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Nr. L55. Leipzig. Srscheiat außcr Sonntag» täglich. Preis diateljährlich. s Thlr., jede einzelne Nummer » Rgr. Deutsche Allgemtiiit Ztitung. «Wahrheit und Recht, Freiheit und Gesetz!» Mittwoch, 2. November 1870. Inserate find an haascnstcin kd vogter in Leipzig oder an deren übrig« Häuser zu senden. Znsertionsgebühr sür dicEpaltenzeile l i/,Rgr„ unter Eingesandt >>/, Ngr. Leipzig, 1. Nov. Wir müssen unsere heutige Uebersicht mit der Wie dergabe eines Gerüchts beginnen, welches glücklicher weise bisjetzt bloßes Gerücht ist, und von dem wir hoffen wollen, daß eS sich nicht bestätigt. Die Ber liner Börsen-Zeitung in ihrer Abendausgabe von ge stern enthält an der Spitze der Rubrik „KriegSnach- richten" Folgendes: Wir dürfen, wie peinlich uns auch au« mannichfachen Gründen die Mittheilung ist, nicht verschweigen, daß hier beute vielfach da« Gerücht verbreitet ist, es sei gestern in Versailles ein Attentat aus Se. Maj. den König Wilhelm gemacht worden, das allerdings seinen Zweck verfehlt habe, wobei aber der KriegSmintster v-Roon ver- Wunder worden sei. Die niederträchtige Art und Weise, in welcher diese miserable französische Nation den Krieg ge genwärtig führt, nachdem sie ihre völlige Impotenz im offenen Felde und im ehrliche» Kampfe bekundet hat, ist lei der nur zu sehr geeignet, einem solchen Gerüchte zur Basts Hu dienen. Es bleibt uns nur übrig, zu wünschen, daß das Gerücht des Grundes entbehren möge. Auch wir müssen leider bekennen, daß eine innere Wahrscheinlichkeit deS Gerüchts allerdings vorliegt in der furchtbaren sittlichen Verkommenheit der Fran zosen, wie sie während dieses ganzen Kriegs sich gezeigt hat. Hat man doch sogar von einer hohen Geldbelohnung gesprochen, welche dem in Aussicht ge stellt sei, der den deutschen Bundesoberfeldherrn tödte! Andererseits ist bekannt, wie wenig ängstlich König Wilhelm — mit seinem offenen und redlichen, daher auch dem Mistrauen schwer zugänglichen Naturell — für seine persönliche Sicherheit sorgt, wie sehr er im Gegentheil sich exponirt. Was uns noch an der Wahrheit des Gerüchts zweifeln läßt, ist die Erwartung, daß, wäre etwas dergleichen geschehen, man doch wol im königlichen Hauptquartier sich aufs äußerste beeilt haben würde, durch eine osficielle Mittheilung mittels des Telegra phen die Verbreitung von Nachrichten darüber auf anderm Wege möglichst zu überholen und Uebertrei- bungen zuvorzukommen, welche ja bei derartigen auf regenden Gerüchten fast niemals ausbleiben. Seit vor gestern müßte ein amtliches Telegramm darüberhier sein! Wir halten uns daher für berechtigt, zur Zeit noch an der Wahrheit der ganzen Nachricht zu zweifeln, sehen aber natürlich, und mit uns gewiß alle unsere Leser, einer nähern Mittheilung darüber — sei sie nun bestätigender, widerlegender oder berichtigender Na tur— mit größter Spannung entgegen. Die Besatzung von Paris hat, wie es scheint, noch in der elften Stunde die nun in allernächster Zeit dieser Stadt drohende Beschießung durch einen Ausfall, wenn nicht verhindern, doch vielleicht ver zögern und die Belagerungstruppen in Verwirrung bringen wollen. Der Ausfall ist, gleich allen frühern, zurückgeschlagen und dem Feinde abermals eine starke Schlappe beigebracht worden, leider, wie das osficielle Telegramm andeutet, auch mit diesseitigen Verlusten nicht ganz unbedeutender Art. Dagegen scheint der S'reifzug der Würtemberger gegen FrancS-TireurS