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St»««. 17.0tt»d«r imo MM Reglerungserklürung Brünings Altbackene Ware „Aus der Not der Zeit geboren." Das ist das Motto, mit dem seit langem jede programmatische Erklärung der Reichsregierung an die Öffentlichkeit zu treten pflegt. Auch die Regierungserklärung des Reichskanzlers Dr. Brüning steht unter diesem Lettspruch. Und doch möchte es in diesem Fall richtiger heißen: aus der Not eines Kabinetts geboren, das ohne Mehrheit im Parlament und sogar ohne zuver lässigen Rückhalt bei der Minderheit, aus die eS sich stützt, den Boden unter seinen Füßen wanken fühlt und nun, vor sichtig tastend, nach der parlamentarischen Grundlage sucht, die ihm seine Existenz ermöglichen soll. Kein Wort hat Dr. Brüning darüber gesagt, mit welchem politischen und morali schen Recht er vor diesen Reichstag tritt, dessen Zusammen; setzung alle seine vorscptemberlicheu Hoffnungen zerschlagen hat: warum er das Bolksurteil gering schätzen zu dürfen glaubt und wie er sich die Zukunft einer Regierung denkt, die den Ruck nach rechts und die Anwesenheit von 107 National sozialisten im Reichstag ignorieren will. Darüber hätte man zum mindesten Aufklärung erwartet. Irgendein Führer wort, das die Bolksmassen aufgerüttelt, bas erschütterte Ver trauen befestigt und die Notwendigkeit gerade dieser Re gierung und des von ihr gesteuerten Kurses bewiesen hätte. Nichts von alledem! Der in den Wahlen geschlagene Kanzler tut, als ob in den letzten vier Wochen nichts geschehen wäre, und was er diesem so völlig gewandelten Reichstag als Regierungserklärung serviert, bas ist im besten Falle eine Reihe von Variationen um sein längst bekanntes WirtschaftS- lind Sanierungsprogramm. Nicht, als ob bas unwichtige Dinge wären. Und nicht, als ob die gemachten Vorschläge durch die Bank untauglich und verwerflich seien. Aber bei allen diesen in breiter Aus führlichkeit aufgeworfenen Problemen der Finanz-, Wirt- lchafts-. Sozial-, Kultur-, Wehr- und Außenpolitik ist doch die erste und im Augenblick entscheidende Frage» welche Männer sic lösen und auf welcher Seite des Hauses sie sich die notwendige Hilfsstellung suchen wollen. Links oder rechts? Dieser Frage ist der Kanzler vorsichtig ausgewichen. Vorläufig will er es mit niemandem verderben und alle Türen ossen halten. Aber daß er die ersten Hindernisse der Mißtrauensvoten mit dem roten Springer nehmen will, ist längst kein Geheimnis mehr. Und daraus resultiert das wohlbegründete Mißtrauen der Rechten auch denjenigen Teilen des Regterungsprogramms gegenüber, die mehr oder weniger antimarxistisch gefärbt sind. Mit Recht sagt man sich, daß hier die Sozialdemokratie einsetzen wirb, wenn sie erst einmal Einfluß auf die Regierung gewonnen hat, daß sie gerade die gesunden Grundsätze der vorgesehenen Wirtschafts- und Sozialpolitik so lange umbtegen wirb, bis der alte Schlendrian wieder über den Reformwillen triumphiert. Nicht die einzelnen Maßnahmen sind versehlt, aber die ganze Richtung ist falsch, in der Brüning zu starten versucht. Wenn dieser Reichstag auch noch nicht die klare Ent scheidung zwischen rechts und links gebracht hat, so ist er doch auch kein taugliches Versuchsfeld für die Schaukelpolitik mehr, mit der uns Marx dereinst an der Nase herumgesührt hat. Hier muß Farbe bekannt werden. Und weil Brüning das nicht tut, dem Sinn seiner Sendung und dem Wahlaussall zuwider, weil er im Gegenteil neue Fäden nach links spinnt, und darüber hinaus offenkundig mit Dtktatur- absichten gegen die Rechte spielt, darum vermag der Inhalt seiner Regierungserklärung das Mißtrauen nicht zu zer streuen, das ihm von der rechten Seite des Hauses in steigendem Maße