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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 13.11.1902
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-11-13
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19021113029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902111302
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902111302
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1902
-
Monat
1902-11
- Tag 1902-11-13
-
Monat
1902-11
-
Jahr
1902
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Daß er gar nicht beraten würde, konnte ja die Opposition nicht fordern, geschweige denn durchzusetzen hoffen, so wollte sie ihn denn wenigstens an die letzte Stelle der noch nicht erledigten Initiativanträge ge stellt wissen. Sie berief sich für diese- Verlangen aus den is 35 der Geschäftsordnung, nach dem an den sog. Schwerins lagen an erster Stelle die von Mitgliedern des Hauses ge stellten Anträge in der Reihenfolge, in der sie eingegangen, zur Erörterung gelangen sollen, und deutete diese Bestimmung so, daß sie überhaupt die Erörterung von Initiativanträgen nur in bestimmter Reihenfolge zulasse. Nun ist es eigentlich selbst verständlich, daß der Reichstag, als er jene Bestimmung fest setzte, sich nicht des Rechtes berauben wollte, über den Zeit punkt der Beratung eines wichtigen Initiativantrags nach freiem Ermessen zu befinden; er wollte lediglich für die Sckwerinslage ein für allemal eine Reihenfolge feslstellen. Die Mehrheit batte daher auch davon abgesehen, die Beratung des Antrags für einen Schwerinstag — und ein solcher war der gestrige — zu beantragen. Vollauf berechtigt aber war sie, die Stellung des Antrags Aichbichler auf die Tagesordnung sür heute zu verlangen. Trotzdem bezeichneten die Herren Singer und Pach nicke dieses Verlangen als einen Bruch der Geschäftsordnung, ja der Verfassung, und entfesselten eine GeschästSordnungSdebatte, die mehrere Stunden dauerte. Ihr Ende sonnte zwar nicht zweifelhaft sein, aber das batte die Opposition doch wohl nicht erwartet, daß nicht nur der Abg. Bassermann das Recht dcS Hauses zur beliebigen Ent- scheidung über die Behandlung von Initiativanträgen an allen Nicht-Schwerinstagen aktenmäßig nachweisen, sondern daß auch der Abg. Richter auf Grund seiner langen parlamen tarischen Erfahrungen die Einwendungen der Opposition als „kompletten Unsinn" bezeichnen würde. Belehren ließ sich die Linke freilich nicht, denn sie brachte 67 Stimmen gegen den Antrag Spahn, heute mit der Beratung des Antrags Aichbichler zu beginnen, auf; aber daraus, daß der Antrag Spahn mit 187 Stimmen zur Annahme gelangte, tonnte sie entnehmen, daß die Mehrheit die Zeit herbeisehnt, in der die Weiterberatung derZollvorlagenwenigstenS etwaSrascher betrieben werden kann. So wird denn auch voraussichtlich heute die Beratung des Antrags Aichbichler nach Kräften gefördert und mit allen Mitteln der Geschäftsordnung dem Versuche der Verschleppung entgegengetreten werden. Aber was wird das nützen? Selbst wenn die namentlichen Ab stimmungen etwas weniger zeitraubend sind, wieviel ist damit gewonnen? Muß man nicht besorgen, daß gerade ein Mittel zur Zeitersparnis die „unverbesser lichen Schwänzer" noch saumseliger macht? Und selbst wenn dies nicht geschieht, wie soll man rechtzeitig mit der zweiten Lesung der Zollvorlagen fertig werden, nachdem man bisher kaum 9 Paragraphen der beinahe 950 Positionen um fassenden Vorlagen zu erledigen vermocht hat? Jedenfalls ist eS schlechterdings unmöglich, wenn nicht eine Einigung der Mehrheit mit der Negierung über die umstrittenen Punkte schleunigst erfolgt. Dieser Ansicht ist man augenscheinlich auch in NegierungSkreisen, denn zweifellos aus diesen stammt eine Mahnung, die heute die „Berl. Pol. Nachr." an die Mehrheit richten und in der