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Nr. ISS »0 Juli I8S« »Wahrheit und Recht, Freiheit und Erseh!» Preis für das Vierteljahr I'/, Thlr.; jede -«„eine Nummer 2 Ngr. Insertionsgebühr für den Raum einer Zeile 2 Ngr. Donnerstag. DeHitzia. Di« Zeitung erscheint mit Ausnahme de« Montag« täglich und wird Nachmittags 4 Nhr auS- gegeben. ' Zu beziehen durch alle k M st st S Postämter des In- und Deutsche Agmewe Zntuug. Locomotive, Telegraph und Tage-preffe. iv. Im Beginn dieser Aufsätze wurde darauf hingewiesen, daß das Tele- gkaphenwesen für letzt nur noch in seinen Anfängen ficht. Trotz des im Großen bereits ziemlich vollständigen Netze-, welche- sich über Europa aus- breitet, bleiben doch noch große Lücken in den Maschen, sind Nebenleitun- grn fast nur Ausnahmen. Die relative Wohlfeilheit der Herstellung von Telegraphenleitungen, sowie der Umstand, da- all« Lerrainschwierigkeiten dafür beinahe nicht in Betracht kommen, vornehmlich aber die Nothwendig- keit, auch solch« District« mit dem Weltverkehr zu vermitteln, zu welchen Eisenbahnen nicht hindringen können — die- Alle- wird und muß dereinst LaS Lelt^raph«nn«tz so eng und vielmaschig machen, daß endlich kein irgend ntnneaSwrrther Ort mehr existirt, welcher nicht unmittelbar hineingefiochten ist. D«n ohne Eisenbahnen und Telegraphenverbindung wird eben seine Hrifknz unmöglich. Dies klingt heute fast unglaublich, da dir Einperlei, bung eines Punktes in das Telegraphcnnetz noch mehr oder weniger von dem Zufall abhängt, ob er in der Richtung wichtiger Hauptlinicn liegt. Aber endlich wird und muß der Telcgraphendraht ein unumgängliche- Com- plement der Post-, Dorf-, Local- und Vicinalwege werden, ohne deren Vorhandensein selbst die bescheidenste Theilnahme eines Menschensammel- platze- am Landes- und Weltverkehr uns ebenfalls nicht denkbar ist. Wäh rend dagegen und gerade weil es immer ganze Distrikte geben wird und muß, wo die Anlegung von Eisenbahnen entweder durch Terrainhindernisse ebenso unmöglich ist, wie heute die Anlegung von wirklichen Heerstraßen und Ehausssen, oder wo doch ihre Rentabilität mit den Erbauung-- und Betriebskosten gar niemals im Verhältniß stehen kann — eben darum muß dorthin die wohlfeile Telegraphie dringen, damit der District nicht in sich selbst verkümmere. Mit dieser Nothwendigkeit einer so detaillirten Telegra- phenlinie muß auch ein ganz anderes Emstehungsverhältniß der Nebenlei- tungen sich entwickeln als das bisherige. Die Anlage neuer Linien und besonders der kleinern Abzweigungen kann auf die Dauer nicht ausschließ lich in den Hg'nden des Staats bleiben, sondern muß den provinziellen und eommunalcn Kräften, schließlich dem Privatunternehmer ebenso gestattet wer den wie die von Nebenstraßen mit oder ohne Schien«» schon heute. Auch sehen wir ja diese Eventualität von der Gesetzgebung Preußen- in- Auge gefaßt. Es muß aber selbst die Anlegung von Concurrenzlinien neben den bestehenden, gerade wie bei den Eisenbahnen, nicht mehr in da- Gebiet der Unmöglichkeit verwiesen bleiben. Dieses „es muß" ist keineswegs bloS eine kategorische Foderung theo- retischer Ueberzeugungen. Nein, eö ist vielmehr eine Frag« der Zeit und zwar einer relativ sehr nahen Zeit. Denn die von den natürlichen Wasser straßen, großen Gebirgspässen/Führten, Brücken rc. von jeher entwickelten Zustände des volkswirthschaftlichen Lebens sind durch di« Eisenbahnen Hun- dertfach potenzirt und in immer grellern Gegensätzen zu den derselben Ver- kehr-mittel entbehrenden Landstrichen entwickelt worden. Welche Klagen tönen un- fortwährend au- den Gegenden, welche