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Nummer 9 — 26. Jahrgang «mal wöch. vezu-spreis für Januar 3,00 ^ einschl. öestellgelü Anzeigenpreis«: Die Igesp. Peiitzetle »0^. Siellenge such« SO L. Die Petitreklamezeile. 89 Milli meter breit, 1 ^l. Ofsertengebühren für Selbstabholer 2» bei Ueberfenüung ourch die Post außeckem Portozuschlag. Einzel-Nr. 1V Sonntags-Nr. 1S L. Veschästl. Teil: Friedrich Nieser in Dresden. SiiMwe Donnersiag, 13. Januar 1927 Im Faste höherer Gewalt erlischt jede Verpflichtung auf Lieferung sowie Erfüllung o Anzelgenaufträgen u. Leistung v Schadenersatz. Für unüeul! u. v. Fern, ruf übermitt. Anzeigen übernehmen wir keine Ler. antworlung. Uuocrlangt eingesanble ». m Rückporte nicht versehene Manuskripte werd nicht aufbewahrt Sprechstunde der Redaktion 2—3 Uhr nachmittags Hauptschristleit.: Dr. Joseph Albert. Dresden l7msrbeilung Uepsratur ^ukbevskrung Vonien vre,den ätrektenerLtr.S lr,i« 43477 «eschjift-ftell«» Druck und »Verlag r Saronia- »>!chdn>cker«l «mbH., Dresden il. l> PolierUratze 17» Fernruf rioie. Postscheckkonto Dresden I17S7. Bankkonto: Dresdner Bank, Dresden. Für christliche Poitiik und Kultur Sledalttau der «richstfchen Bolks»ettnn, DreSden-AItstadt l. PoUelstrasj« >7. gcrnrus A7III und rwl2. Das unfreiwillige »Opfer* Als gestern Mittag der unter mühseliger Geduld vor bereitete dritte Wahlgang um den Ministerpräsidenten im Sächsischen Landtage abermals mit einer Disqualifika tion des hohen Hauses endete, war die am Montag noch sehr hoffnungsvolle Lage plötzlich äußerst kritisch gewor den. Lauter tönte von den Plätzen der Kommunisten das „Weg mit diesem Landtag!" Und leise und zaghaft nur bat Herr Blüher um Zeit, um die neuen Scherben hlnwegräumen zu können. Wären es nicht die Deutsch- nationalen gewesen, die mit ihrem „Nein" alle Kombina tionen des Bortages kühn über den Haufen geworfen hatten, die Wetten auf Ableben oder Fortleben dieses Hauses hätten sicher wie 10:0 gestanden. So aber er innerte man sich an andere, heikle Situationen der deut schen Politik, wo ein „Nein" der Deutschnationalen um ein Uhr keineswegs ein „Ja" um fünf Uhr ausgeschlossen hatte. Volks rechtler und Nationalsoziali sten besannen sich darauf. Sie erkannten die Gunst die ses Augenblickes, der es ihnen zum erstenmal in die Hand gab, den Ausschlag in diesem Hause zu geben. Sie waren gewillt, den Posten des Gerichtsvollziehers zu überneh men, der die Stimmen der zahlungssäumigen Deutsch nationalen. die zur Kandidatur unerläßlich waren, auf dem Zwangs wege beitreiben sollte. Sie forderten die sofortige Einberufung einer neuen Sitzung noch am gleichen Nachmittage mit der Tagesordnung: Minister- Präsidentenwahl. Ja, die Volksrechtler, die es ja be kanntlich abgelehnt habe», als politische Partei gewertet zu werden, scheuten dabei vor der Drohung nicht zurück, sie würden ihre Stimmen dem sozialistisch-kommunisti schen Kandidaten Fleißner geben, wenn es mit den Deutschnationalen bis dahin nicht zu einer Einigung käme. Die Forderung nach einer sofortigen neuen Sitzung wurde angenommen. Die Deutschnationalen sie len unter dem Druck der Lage um. Und so kam Sachsen noch an diesem denkwürdigen 11. Januar 1927 zu seinem neuen, alten Ministerpräsidenten. Die Rolle der D e u t s ch n a t i o n a l e n bei dem Zustandekommen dieser Wahl erinnert tatsächlich an ihre Haltung bei früheren politischen Entscheidungen erster Ordnung. Sie halten solange als irgend möglich an ihren parteipolitischen Ueberzeugungen fest. Erst in der höch sten Not — hier in Sachsen drohte ernstlich ein Kabinett Fleißner —. wenn sie aus der Kneifzange der harten politischen Notwendigkeiten keinerlei Ausweg mehr sehen, dann fügen sie sich in ihr Geschick. Aber sie blei ben auch dann noch Deutschnationale! Man lese z. B. in ihrer Parteipresse: Die Deutschnationalen „waren bis her fast die einzigen, die aus staatspolitischem Veränt- wortungsbewußtsein Opfer gebracht haben, die un bedingt