es heißt: „Auch wenn di« Annahme zutrifft, daß die Mehrheit ohne all- zugroßen Zeitverlust den Antrag Aichbichler im Reichstag durchzu« setzen vermag, wirft sich schon jetzt die Frage auf, ob bei der Methode, eine planmäßige, von langer Hand wohl vor bereitete Obstruktion durch Einzelvorstöße in später Stunde, wie der Antrag Aichbichler einen solchen darstellt, zu bekämpfe», der Abschluß der zweiten Lesung des Zolltarifs zu er warten ist. Noch ist längst die Beratung des Zolltarifgesetzes nicht abgeschlossen und abgesehen von den im Zusammenhang mit der Frage von Minimalzöllen erledigten Positionen des Tarifs steht noch die Beratung des ganzen Zolltarifs selbst aus. Es ist daher schon jetzt mindestens zweifelhaft, ob der Zeitpunkt, welchen die auf dem Boden der sogenannten Kompromißanträge stehende Mehrheit des Reichstages zu einer Versländigang mit der Regierung in Aussicht genommen hat, überhaupt erreicht werden wird. Dann steht man vor der Eventualität, daß gar nichts zu stände kommt und demzufolge als Notbehelf zu einer Verlängerung der jetzigen Handelsverträge gegriffen werden muß, eS sei denn, daß man doch noch in anderer Form die Hauptstücke der jetzigen Zolltarisvorlage zu retten vermag. Das ist naturgemäß nur durch ein festes Zu sammenwirken zwischen Negierung und Reichs- tags Mehrheit möglich, und für dieses Zusammen, wirken ist wiederum die unerläßliche Voraussetzung, Laß die Mehrheit Forderungen fallen läßt, denen die Negierung nicht zustimmen kann. Man wird es viel leicht ja auch in den Reihen der agrarisch.schutzzöllnerischen Mehrheit des Reichstages einsehen, welch ein Verhängnis- voller Fehler cs war. eine kostbare Zeit zu verwenden, um sich auf einen Standpunkt zu versteifen, den festzuhallen von vornherein völlig aussichtslos war. Die Form, in welcher die Mehrheit einlenkt, ist von minderer Bedeutung; die Hauptsache ist, Laß man die sachliche Verständigung nicht mehr auf die lange Bank schiebt, sondern damit jetzt ohne Verzug vorgeht. Noch ist unter dieser Voraussetzung ein p o s i ti v e s Ergebnis der Zolltariskampagne wahrscheinlich; aber wenn jetzt in zwölfter Stunde eine solche nicht erfolgt, wird man sich ernstlich an Len Gedanken gewöhnen müssen, daß die Verhandlungen ergebnislos bleiben, und dem- zufolge sich klar machen müssen, was geschehen kann und gc- jchehen muß, um unter solchen Verhältnissen unsere handelspolitischen Beziehungen zum Auslande so zu regeln, wie dies unter den obwaltenden Umständen den Interessen des heimischen Erwerbslebens noch am besten entspricht." konservative und Bund der Landwirte. ES mehren sich die deutlichen Anzeichen dafür, daß zwischen den Konservativen und dem Bunde der Landwirte nickt mehr die intime Freundschaft von ehedem bestehl. Schon während der KommissionSsitzungen über den Zolltarif kam es zwischen den Konservativen und den rein argrarischen Mitgliedern zu Plänkeleien, bei denen namentlich in der Presse hüben und drüben recht charfe Worte fielen. Daß ein Teil der Konservativen und darunter die namhaftesten Vertreter der landwirt schaftlichen Interessen neulich bei den überagrarischen Anträgen v. Wangenbein«, Hahn und Noesicke glattweg sür Uebergang zur Tagesordnung stimmten, hat vollends drüben gewaltigen Aeraer erregt. Nun aber gar die Sehnsucht der Konservativen, aus ihrer Sackgasse herauSzukommen und mit der Regierung sich zu verständigen, täglich offenkundiger wächst, wird ihr Verhältnis zu den Nichts-als-Aarariern auch täglich gespannter. So schreibt die neueste Nummer der Korrespondenz des Bundes der Landwirte vom 7. November (diese Korrespondenz erscheint etwa wöchentlich „als Manuskript gedruckt"): „Sollte es nicht zu einer Unterwerfung der Reichstagsmehrheit unter den Regierungswillen komme», fo wird die Ursache sicher nicht in der zermürbten