und Mobilgarden bei Montercau (südlich in einiger Entfernung von Paris) vor wenigen Tagen ohne nennenswerthe diesseitige Verluste einen vollständigen Erfolg gehabt zu haben. Was den Anfang der Beschießung selbst be trifft, den neuerlichst anscheinend zuverlässige Nach richten auf den 1. Nov., also heute, festgesetzt hatten, so wäre nach der heutigen Mittheilung unser« ber liner **-Correspondenten dies doch noch nicht so ganz gewiß. Ob noch irgendwelche Verhandlungen schweben, von deren AuSgang die Anwendung jenes letzten Mittels abhängig ist, darüber sagt unser Cor- respondcnt und sagen auch sonstige heute vorliegende Nachrichten nichts. Hr. Thiers, an dessen Person die letzten (frei lich auch nur sehr unsicher«) Hoffnungen eines zu erreichenden Waffenstillstandes französischerscitS geknüpft wurden, ist zur Zeit unsichtbar und unfindbar gcwor- den. Ob er nach Paris hinein ist, darüber verlautet nichts; noch weniger seine Ankunft im deutschen Hauptquartier, um daselbst zu verhandeln. Der Fall von Metz hat den alten Herrn doch vielleicht über zeugt, daß er mit solchen Waffenstillstandsvorschlägen, wie sie allein zur Zeit noch vor den Augen der Herren Gambetta und Rochefort und vor den Augen der durch diese fanatisirten Menschen Gnade finven dürften, einem praktischen Diplomaten wie Graf Bis marck, welcher eine durchaus siegreiche Sache zu ver treten hat, nicht wohl gegenübertreten könne, ohne sich lächerlich zu machen und sein bischen Ansehen als ehemaliger Staatsmann vollends einzubüßen. Von deutscher Seite wird man jedenfalls, ehe man das Bombardement eröffnet, Paris noch zurUe Ver gabe auffordern. Daß eine solche jetzt schon erfolgen werde, steht natürlich nicht zu erwarten und wird wol auch nicht erwartet; aber es ist daS Kriegsbrauch, und ganz undenkbar wäre cs immerhin doch auch nicht, daß angesichts des Aeußersten, einer Beschießung der Stadt selbst, nicht bloS der Forts, die verständigere Auf- fassung von der Unmöglichkeit eines Widerstandes in Paris die Oberhand oder wenigstens den Muth ge wänne, sich mit Nachdruck öffentlich geltend zu machen. Gambetta freilich, der den Fall von Metz nur für einen Act des „Verraths" erklärt und nochmals ausspricht, die Republik werde nie und nimmer capi- tuliren, Gambetta und seinesgleichen können nicht zurück! Nachdem General v. Werder die sogenannte Ost- armce der Franzosen in den Gefechten bei Etuz und Voray über den Oignon zurückgeworfcn und, rasch den Sieg ausnutzend, bis in die Nähe von Besancon verfolgt hatte, nahm er mit dem GroS des 14. Armee corps bekanntlich die Richtung nach Nordwesten. Die ses scheinbare Zurückgehen, daö aber nur ein plan mäßiges Manöver war, wurde von den Franzosen so fort als ein Rückzug aufgefaßt, obwol nichts vorlag, waS diese Auffassung hätte rechtfertigen können. Wenn man den Feind geschlagen hat, zieht man sich nicht vor ihm zurück. Dennoch meldete dies übereinstim mend Cambriels, der Befehlshaber der Ostarmee, und Garibaldi, der in jenen Gegenden seine Banden or- ganisirt. Inzwischen hatte Werder sein Hauptquartier in Gray aufgeschlagen, einem Orte, der im Mittel punkte mehrerer wichtigen Berkehrsstraßen liegt und nach beiden Seiten hin, sowol Cambriels (Haupt quartier Besancon) als Garibaldi (Hauptquartier Döle) gegenüber, freie Bewegung gestattet. Zn welch bemitleioenSwerthem Wahne die beiden Generale befangen waren, gehl jetzt recht schlagend aus der heute von Tours selbst aus gemeldeten Er