bis an die Grenze des für sie überhaupt Mög lichen gegangen sind. ... Sie haben damit ein Staats verantwortungsbewußtsein an den Tag gelegt, das von keiner sächsischen Partei auch nur annähernd erreicht, ge schweige denn übertroffen werden kann". Und reichlich zehn Zeilen weiter gibt das Blatt unumwunden zu, daß die Deutschnationalen „trotz allem unerschrockenen Wil lens zu positiver Arbeit niemals so weit hätten gehen können, wenn sie sich nicht in der drückendsten Zwangslage befunden hätten". Wir waren bisher immer der Meinung, daß zum Begriff des Opfers der freiwillige Verzicht gehört! Oder ist es für den Rechtsbrecher vielleicht auch ein Opfer gegenüber der menschlichen Gesellschaft, wenn er hinter Schloß und Rie gel wandert? Uns scheint, hier werden wieder einmal Begriffe zu politischen Zwecken zusammengebracht, die in Wahrheit nichts miteinander zu tun haben. Man würde sicherlich klüger handeln, wenn man offen beken nen würde, man habe einzig und allein dem unabweis baren Zwang der Lage nachgegeben, und zwar mit sehr starkem Widerwillen. Die moralische Wertung dieser politischen Handlungsweise darf man dann ruhig einem objektiveren Urteil überlassen. Wüßte man im deutschnationalen Lager Zwischen staatspolitischer Zwangslage, Klugheit und Opfer sinn gemäß zu unterscheiden, dann wären auch Seitenhiebe auf das Zentrum nicht möglich, wie sie die „Dresdner Nachrichten" mit folgender Anspielung riskieren: „An der rein staatspolitischen Haltung der Deutschnationalen ist nach der unerwartet weitgehenden Entsagung, die gestern zutage getreten ist, nicht einen Augenblick zu zweifeln. Insofern ist die Haltung der Deutschnationalen in Sachsen sogar ein lehrreiches Beispiel für die Links politiker des Zentrums im Reiche, die noch immer mit Lügen über eine mangelnde staatspolitische Einstellung der Deutschnationalen krebsen gehen." Das alles sind Redensarten, die offensichtlich über die peinliche Erkennt nis hinwegtäuschen sollen, daß die letzten Wahlen in Sach sen die Deutschnationalen in eine sehr schwierige Zwangslage hineinmanöveriert haben. Nachdem man erkannt hat, daß positiv-praktische Erfolge dank dieser Zmanaslage nickt mehr zu holen sind, ver- Zentrum unt» Flügelparteien Die Kernfrage -er Regierungsbildung — Curtius Besprechungen mit den Partei führern ergebnislos — Verhandlungen mit WirtschaftsverbSn-en und Gewerk schaften — Die entscheidenden sachlichen Fragen Berlin. 12. Januar. Der Vorstand der Zentrumsfraktion des Reichs tages hielt gestern abend eine fast dreieinhalbstündige Sitzung ab, a» der auch Reichskanzler Dr. Marx teilnahm. Ueber das Ergebnis wurde in der .zehnten Abendstunde folgende Mit teilung ausaegeben: Der Vorstand der Zentrumsfraktion ist sich daritber einig, daß der oorgeschlagenen Kabinettsbildung schwere außen- und innenpolitische Bedenken «ntgegenstehen. Einen Beschluß zu fassen war der Vorstand nicht in der Lage, bevor er die Fraktion nicht gehört hat. lieber die gestrige» Verhandlungen in der Frage der Regie rungsbildung wurde amtlich folgender Bericht ausgcgeben: „Reichswirtschastsminister Dr. Curtius besprach im Verlaufe des heutige» Tages die politische Lage und seine Pläne zur Regie rungsbildung mit den Vertretern der Fraktionen der Bayrischen Volkspartei, der Demokratischen Partei, der Wirtsüzaftlichen Bereinigung, der Deutschnationalen Bolkspartei und des Zen trums und unterrichtete am Nachmittag den Abgeordneten Müller-Franken als Vertreter der Sozialdemokratischen »Partei. Die Besprechungen trugen durchiveg vorberatenden Charakter. Der Abg. v. Guörard, der im Aufträge des Zentrums mit Dr. Curtius verhandelt hat, hat ihm lediglich erklärt, daß eine Entscheidung über die Haltung des Zentrums erst von der Fraktion getroffen werden könnte, die für heute abend zusam menberufen worden ist. — Der Deurfchnationale Fraktionsvor- sitzende Graf W e sta r p betonte, dass seine Fraktion durclsaus bereit sei, Dr. Curtius zu