Widerstandskraft der Führer Herold, Graf Schwerin, v. Kardorff rc., sondern in der Kürze der für vollkommene Zähmung nur noch zur Verfügung stehenden Zeit oder in dem Umstande zu suchen sein, daß mau die Anklagen der „wilden Agrarier" vor dem Lande wegen der Unterwerfung doch noch mehr fürchtet, als den Regierungszorn." Das sagt, wohlgemerkt, nicht ein beliebiger Parlaments berichterstatter, sondern die offizielle Korrespondenz deö Bundes der Landwirte. Sie hat damit die gegenwärtige Sachlage vollkommen zutreffend charakterisiert. Daran ändern alle VertuschungSversucke solcher Zeitungen, die zugleich dein Bunde der Landwirte und der kon servativen Partei dienen, nicht das Geringste. Was hätten denn die krampfhaften Bestrebungen, in der zweiten Lesung möglichst rasch vorwärts und zu einem gewissen Ziele zu gelangen, für einen tieferen Grund, wen» man nickt in der dritten Beratung sich auf den Standpunkt deö gesunden Menschenverstandes zurückrieden wollte: zu nehmen, was zu kriegen ist — sintemalen sonst gar nichts zu kriegen ist? Ob man daS dann zermürbte Widerstandskraft oder staatsmännische Einsicht oder taktische Klugheit oder sonstwie benennt, das ist herzlich gleichgültig, das Ergebnis ist das gleiche. Hoffen wir, daß die Zeit reicht, zu diesem Ziele auch wirklich zu gelangen. Tie Konferenz der Bocrengenerale mit Ehamberlain, von der wir berichteten, bat zu einer eingehenden Aussprache Gelegenheit geboten. Botha konnte dem englischen Koloniai- miinster alle wesentlichen Wünsche und Beschwerden seiner Volksgenossen vortragen, und wenn auch ein unmittelbares Ergebnis von dieser Besprechung nicht zu erwarten war, so mußte den Boerensührern doch viel daran liegen, Chamber lain noch einmal mit ihrer Auffassung der Lage in Südafrika bekannt zn machen, bevor dieser seine Informationsreise dort hin antritt. Neber den Inhalt der Unterredung wird dem „Berl. Lokal-Anz." berichtet: * London, 12. November. Die von englischer Seite verbreitete Meldung, die Boerengeiierale hätten bei der Konferenz mit Ehamberlain nur für die Geldbewilligung von acht Millionen Pfund gedankt, ist natürlich grundlos. Die Ansichten der Boerengenerale über den finanziellen Punkt sind unverändert. Sie hatten die Konferenz bei ihrem letzten Aufenthalte im Unterhause mit Ehamberlain vereinbart und ersuchten dabei, ihn auf mehrere Punkte des Friedensvertrages aufmerksam machen zu dürfen, die von England nicht beobach et seien. Botha, De Wet und Delorey haben eine Denkschrift ausgesetzt, die alle streitigen Ansprüche der Boeren- führer eingehend begründet, und dieses Schriftstück wurde gestern Chamberlain überreicht. Botha trug den Inhalt zu- gleich mündlich vor und erklärte, er und seine Genossen hätten sich zu diesem Schritt in der Hoffnung bewegen lassen, daß Chamberlain bei seinem Aufenthalt in Südafrika die betreffenden Punkte einer gründlichen Untersuchung unterziehen werde. Ferner bat Botha, den Boerendelegierten Wessels, Fischer und Wolmarans, deren wiederholte Gesuche um Erlaubnis zur Heimkehr unberücksichtigt geblieben sind, die Rückkehr nach Südafrika zu gestalten. Botha erklärte zu dem Punkt, Kitchener habe ihnen beim Friedensabscklust mündlich versichert, es sei nicht nötig, darüber etwas in den schriftlichen Vertrag aufzunehmen, da der Rück- kehr der Delegierten keine Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden würden. Es heißt, Chamberlain habe versprochen, die Sache zu er- wägen, doch erwartet man vor seiner Rückkehr von Südafrika keine Ent scheidung. Botha erklärte ferner, die Boeren hätten geglaubt, die Geld bewilligung würde ausschließlich von der britischen Regierung ausgehcn und insgesamt sür die Wiedereinsetzung der BurgherS ohne Notwendig keit des Bedürftigkeits-Nachweises benutzt werden. Er fürchte auch, die Burghers würden sich der lokalen Darlehne nicht bedienen, aus Furcht vor Zwangsversteigerung, wenn sie nicht zahlungsfähig blieben. Chamerberlain versprach, die Sache in Südafrika zu unter- suchen. Hierauf kamen auch das Amsterdamer Manifest und die Reise der Generale auf dem Festland zur Sprache, worüber diese Chamberlain Aufklärung crtheilten. Wie verlautet, wollen sich Botha und Delareh in der nächsten Zeil nach Amerika einschiffen. 