeldes, sondern auch des Papier geldes durch Gold ersetzt worden. Der Betrag 1878. des aus dem Verkehr gezogenen Silbergeldes macht rund 600 Millionen aus. Der vr. Trettenbacher in München war be kanntlich von dem Maler Professor Piloty wegen Majestätsbeleidigung angezeigt worden. Da der Verklagte Einspruch erhoben hatte, kam die An gelegenheit am 26. October zur nochmaligen Ver handlung, doch wurde das erste auf 8 Monate Festungshaft lautende Urtheil lediglich bestätigt. Die endlose österreichische Ministerkrisis ist in ein neues Stadium getreten. Baron Pretis hat, wie aus Wien telegraphirt wird, infolge der Unmöglichkeit bei den jetzigen parlamentarischen Verhältnissen eine Einigung herbeizuführen, sein Mandat zur Bildung eines neuen Kabinets in die Hände des Kaisers zurückgelegt. Oesterreich stände somit vor der Bildung eines nichtparla mentarischen Ministeriums. In der Sitzung des Budgetausschuffes des österreichischen Abgeordnetenhauses am 30. October gelangte die Vorlage der Regierung, betreffend die Bewilligung eines Credits von 25 Millionen, zur Berathung. Der Referent Gis- kra beantragte gegenwärtig in die Berathung der Vorlage nicht einzutreten, sondern die Regierung aufzufordern, ungesäumt den Berliner Vertrag zur verfassungsmäßigen Behandlung vorzulegen. Der Abg. Heilsberg stellte ein Amendement zum Texte des Berichts des Inhalts, daß der Berliner Vertrag vor der Ausführung des darin Oesterreich übertragenen Mandats der Reichsvertretung un bedingt zur Genehmigung vorzulegen gewesen wäre. Das Amendement Heilberg's und der Antrag Giskra's wurden angenommen. Wie dem „Reuter'schen Bureau" aus Con- stantinopel vom 30. October gemeldet wird, fin den gegenwärtig wieder Besprechungen zwischen Oesterreich und der Pforte zur Herbeiführung eines definitiven Arrangements in Betreff Bosniens statt. Der Gesammtverlust der österreichischen Occupationsarmee in Bosnien und der Herzogewina mit Ausschluß der bei Maglaj ge bliebenen Husaren, ferner der Gefallenen bei dem Sturm auf Bihol und der in den Gefech ten um Peci Gefallenen beträgt 4786 Mann, und zwar 3885 Verwundete, 666 Todte und 235 Vermißte. In Frankreich haben vergangenen Sonntag die Wahlen der Gemeindedelegirten stattgefunden, denen die Theilnahme an der Ergänzung des Senats Vorbehalten ist. Auf Grund des nun mehr bekannt gewordenen Resultats hält man eine künftige republikanische Senatsmajorität für gesichert. Bezüglich des Attentates aus den spanischen König wird gemeldet, daß im Momente des Atten tates eine Menge Soldaten in der Nähe des Königs waren und infolge deffen der Frevler, der sich Juan Oliva Mucasi nennt, sofort er griffen und inmitten einer bewaffneten Abtheilung nach dem Gefängniß abgeführt wurde, wodurch er vor der Wuth des Volkes, namentlich aber des „schwachen" Geschlechts, beschützt wurde. Die von ihm abgeschoffene Kugel verletzte Niemanden, obwohl der Platz, wo das Attentat stattfand, und die in denselben mündenden Straßen, dicht ge drängt voll Menschen waren. Nicht minder merck- würdig ist der Umstand, daß der Pariser „Figaro" schon am 11. d. die spanische Regierung vor einem Complote warnte, das gegen sie und die