unterstützen. — Verhandlungen mit seiner Fraktion hätten zurzeit keinen rechten Zweck, da erst Klarheit über die Stellung des Zentrums geschaffen werde» müsse. Die Besprechungen haben, wie von Dr. Curtius nahe stehender Seite betont wird, lediglich informatorischen Charakter gehabt. Er habe sich nur um die Feststellung der Anschauungen der Fraktionssührer nach der taktischen und pro grammatischen Seite hin gehandelt. Personelle Fragen seien in diesem Stadium der Unterhaltungen natürlich noch nicht er örtert worden. Für heute mittag Hot Dr. Curtius die Vertreter sämt licher Gewerkschaftsverbände zu einer Besprechung über die Fragen der »Arbeitszeit, der Arbeitslosenversicherung und dos Washingtoner Abkommen eingeladen. Besprechungen mit den Spitzenverbänden der Wirtschaft sollen folgen. Weiter sost Dr. Eurtius für heute eine direkte Aus sprache zwischen den Vertretern des Zentrums und denen der Deutsch nationalen planen. Von anderer Seite ver lautet. datz das Zentrum von sich aus vor der heute abend statt- flndenden Fraktionssltzung mit de,, Deutschnationalen einerseits und mit den Sozialdemokraten andererseits in Fühlungnahme treten wird, ui» festzustellen, ob und Inwieweit «ine Annäherung zwischen dem Zentrum und einer der beiden glügelpartele« möglich ist. * Der »Beschluß, den der Vorstand der Zentrumsfraktion gestern abend gefaßt hat. hat jedenfalls die Möglichkeiten der Regierungsbildung nach keiner Richtung hin verbaut. Daß die schweren außen- und innenpolitischen Bedenken, die gegen Sen »Plan des Dr. Curtius sprechen, nochmals betont worden sind, entspricht nur der Sachlage. Denn von der sachlichen Stel lungnahme der Flügelparteien wird es abhängen, ob das Zentrum mit ihnen Zusammengehen kann. Man darf annehmen, daß die Unterhändler des Zentrums im Lause der heutigen Ver handlungen ganz klare und präzis« Fragen an die Vertreter der Fliigelporteien richte» wecken. Mit den Deutsch» «ilona- len wären insbesondere die Fragen: Bekenntnis zur Republik und L o ea r n o-P o l i t i k zu klären, mit den Sozialdemokraten die Fragen Reichswehr und Reichs schulgesetz. Freilich muß nach der Haltung der Deutschnationa. len »Presse sehr bezweifelt wecken, ob die große Partei der Rechten gewillt ist. ihre Bereitwilligkeit zur Regierungsbildung auch in positiver Form zu beweisen. So schreibt der „Berliner Lokalanzeiger": „Wenn Zentrum und Demokraten tatsächlich von den Deutschnatianalen ein „Bekenntnis zur Republik und zur Locarno-Politik" verlangen sollten, so dürsten sie wenig Glück damit haben. Die Haltung der Deutschnationalen Volkspartei zu diese» beiden Fragen ist von ihrem Partei- und Reichstags fraktionsvorsitzenden. Graf Westarp, auf dem Parteitag in Köln eindeutig formuliert worden: es besteht wenig Aussicht, daß bei einer Frage danach den Fragestellern eine andere Antwort als der Hinweis auf jene Acußerungen wird." Ein solcher Hinweis würde freilich dem Zentrum unter keinen Umständen genügen. Bor allem gilt der für die Außen politik. Die Stellungnahme des Grafen Westarp zu diesen Fragen auf dem Deutschnationalen Parteitage in Köln ivar so vieldeutig, daß auf dieser »Basis eine Arbeitsgemeinschaft nicht eingegangen werden kann. Vorgänge, wie sie sich beim Sturz des ersten Kabinetts Luther abspielten, wo die deutschnationale Reichstagsfraktian Plötzlich die von ihren eigenen Ministern ge billigte Außenpolitik ablehnte, dürfen sich unter keinen Umstän den wiederholen. Die »Aussichten für ein Kabinett Curtius sind bei dieser Sachlage nach wie vor gering. Die Verhandlungen mit den »Parteiführern haben bisher irgendwelches positive Ergebnis nicht gehabt. Wir bezweifeln, ob der Weg über die Gewerkschaf ten und Wirtschaftsverbände leichter zum Ziele führt. Die entscheidende Frage ist, welche Ergebnisse die Fühlung nahme zwischen Zentrum und Flügelparteien haben wird Ge rade in dieser Hinsicht freilich lauten die Vorzeicl)eii nicht eben günstig für Dr. Curtius. sucht man es