8i» serbisches Urteil über -ic bulgarischen Umtriebe in Makedonien. Der Abteilungsvorsteher im serbischen Ministerium des Aeußeren Vr. Sim itsch, welcher die amtliche serbische Sckul- und Kirchenpiopaganda in Altserbien leitete, gab einem Ver treter der Bukarester Zeitung „Patris" folgende Darstellungen über die bulgarischen Aufstandsversuche im nordöstlichen Makedonien: Sarawow und dessen nächster Anhang wird zwar von der bulgarischen Regierung und dem Fürsten Ferdinand noch immer mit großer Vorsicht behandelt; aber er steht in politischer Hinsicht den Wünschen der Machthaber in Sofia schroff gegenüber. SarawowS Programm ist ein autonomes oder ganz selbständiges Makedonien, an dessen Spitze er natürlich selbst stehen möcktc. DaS von der Negierung eingesetzte Gegencomitö, dessen Vorsitzender Prof. Michailow Ski augenblicklich aus Kosten der bulgarischen Regierung eine AgitationSrcise durch Europa macht, will dagegen die „Angliederung Makedoniens an Bulgarien". Der Bandenkrieg, der gegenwärtig an der bulgarisch-türkischen Grenze geführt wird, ist mit voller Zustimmung der Sofioter Negierung eingeleitet worden. Die drei dem bulgariscken Osfizierkorps entnom menen Leiter des Aufstandes sind Oberst Tschankow, Haupt mann Nikolow und Leutnant Stojanow. Als Hauptquartier ist diesen Dreien das hart an der Grenze und hock im Gebirge liegende Kloster Nilo eingeräumt worden, wo sich sür die nach Makedonien einbreckenden Banden ein Hinreickendes Lager an Waffen und Schießbedarf vorfindet. So wissen wir von ganz unterrichteter Seile daß der Bandenkrieg noch immer fortgeführt wird, da in jenen wilden Bergbezirkcn eine vollkommene Absckließung der Grenze gar nicht möglich ist. Wir glauben daher auch Feuilleton. Das Findelkind. Roman von Ernst Georgy. Nachdruck verböte». In banger Ahnung kletterte das junge Mädchen dle vier Treppen hinauf und klingelte. Fräulein Tonstark öffnete ihr totenbleich und in schlecht verhehlter Auf regung. Drinnen horte sie verworrene Stimmen und Fran Rodiers lautes Weinen. „Man hat bei uns eingebrochen", sagte Erna ruhig. „Woher wissen Sie das, Erna ? Ach, armes, armes Kind!" jammerte die Klavierlehrerin. Erna wurde blaß; aber sie sagte, mühsam lächelnd und beherrscht: „Mein Koffer ist also auch hin? Nun, das laßt sich verschmerzen!" Ihre Knie bebten aber derart, daß sie sich gegen die Wand lehnen mußte. „Der ganze Koffer ist verschwunden, Ihr Geld, der schöne Schmuck, die gesamte Wintergardervbe!" schluchzte die Getreue. „Ach, Hütten wir doch die Wertsachen zum Bankier gebracht, damals! — Ich habe es immer gewollt! Nun wird unser Leichtsinn bestraft! — Um die paar Möbel der Robier kann ich nicht klagen, aber Ihr Hab' und Gut, mein armer Liebling!" Kreideweiß hörte Ena zu. Sie lächelte mühsam und verzerrt. Rote Nebel wallten vor ihren Augen, sie war einer Ohnmacht nahe. In den vergangenen Monaten hatte sie den Wert des Geldes doch genügend kennen und schätzen gelernt, um die Größe ihrer Verluste zu ermessen. Parts war ein teures Pflaster. Die Kleider und Mäntel sür den Winter waren zu beschaffen, Wäsche, alles. Und mit den hundertundfünfzig Franken, die sie in ihrem Zimmer verschlossen, mit dem winzigen Verdienst, den ihr die Arbeit brachte, sollte sie alle Neuanschaffungen be streiten? — Tausend Gedanken durchkreuzten ihr Hirn. Nur ihr Stolz hielt sie aufrecht. Auf Fräulein