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Herausgegeben von vi. Otto Kammer 1863. Friedrich Georg Wieck s Ur. 38. Achtlttldzwlttlzigster Jahrgang. Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postämter. Wöchentlich ein Bogen. Die sociale Frage. Bon Adolph von Carnap, König!. Kommerzienrath. I. An die politische Strömung, welche vor 15 Jahren, gleich einer wilden Fluth das deutsche Vaterland durchzog, reihten sich unmittel bar die gewerblichen, handelspolitischen und socialen Fragen unserer Zeit. Das Bcdürfniß der Neugestaltung mancher Verhältnisse war lange schon von allen Schichten der Bevölkerung lebhaft empsunden, und für diese Erschütterungen ein mächtiger Hebel; in der thatsäch- lichen Erscheinung jener Mißverhältnisse und Uebelständc erkannte man die dringende Nothwcndigkcit, sich mit ibr zu beschäftigen, ja sah die politische und sociale Reform wie die beiden cngvcrflochtenen Zeitfragen an, welche mit verwandten Ansprüchen ihre Lösung suchten. > Doch bald lagen die Geister im Kampfe wider einander, bis in ! die tiefsten Schichten der Gesellschaft. Wie war die Verschiedenheit der Ansichten so überwältigend groß, wie die öffentliche Meinung über das eigentliche Bcdürsniß und die richtige Abhilfe so gespalten. Die Sorgen für das Gemeinwohl, die früher nur eine Folge ungewöhn- lichcr Zeit und Umstände gewesen, waren das andauernde Erbtbcil eines Zustandes geworden, in dem die Strömungen des socialen Le bens den ruhigen normalen Gang verloren. So lange die zu allen j Zeiten bestandene Ungleichheit der Verhältnisse entweder nur als eine Folge eigener Verschuldung sich erwies, oder bei gleicher Anstrengung > und Mühe in der Regel dem minder Glücklichen meist immer noch die- ! jenigcn Güter zutheiltc, welche die Familie bei mäßigen und beschei denen Ansprüchen nothwcndig bedarf, blieb der in dieser Ungleichheit liegende Stachel stumpf nnd wo aber auch der Fleiß und die Arbeitsamkeit das Nothwcndige nicht mehr zu erringen vermögen, ein ganzes Leben voll intelligenter Mühen vor der Noth nickt schützen, dem Alter vor der Armutb und dem Elend keine Aussicht mehr bie ten, da kann cs nicht auffallen, wenn das Gefühl unerträglichen Un behagens und leidenschaftlicher Neidigkcit den berufs- und besitzlosen, unter und neben uns grollenden, mit ych nnd Leben zerfallenden Menschen erfaßt. Die vorstehend geschilderte sociale Frage, diese bedenkliche Krank- heii unserer Tage, trat in der gedachten sturmbewegten Zeit um so schärfer auf, als Theurung und Arbeitslosigkeit eine außergewöhnliche Notb erzeugte, und kaum die Grenzen des Landes verlassen hatten. Allenthalben bildeten sich die verschiedenartigsten Vereine; in allen Klassen der schaffenden Bevölkerung wurden Berathungen gepflogen, um den sich widerstrebenden Interessen Geltung zu verschaffen; Ver einbarungen wurden ebenso rasch wieder vergessen als geschlossen und Theorien gehuldigt, die in ihrer Einseitigkeit wie ihrer utopistischen Anlage die Aussicht auf Verwirklichung niemals eröffnen konnten, dennoch aber durch ihre Schlagwörter und Vorspiegelungen zur Auf regung führten und eine Lösung erstrebten, die überhaupt unter dem Eindruck drohender Umwälzung in ersprießlicher Weise um so sicherer nicht gefunden werden kann, je weniger sie es vermag, einer tief in die materiellen Verhältnisse der Gesellschaft eingreifenden Verwirrung jene Auflösung zu verschaffen, die einer organisierenden, ans dem Be stehenden in das Neue allmälig hinübcrführcnden, nicht zerreißenden, sondern an- und fortspinncnden Kraft bedarf. Wenn aber nur in den Zeiten der politischen Ruhe auf dem Ge biete der socialen Verhältnisse mit Erfolg zu schaffen, zu bessern und zu heben ist, so trägt diese Zeit eine doppelt große Verantwortlichkeit, wenn sic für die Hebung und Ausgleichung dieser Verhältnisse unbe nutzt vorübergeht. Zwar hat der gewaltige Wellenschlag jener un fruchtbaren Ideen und Anschauungen, welche die Grundpfeiler der Gesellschaft erschütterten, das brausend verschlingende Getöse längst wieder verloren, die innere Bewegung aber ist geblieben und wird andaucrn, bis ein ausreichendes Heilverfahren angctreten ist. Daß man das zunehmende Nebel in seinen Elementen, wie die Notbwendigkcit der Abhilfe allseitig erkannte, und cS cinsah, daß eine Krankheit noch nicht geheilt ist, wenn ihre äußeren Symptome durch heroische Mittel glücklich beseitigt worden, dafür zeugt so manche zur Zeit der Wiederkehr der gesetzlichen Ordnung ergriffene Maßnahme. Als solche erscheint der allgemeine Gedanke, der in Preußen dem Ge setze vom 9. Fcbr. 1849 zu Grunde liegt, namentlich aber das In stitut der Gewcrbcräthc, die Regelung der Arbeitszeit für jugendliche Fabrikarbeiter, das Bekämpfen des Trucksystems, diese Vertretung der Arbeitnehmer; der Schutz des Handwerks gegen Fabrik und Ma gazin, sowie die gewerblichen Unterstützungskassen und die Beiträge der Fabrikinhaber, Maßnahmen, welche schon an sich den Be ¬ weis liefern, daß der Staat nicht allein Helsen kann, sondern auch mit Helsen muß. Jede Zeit hat ihre Anforderungen und macht sie geltend; der ! unsrigcn ward ein gesellschaftlicher Organismus überliefert und eine Aufgabe Vorbehalten, wie die Geschichte ihn früher nie gekannt. Wo noch öde, unbebaute Steppen in Menge sich finden, der Urwald noch große Flächen bedeckt, die Natur meist allein den Boden befruchtet, überhaupt die Entwicklung aller Kultur noch in den Anfängen liegt.