stürmung und Besetzung von Dijon seitens der Unsern hervor. Hierdurch ist Werder dem guten Garibaldi, der noch, am 25. Ocn nach Tours telegraphirte: „Dijon und Döle sind nicht mehr bedroht", geradezu auf den Nacken gerückt, und wir haben nun wol in der allernächsten Zeit einem Zusammenstöße entgegen zusehen, nach dessen nicht zweifelhaftem AuSgange die Franzosen wieder um eine Illusion ärmer sein wer den. Die sonstige Bedeutung DijonS als eines Kno tenpunktes der vom Süden nach Paris und aus dem Innern nach dem Elsaß führenden Eisenbahnen haben wir bereits früher hervorgehoben. Ebenso haben wir seinerzeit betont, daß dieser Ort einen günstigen An knüpfungspunkt darbietet, um Fühlung zwischen dem 14. Armeecorps und dem die Loire aufwärts streifen den Corps v. d. Tann herzustellen. Die höchsten militärischen Auszeichnungen, welche den beiden königlichen Prinzen Friedrich und Friedrich Karl, den Siegern von Wörth und Sedan und von Metz, zutheil geworden, sind gewiß allge mein als wohlverdiente mit Freuden begrüßt worden, und höchstens das Gefühl wird sich dabei kundgege ben haben, daß eine ähnliche Auszeichnung auch dem großen Strategen gebühre, dessen umfassendes Genie alle Fäden der so verzweigten Operationen dieses ge waltigen Kriegs umspannte. Mit Befriedigung werden daher unsere Leser aus einer Andeutung unserS ber liner **-Correspondenten entnehmen, daß dem Gra fen Moltke wahrscheinlich demnächst auchderFeld- marschallstitel verliehen werden wird. Die Note, in welcher die englische Regierung die kriegführenden Mächte nochmals zu Waffenstillstands- Verhandlungen ausfordert, liegt jetzt im Wortlaut vor. Wir werden sie morgen unsern Lesern mittheilen. Sie ist mit großer Zurückhaltung verfaßt und constatirt, daß die englische Regierung der provisorischen Regie rung Frankreichs vorgcstelll hat, „wie wichtig es sei, jedes Zugeständniß zu machen, welches bei dem jetzigen Stande des Kriegs (!) mit ihrer Ehre verträglich ist". Schon heute dagegen geben wir ein anderes wich tiges diplomatisches Actenstück wieder, ein Rundschrei ben der italienischen Regierung betreffs der Besetzung Noms. Es wird darin ausgeführt, wie Musikalisches aus Leipzig. w Leipzig, 31. Oct. Hinter uns liegt eine mu sikalisch äußerst bewegte Woche, zu deren Neichthum das am Sonntag, 30. Oct. vom Niedel'schen Verein in der Thomaskirche zum Besten der Invaliden stiftungen veranstaltete Concert nicht wenig beigetragen hat. Den eifrigen Bemühungen des um Leipzigs Kirchenmusikaufführungen außerordentlich verdienten Hrn. Professor Riedel war es nämlich gelungen, die Mitwirkung des berühmten berliner Domchors zu er möglichen, welcher den größten Theil der Programm nummern übernahm und seine Leistungskraft zum ersten male vor dem kunstsinnigen leipziger Publikum entfaltete. Dieses konnte in der großen Thomas kirche kaum genügenden Platz finden, lauschte aber mit gespannter Aufmerksamkeit und andachtsvoller Haltung den herrlichen Klängen, welche auS den vor züglich geschulten Organen der berliner Sänger her vorströmten. In der That war cs im höchsten Grade bewundernswerth, mit welcherKlangschönhelt sämmtliche Tonstücke vorgetragen wurden und wie das Ensemble in allen Schattirungen die vollkommenste Einheit be wahrte. Der volle, kräftige Masscnklang im Forte, das weiche, edle Piano, die mächtige Strömung im Crescendo, die Beherrschung des Athems im De crescendo, die herrliche Auffassung und mustergültige Nuancirung sichern