entgegenflutct. Geht man aus die Einzelheiten des unter lebhaften Stürmen aus der Rechten und Linken des Hauses vorgetra- gcnen Rcgierungsprogramms übe^, so wird man feststellen dürfen, daß es sich aus fleißigen Referaten aller zuständigen Ressorts zusammensetzt. Deutlich merkt man, wie alle in Frage kommenden Gruppen ihr Teil abbekamen, die Land- wirtschast, die Sozialdemokratie, die Wirtschaft und der Zentrumsblock, die Wehrmacht und die Kartelle, die Beamten schaft und der deutsche Osten. Aus alledem, was vorgetragen wurde und was zu sehr großen Teilen sachlich durchaus ver nünftig ist, leuchtet aber kein überragend neuer Ge- sichtspunkt. Der Leser versällt von einer Depression in die andere angesichts des mangelnden Schwungs, der politi schen Phantasielosigkeit und des Fehlens jeglicher psycho logischer Einsühlungsmomente in die Forderungen von heute und morgen. Soweit sich die Erklärung mit den tm Finanzprogramm skizzierten Gesetzentwürfen befaßt, ist das Notwendige bereits In diesem Zusammenhang gesagt worden. Nicht unbedenklich ist dabet vor allem die Art. wie der Kanzle- zwischen der Be willigung des notwendigen Ueberbrttckungskredites und den sonstigen Fragen, an denen die Existenz seines Kabinetts hängt, eine neue Art Junctim herzustcllen versucht. Nicht «us den Worten, aber zwischen den Zeilen kann man herauS- lescn. daß eine andere, nämlich eine Rechtsregierung, tm Au», land, da» heißt bet den Trtbuttnteressenten, nicht das Ber. trauen besitzen würbe, das zur Abwicklung internationaler Finanztransaktionen unerläßlich ist. Mit solchen Argumenten möge man un» verschonen. Letzten Endes werden sich auch die Tributglänbiger nach den Verhältnissen richten müssen, wie sie in Deutschland wirklich sind und nicht, wie sie und die deutschen ErfüllungSsanatiker sie haben möchten. Die Behandlung der Trtbutsrage bleibt denn huch der wunde Punkt dieser Regierungserklärung. Gewiß ist. wie Brüning sagt» die Ordnung der inner«» Verhältnisse Bedingung und Voraussetzung für jede Art von RevtsionS» Politik. Mit leeren Kassen und notleidenden Finanzen würden wir bei einem neuen Vorstoß sicher ebenso kläglich scheitern, wie wir in Paris und tm Haag gescheitert sind. Das ist aber kein Grund, jetzt, wo alle Welt auf die Anmeldung deutscher Nevisionsfordcrungen wartet und die Atmosphäre günstig ist, so leise zu treten und den Volkselan so zu bremsen, wie es nach des Kanzlers Presseerklärungen nun auch sein Regte- rungsprogramm tut. Da hat im Sächsischen Landtag, als dieser Tage die Uoungrevision zur Debatte stand, trotz der Vielheit der Meinungen tm einzelnen doch ein frischerer Geist geherrscht, von dem Brüning leider immer noch keinen Hauch verspürt. Ueberhaupt diese Außenpolitik! Sonst ist es ein immanentes Gesetz der Politik, daß ein Regime, dem inner- politisch der Boden unter den Füßen brennt, außenpolitisch aktiv wird. Auch dieser Lehrsatz ist vom Reichskanzler in seiner Regierungserklärung nicht befolgt worden. Es hätte aber um so mehr Veranlassung dazu bestanden, als die ge samte Rechte des Hauses seit Wochen und Monaten daraus hingewiesen hat, daß der Gesichtspunkt „Erst Brot, dann Reparationen" oberstes Gesetz der deutschen Politik sein müsse und daß es kein Volk der Erbe gäbe, dem dafür Verständnis bcigcbracht werden könnte, daß man zur Er- süllung außenpolitischer Erpressungen dem Volke den Hunger- rtemen bis ins letzte Loch anziehen muß. Es wäre also zu- mindest ein Gebot der Klugheit gewesen, wenn der Reichs kanzler in seinem Regierungsprogramm der außenpolitischen Problemstellung Deutschlands in breiterem Rahmen und ge haltvoller gedacht hätte, als es in Wirklichkeit geschah. AuS der Regierungserklärüng