der Wohlthat einer Eisenbahn entbehren! Sie zeigen in kleinen Maßstäben kaum geringere Uebelstände al« etwa jene Fruchtlande Rußland«, welch«, weil ohne Communications- mittel, nur in Jahren allgemeinen MiswachseS der Gefahr entgehen, mit- ten im Ueberfluß ihrer Produkte zu erstick«», ökonomisch zu verderben. Da- gegen hat sich am.Uferrande der Dampfbahnen die Massenhaftigkeit derB«- vilketung in fast unglaublicher Weise vermehrt, hat der kaufmännische Ver- kehr dort seine Warren fast ausschließlich aufgestapelt, hat der — um uns so auSzudrückrn — wandernde Erwerb sich fast ausschließlich dorthin gewen det. Dort bewegt und regt sich das Leben tausendfältig, dort strebt und arbeitet «s in immer neuen Entwickelungen, dort vereinigt es seine besten Kräfte und dorthin wendet eS seine umsassendsten Unternehmungen. Da- gegen liegen die von der Eisenbahn entfernten Kreise, namentlich in indu strieller Hinsicht, vergleichsweise todt; ihrem Unternehmungsgeiste fehlen die äußern Unterstützungsmittel und in ihnen vorzugsweise ist dir Au-wande- rung-sucht entwickelt. Der Mangel an zeitgemäßen CommunirationSmilteln entvölkert sie und hemmt selbst eine Gleichmäßigkeit ihre- Culturfortschritts mit den Uferlanden der Eisenbahnen. Dagegen ist wiederum in diesen eine natürliche und darum ganz un vermeidliche Folge ihn- eigenthümlichen Aufschwungs die Verthcuerung der Lebensbedürfnisse, des Lohne- und aller Arbeit. Weiter eine gewisse Un- stetigkeit der erwerbenden Bevölkerung, «in Zurücktreten der Rohprodultion (z. B. Im Feldbau) gegen die Herstellung feinerer, aber auch zufälligen Conjunkturrn mehr unterworfener Artikel. Der Bauer, welcher bis zum Entstehen einer Eisenbahnstation sein ganzes Feld mit Getreide und Kar toffeln bestellte, wird nach Einrichtung dieser Station nebst Restauration sehr bald einen Acker dem feiner» Gemüsebau widmen, oder Taback-pslan- > zungen anlegen rc. Der kleine Schmied oder Schneider oder Schuster, welcher bisher auf sein Gewerbe kaum fortkommen konnte, jedoch immer- hin eine locale Nothwendigkeit blieb, wird, wenn er die Kräfte dazu hat, seinen Gewerbbetrieb nunmehr dem fliegenden Verkehr und dessen Bedürf nissen besser accommodiren oder sein selbständiges Gewerbe mit einem Posten bei der Eisenbahn vertauschen rc. Diese ewigen Wandlungen und Ver- änderungen in den localen ErwerbSarlcn machen aber jeden solchen Ort und jede solche Gegend zu höchst »»sichern Faktoren in der Wahrscheinlich- keitsrechnung über die Erzeugung bestimmter Productenmengen. Ein Kor«, distrirt verwandelt sich binnen wenigen Jahren in einen Maisdistriet, ein Kartoffeldistrlet in einen Tabacksdistrirt, ein Leinwandweberdorf in einen Baumwollrnindustriedistrict, ein Fabrikationsplatz in einen Platz des Tran- sitohandel-rc. Das allgemeine Bedürfniß kann jedoch einer wenigstens an- nähernd ständigen und zuverlässigen Production in bestimmten Gegenden nicht entbehren, wenn nicht ein so starkes Schwanken und Oscilliren ent stehen soll, daß endlich selbst der solideste Handel und die berechtigtste Specu- lation ihre geographische und ethnographische Basis verlieren, steuer- und ruderlo- dem Zufall anheimgegebrn und fast unwiderstehlich in da- Wel- lengebrause schwindelnder Conjuncturen hinausgestoßen werden. ES zeugt für gedankenlosen Unverstand und volkswirthschastliche Un- kenntniß, wenn man die starke Neigung zu schwindelnder Spekulation aus dem „Mangel sittlicher Grundlagen" des heutigen Menschengeschlechts ab- leitet und mit allerlei Strafgesetzen auf die Dauer unmöglich zu machen oder mit aufgezwungener Uebcrkirchlichkeit zu