dem berliner Domchor, dessen stauncnswerth ausgebildete Knabenstimmen sich mit den künstlerisch hervorragenden Männerstimmen unter Direction des Hrn. v. Herzberg zu einem so pracht voll gestalteten Tonkörper verbanden, ein bleibendes Andenken in Leipzig; man hat gewiß hier die Ueber- zeugung gewonnen, daß etwas Vollkommneres in seiner Art kaum zu denken ist. Die zu Gehör ge brachten Tonwerke der italienischen Meister waren: Dsi", sechsstimmig auS der „Nissa kaxas Llsroolli" von Palestrina, „ Nissriooräias Domini", achtstimmig für zwei Chöre von F. Durante, „Oru- oiüxus", achtstimmig für einen Chor von Lotti. Die deutschen Meister hatten Vertretung gefunden durch Melchior Franck („In den Armen dein", fünfstimmig), Seb. Bach („Singet dem Herrn ein neues Lied", achtstimmige Motette für zwei Chöre), Felix Men delssohn-Bartholdy („Psalm 43", achtstimmig), und W. A. Mozart („^.vo vsrum oorxus", vierstimmig). Außer diesen Vorträgen des berliner Domchors führte der Niedel'sche Verein Seb. Bach's Cantate „Ein' feste Burg" für vierstimmigen Chor und Orchester begleitung zum ersten mal nach der durch die Bach-Gesellschaft herausgegcbenen vervollständigten Partitur mit Hinweglasiung der Sologesänge auf, durch welche ausgezeichnete Leistung er wiederum von seiner Bedeutung für Leipzigs Musikleben ein glänzendes Zeugniß ablcgte. Endlich ist auch noch das vorzügliche Solospiel des Altmeisters David zu erwähnen, welcher eine Sonate von G. F. Händel für Violine und bezifferten Baß, für Violine und Begleitung vom vortragenden Virtuosen eingerichtet, der Zuhörerschaft vermittelte, gleichwie auch Hr. Hegar bei dem Vortrage einer Sarabande für Violincello von Seb. Bach, zu welcher Hr. Kniese die Orgel begleitung von Or. W. Stade spielte, seine hervor ragende Künstlerschaft in trefflicher Weise bewährte. Endlich ist zu erwähnen, daß eine von Frau Viardot- Garcia ausgebildete junge Sängerin aus Leipzig, Frl. Marie Klauwell, durch den einfach edeln Vor trag des herrlichen Liedes „Sei nur still" von Wolf gang Franck ihre schöne Begabung und sehr gute Tonbildung in höchst erfreulicher Weise bethätigte. Dieser Aufführung ging die erste Kammermusik soiree im Saale des Gewandhauses am 29. Oct. voran, deren Besuch deutlich bewies, welch rege Sym pathien man dieser Kunstgattung in Leipzig zollt. Der eminenten Thätigkeit des Hrn. ConcertmeisterS David hat man besonders die Blüte der leipziger Kammermusik zu verdanken, und auch am beregten Abend nahm der ausgezeichnete und hochverehrte Meister wiederum an der Ausübung hervorragenden Antheil. Derselbe machte die Zuhörer mit den Stücken „l.urgo" und „Okuounno", für Violine mit beziffertem Baß von Leclair, für Violine und Piano forte von Daoid bearbeitet, durch geistvolle Nepro- duction der interessanten und schön gearbeiteten Ton sätze bekannt, wofür ihm durch wiederholte Hervorrufe enthusiastischer Dank gezollt wurde. Ebenso zündeten das Quintett für Streichinstrumente (6-molI) von W. A. Mozart, meisterhaft vorgetragen von den Herren Conccrtmcister David und Röntgen, Hermann, Thümer und Hegar, wie daS von Frau vr. Klara Schumann, den Herren Conccrtmcister David und Hegar mustergültig reproducirte große v-dur-Trio Op. 97 von Beethoven. DaS vollendete Pianofortc- spiel der genialen Künstlerin fand ebenfalls nach dem Vortrage der nicht sehr dankbaren Humoreske sür Pianoforte Op. 20 von Robert Schumann begeisterte Aufnahme, nachdem man derselben schon im dritten