muß man so viel entnehmen, daß die Reichsregierung nicht will e n s ist, n e ue auße ». politischeWegezubeschreiten, sondern daß sie ledig- lich sortsährt, unverbindliche Klagereden über die Unbill zu führen, die uns von außen angetan wird. Reden, die noch niemals zu einer Aenüerung außenpolitischer Konstellationen oder zu einem Nachlassen des aus uns lastenden Druckes Veranlassung gewesen sind. Ein Mann in der Lage des Reichskanzlers, der innenpolitisch nicht mehr viel zu verlieren hat, scheint mit dieser Rede bestrebt gewesen zu sein, auch noch außenpolitisch, wo doch alle Welt gleichsam aus eine Aktion wartet, die Verneinung jeglichen aktiven Vorgehens als letzte Weisheit zu dekretieren. Was er uns außen- und innen politisch erzählt hat, bezeichnet man in den Wandelhallen gesprächen schlechthin mit dem Wort, das über diesen Aus führungen steht, als „altbackene Ware". Alles in allem, die Botschaft Brünings hört man wohl, aber was fehlt, das ist d e r G l a u b e an seine rettende Kraft. Der Glaube an die Männer, die das Geschick Deutschlands seit der Ablösung der Regierung Müller-Franken in den Händen haben, ist aus dem Nullpunkt angelangt. Dieser entscheidende Gesichtspunkt wird überall dort cm"kunben werden, wo man das Regierungsprogramm kritisch zu würdigen berufen ist. Bevor nicht die Minister wechseln, ehe nicht diejenigen ab treten, deren jedesmal mit Fanfarentönen neu verkündetes Programm drei Wochen später revidiert werden mußte, wird es kaum eine parlamentarische Basis für Deutschlands Regie rung geben können, die politisch notwendig ist. Die Regierung Brüning ignoriert das Wahlergebnis vom 14. September. Das hat sie von neuem bestätigt. Die Abstimmungen über die Mißtrauensvoten werden erweisen, ob der Reichstag nun seinerseits das Kabinett ignoriert und in seiner neuen Zu sammensetzung die Fähigkeit hat, neue Männer in die Reichssührung zu berusen. Keim Kursänderung der AußemMik Berlin, IS. Okt. Auf der Tagesordnung der heutige» Sitzung steht als 1. Punkt die Entgegennahme einer Er» klärung der Reichsregieruug. Damit verbunden sind die Notverordnung vom SS. Juli 19SS» das Schuldentilgungsgesetz «nb 21 Anträge» die von den verschiedenen Parteien aus Ansheb « ug der Notverord nung» Aushebung oder Revision des AonngplaueS, auf Durchführung der F-meamneftie «nd ,« andere« innen» und außenpolitische« Frage« gestellt find, sowie die Beratung über die MisttrauenSanträge. In der Loge des Reichspräsidenten wohnt ber japanische Prinz Takamatsnra mit seiner Gemahlin ber Sitzung bei. Präsident Löbe teilt bei Eröffnung der Sitzung das Er gebnis der gestern vorgenommenen Schriftführerwahl mit und gibt dann dem Reichskanzler das Wort zur Regierungs erklärung. Reichskanzler Dr. Brüning wirb von den Kommunisten mit dem Ruf empfangen: „Nieder mit dem Hungerdiktator!" Er beginnt seine Rebe mit einem Hinweis auf die schwere Wirtschaftskrise, die sich nicht auf Deutschland allein beschränke. Sie werden von ber Neichsrcgierung nicht erwarten, so erklärt der Kanzler, daß sie sich mit den Dingen der Vergangenheit beschäftigt. (Lärm b. d. Kom.) Die Reichsregierung legt ein Wtrtschasts- und Finanzprogramm vor, mit dem sie die schlimmsten Wirkun gen der wirtschaftlichen Krise zu beheben gedenkt. Voraussetzung für die Durchführung dieses Wirtschafts» und FinanzresormprogrammS ist die Ausrechterhaltung der Notverordnung» die die Reichsregierung am 26. Juli 1SS0 erlassen hat. Die Neichsrcgierung fordert die Ablehnung ber Anträge auf Aufhebung ber Notverordnung. Diese Notverordnung er möglicht die Balancierung des Reichshaushaltes und damit eine Durchführung der Sozialpolitik. sLärmender Widerspruch b. d. Kom.) Präsident