unterdrücken gedenkt. Denn diese schwindelhafte Neigung ist eben nichts al- die ganz natürliche Regel losigkeit der Thätigkeiten und Bestrebungen auf materiellem Gebiete, welche, herausgewachsen aus sehr bestimmt gegebenen Verhältnissen, durch deren plötzliche Umgestaltung den gewohnten Boden nicht mehr in gewohnter Wrise bearbeiten und auSbeuten können und doch neue, feste Grundlagen noch nicht gefunden haben. Wenn aber bei der Erderschüttcrung der hohe Pa- last gewaltiger schwankt als die Erdhütte, so liegt darin kein Beweis da für, daß Erdhütten zweckmäßiger sind als Paläste, und daß etwa mit einer „Umkehr zur Erdhütte" der Aufgabe der Cultur und Moral zu genügen sei. Eine eben solche Erschütterung, deren Grundgesetze uns nicht viel tla- rer sind als die eines Erdbebens, durchzittert nun seit Anwendung der neuen Verkehrsmittel alle geschäftlichen und socialen Verhältnisse. Sie wird mit ihren Schwingungen auch solange fortfahrcn, bis die Einrichtungen der neuen Verkehr-Verhältnisse durchgeführt sind bis auf die letzte. Wir können ihre Gestaltungen gar nicht bis in Einzelne bemessen, weil eben die Ver- kehrSentwickelung noch eine anfängliche ist. Die nächste Nothwendigkeit ist nur, mit allen Kräften ihre Durchführung nach jeder Richtung zu beschleu nigen und so eine relative Wiederbefestigung bestimmter Grundlagen für die Arbeit des materiellen Leben- möglichst bald herzustellen. Aber sind wir etwa nur mit dem seit einem Menschenalter üblichen Locomotiv- und Schienenwege in der Nähe dieses Zieles angelangt — des viel jünger« Telegraphen gar nicht zu gedenken? Nicht entfernt. Aller- ding- haben wir Berge übersteigen, uns in engen Curven drehen gelernt und damit der Schienenlegung wieder ein ungeheures Terrain erobert. Auch drängt schon die Landlocomotive den Dampfer überall in den Hintergrund. Auf den großen Straßen von Erdtheil zu Erdtheil ist er bereit« nicht viel mehr als eine Nebencinrichtung, ein Nothbehelf für die Strecken, in denen die Schienenstraße durch Meereswogen unterbrochen ist. Aber alle Abwei chungen der Schienenstraße von der geraden Linie, jede Hebung, Senkung und Biegung benehmen ihrer Sicherheit gerade soviel, als sie an Ablen- kungsfähigkeil gewinnt. Diese Sicherheit auch unter ungünstigen Verhält- nissen festzuhalten und ihr Maß zugleich zu vergrößern, dahin gehen seit Jahren alle wesentlichen Anstrengungen der Technik. Dieselbe befestigt also vorläufig nur die ursprünglich errungenen Siege. Ihre Resultate wciterzu- verfolgen, sind bisjctzt nur schüchterne Versuche gemacht. Die Anwendung der Lokomotive auf nicht beschienter Straße scheint solch ein erster Schritt werden zu sollen; doch ist vorläufig seine Gewißheit noch sehr problematisch. Ebenso fraglich, erscheint daS Gelingen der Aufgabe, neue wohlfeile Loco- motivkräfte anstatt des Dampfes zu finden. Ja, eS fragt sich, ob selbst nur eine Möglichkeit gefunden wird, die ungeheure Masse nutzlos erzeugter Dampfkraft, welche heute jed« Lokomotive als lustige Wolkensäule in den Wind bläst, zur Mitarbeit zu zwingen. Solange aber derartig« Weitcr- entwickelungen der Fortbewegung durch lokomotorisch« Kräfte nicht gelingen, ölang« die Lokomotion nicht auch auf ander» Wegen al- den Schicnenglei- en statlfindet, solange nicht der einzelne Privatmann auf wcite Strecken md in beliebigen Richtungen seine eigenen Lokomotiven auSsenden kann — ölange werden alle Landstriche in einer bestimmten Entfernung von den Eisenbahnen sich vergleichsweise in einer gewissen Abgeschlossenheit befinden. Diese erhöht sich nun unter den gegenwärtigen Verhältnissen dadurch, daß