mit billigeren moralischen Lorbeeren. Damit ändert man freilich nichts mehr an der Tatsache, daß die Entwicklung in Sachsen der beste Beweis dafür ist, daß es ohne die Führung der politischen Mitte eine Kon st ante geradlinige Politik in Deutschland nicht gibt. Der deutschnationale Hinweis auf die Regierungsführung im Reiche ist also im höchsten Grade unangebracht. Wenn sich die Wirt schaftspartei sowie die Deutsche Volkspartei in Sachsen zu der Ueberzeugung bekannt haben, daß die Zusammen arbeit mit den gemäßigten Sozialisten eine unabweis bare Staatsnotwendigkeit darstellt, wenn man ferner so gar den vier Altsozialisten zwei der Ministersitze, darunter den Ministerpräsidentenposten, zugebilligt bat. so doch sicherlich nicht aus purer Freundschaft und Gutmütigkeit, sondern letzten Endes aus der Erkenntnis heraus, daß es in einem Lande wie Sachsen ein staatspolitifches Erfor dernis ist, die Teile der sozialdemokratischen Arbeiter schaft zu positiver Mitarbeit am Staate heranzuziehen, die mit ehrlicher Ueberzeugung und mit beiden Füßen auf dem Boden dieses heutigen Staates stehen. Nach weitgehender Auffassung bietet diese Haltung die einzige Möglichkeit, für die Zukunft eine neue Mehrheit der st a a t s v e r n e i n e n d e n Linken zu verhindern und Sachsen vor neuen politischen und wirtschaftlicken Er schütterungen zu bewahren. Und was hier allerdings in verstärktem Maße für das ausgesprochene Industrieland Sachsen gilt, das hat auch für das Reich und für die dor tige Regierungskrise eine nicht zu unterschätzende Be deutung. Daß die gefundene Lösung der sächsischen Regie rungskrise trotzdem alles andere denn eine ideale ist, darin stimmen wir mit den Deutschnationa len weitestgehend überein. Schon aus dem einfachen Grunde heraus, weil sich die Deutschnationalen ebenso wie die vier Volksrechtler immer in der Nolle jener Parze befinden werden, die den Lebensfaden des bevor stehenden Kabinetts Heidt in jeder kritischen Stunde durchschneiden kann. Die beiden Nationalsozialisten haben schon bei der entscheidenden Wahlabstimmung durch die Abgabe weißer Zettel bewiesen, daß sie Wert darauf legen, von allem Anfang an keine Klarheit über ihre eigentliche politische Linie aufkommen zu lassen. So wird also über dieser Regierung immer der trübe Stern stehen, der schon bei ihrer Geburtsstunde schien und es nötig machte, kommunistischer Kundgebungen wegen die Landtagstribünen zu räumen. Es mag also eine Unmög lichkeit sein, der neuen Regierung eine allzu lange Le bensfähigkeit im vornherein zuzubilligen. Dennoch aber besteht durchaus die Möglichkeit, daß gerade ihre schwacke parlamentarische Konstitution sie dazu zwingen wird, von jeder Art von Seitensprüngen sich fern zu halten und nur durch allseitig gerechte und sachliche poli tische Arbeit die gesunde Fortentwickelung unseres Landes zu suchen. Denn wie die Dinge schließlich auch laufen mögen, solange die sächsische Sozialdemokratie nicht ein neues Damaskus erlebt haben wird, wird über jeder Krise dieser Negierung das Motto stehen: Auf lösung des Landtages! Noch sind die letzten Vorarbeiten für die Zusammen setzung des neuen Kabinetts nicht ganz vollendet. Die Deutschnationalen werden ohne Zweifel ihre Bemühun gen nun erst recht fortsetzen, um möglicherweise die end gültige Zusammensetzung des Kabinetts noch ihren Wün schen gemäß zu beeinflussen. Wenn cs schon jetzt im In teresse unseres Landes als notwendig bezeichnet wird, .daß die Regierung in absehbarer Zeit erneut die Frage einer Erweiterung ihrer Basis wird stellen müssen, so kann man diese Ansicht nur teilen. Nach den Erlebnissen der letzten Wochen wird jedenfalls das bisher Erreichte eine gewisse Befriedigung auf allen Seiten auslösen. Man weiß jetzt, daß die Grundlinie für die nächste politische Entwickelung des Landes Sachsen durch die gestrige Ent scheidung im Sinne der politischen Mitte, d. h. aber aesunder. positiver Aufbauarbeit sestgeieat worden ist M. D