Löbe ruft den Abg. Leow sKomm.) wegen seiner Zurufe zur Ordnung und kündigt schärfere Maß- nahmen an. Reichskanzler Dr. Brüning fortfahrend: Die ReichS- regicrung wird sich der Beratung der Notverordnung im NeichstagSauSschuß nicht wtdersetzen. Sie enthält »«entbehrliche Borschrifte« über die Gemeindesiuauzie» r»ng «nd die LLaderhauShalte. find d««ch sie erschlossen. - Gestalt haben eine Gestaltung ersten. zMlverstchernn^ erst möglich ma deutsche« Ofthilfe durch Nene Einnahmequellen Teile der Sozialversicherun die eine Rettung der So Nicht zuletzt ist das Werk in Angriff genommen. Da» Defizit deS nächsten Fahre» wird aus 1 Milliarde »«schützt. (Hört! Hört!) Mit neue« Steuer« «nd Laste« nicht zu beheben. Daher hat die Regierung Anleihen beholfen. Aber inzwischen hat der Geldmarkt sein Gesicht verändert. Biele deutsche Kapitalisten habe« in Verblendung «nd mangelnder Staatsgeslnnung ihr Gelb ins A « Slanb gebracht. (Lebh. Hört! Hört! - Rufe h. d. Komm.: «Da drüben (rechts) fitze« Kapttalperschieberl") Hätte das Treib«« dieser Elemente nicht »usere Finanzen auss schwerste ist die «ot sich bisher mit der Gell geschädigt» dann wäre ber deutsche Geldmarkt wohl in der Lage gewesen» unseren dringendsten Finanzbedars zu be friedigen. So aber waren wir genötigt, uns au das Ausland zu wende«. Bom Ausland haben wir die erforderlichen Mittel zu befriedigenden Bedingungen erhalte« unter der Voraussetzung, daß die Ermächtigung zur Aus, nähme «nd Tilgung der Anleihe planmäßig scstgelegt wird. Ich richte an Sie, meine Herren, die Aufforderung, dasselbe Vertrauen zur deutschen Wirtschaft und zur Regie rung zu haben wie das Ausland. (Lärm und lebhafte Zurufe rechts «nd b. d. Komm.) Die Reichsregieruug hat ihr Sanierungsprogramm be reits veröffentlicht. Seine Grundlage ist ein vollkommen ausgeglichener Haushalt für 1SS1, die Selbstänbig- machnng der Arbeitslosenversicherung, Sparsamkeit aus allen Gebiete«, auch bei den Gehälter« sUnrnhe), Verein fach««« des behördlichen Apparats, besonders auf dem Gebiet der Gteuerverwaltnug, sowie die Vorbereitung eines endgültigen Finanzausgleichs, durch den den Ge meinden auch die Verantwortung für die Einnahmen auserlegt wird. Die Reichsregicrnng will keine danerude Senkung des Reallohns, sie will aber das ««haltbar gewordene deutsche Preisgebände unter alle« Umständen ins Wanken bringen. Das ist nicht zu erreichen, wenn nicht auch eine gewisse BeweglichkeitindieGehälterundLöhne gebracht wird. (Unruhe links.) Alle Schichten des deutschen Volkes müssen Opfer bringen. (Ruse b. d. Komm.: „Aber die Besstz- steuern werden gesenkt!") Dazu brauchen wir auch die Mit- Hilfe der Beamtenschaft. (Abg. Torgler. Komm.: „Das ist immer wieder der alte Schmus!") Die Beamtenschaft wird das Opfer bringen trotz der Hetze mancher Kreise gegen das Berufsbeamtentum. (Unruhe links, Ruse b. d. Komm.: Stegerwald! — Abg. Möricke, Komm., erhält einen Ordnungs ruf.) Die Regierung wird ungerechte Angriffe auf die Be amten abwehren. Sie nimmt für sich in Anspruch, daß sie sich an sozialer Gesinnung von keiner ihrer Vorgängerinnen Über treffen läßt. (Lärmender Widerspruch b. d. Komm.) Aber wir können nicht Sozialpolitik im luftleeren Raum machen. Eine blutleere Volkswirtschaft und ein zusammengebrochener Staatshaushalt wären nicht mehr in der Lage, die Sozial politik weiter burchzuführen. Die Negierung wird alles tun. um möglichst viele Arbeitswillige und Arbeitsfähige wieder in Arbeit und Brot zu bringen. Unter allen Umständen aber wird sie eine «mSreichende Unterstützung der Arbeitslose« sichersten««. Sie wird da» SrbettSschutzgesetz wieder vorlegen. Dazu ein Neuis: VW ver «LN» - «rskttalirer Seite 17 unck IS