Tonstark gestützt, schritt sie in den Salon. Die fremden Menschen brauchten ihre Angst, ihre Sorgenlast nicht zu ahnen. In den nächsten Tagen wurde sie fortwährend von der Polizei und den Gerichten behelligt. Sie mußte jedes Stück, bas in dem Koffer gelegen, zu Protokoll geben. Man forschte und spähte. Endlich, nach einem Monat, wurde der Dieb gefangen genommen. Es war ein Arbeiter aus dem Hause. Da» Veld und die Sachen hatte er längst verjubelt. Nur eine merkwürdig gearbeitete > Kette mit einem Türkisenschlvß spürte man noch bei einem : Pfandleiher auf und stellte sie Erna zu. Tas war aber auch alles. Trübe, in dumpfem Vvrsichhinbrüten, be trachtete sie das Schmuckstück. Sie hatte es nie getragen. Erst in den letzten Tagen vor ihrem Fortgang von Ham burg hatte Frau Bolmann cs ihr übergeben mit den Worten: „Es ist der einzige Gegenstand, der dich später einmal, durch irgend einen Zufall, über deine Herkunft unterrichten könnte. Dieses Kettchen trugst du, als du uns vom Marquis Villant gebracht wurdest. Hebe es sorgfältig auf!" — Achtlos hatte sie cs in ihren reich ge füllten Schmuckkasten gelegt. Und nun war dies von all' dem Reichtum das Einzige, was zu ihr zurücktam. Tas war fast wie ein Wink vom Schicksal. Rasch band sie die Kette nm nnd trug sie von nun an unter dem Kleide tag täglich. In endlosem Einerlei bei der öden Arbeit vergingen die Tage. Eine lähmende Dumpfheit lagerte sich über Erna und hüllte sic ein. Die Farbendüftc wirkten auf ihre Nerven, die unaufhörliche Beschäftigung auf ihre Augen i ein. Bis auf die Sorgen für das tägliche Brot dachte sie eigentlich nichts mehr; nur diese und die Furcht, krank zu werden, erweckten sie noch zuweilen aus ihrem Stumpf letzten endlich wurde ihr ein Auftrag erteilt. Etwas er mutigt trat sie de» Heimweg an. Bon einem Schwindel anfall hcimgcsucht, schwankte sie in eine Kirche und ruhte sich auf einer Bank aus. Ter Weihrauchduft, die Orgel töne, die Beter ringsum wirkten auf sie ein. Sie wollte beten, aber sic fand weder Gedanken noch Worte. Endlich erhob sie sich und, die Zähne zusammenbeißend, hastete sic durch die Straßen. „Zille ist das eine pompöse Gestalt!" „Seht nur diese Haare, diese Schultern!" hörte sie plötzlich ein paar Stimmen. Sie eilte schneller vorwärts. Nun wurde laut gelacht, wie übermütige, angetrunkene Burschen lachen. Der ganze Trupp folgte ihr. Man rief sie an, neckte sic. Je schneller sie eilte, desto schneller trabten ihre Verfolger. Die Jagd ging durch stille Straßen weiter. Plötzlich geriet Erna im blinden Vor wärtsstürzen in eine Sackgasse. „So, schöne Dame, nun haben wir dich, nun mußt du -ich loskaufcn!" meinte eine heisere Stimme lachend und zwei Arme umschlangen sie. Mit dem letzten Kraftaufwand stieß sie den Frechen zurück nnd schrie laut um Hülfe. Fremde kamen hinzu. Sic hörte noch einen lebhaften Disput, dann sah sie, wie zwei Männer sich zn ihr Bahn brachen. Mit einem Schrei sinn. — So schlichen die Monate dahin. Dann kamen der , Winter nnd die Einkäufe. Madame Robier wollte ihre vierteljährlichen Bezahlungen haben. Erna gab alles und ' stand bis auf zehn Centimes von allen Mitteln entblößt da. Aber sie verriet ihre Sorge mit keiner Silbe und wies Fräulein Tonstarks Hülfe, ja sogar ihre Teilnahme herb zurück. Kurz vor Weihnachten kündigte ihr die Fabrikbesitzerin auf einige Monate die Arbeit, weil sie mit genügenden Vorräten versehen sei. „Das ist das Letzte, nun treibe ich dem Ende zu!" murmelte das arme Mädchen. Aber tapfer begann sie von neuem ihre Bemühungen und rannte nach einer Tätigkeit umher. ES mußte ja sein, sonst, — der Auszug aus dem Pensionat war ihr sicher, wenn dies Vierteljahr vorüber! Und dann, — wohin? — Noch dazn war die Weihnachtszeit heran gekommen und trotz aller pekuniären Aengste tauchten die alten Erinnerungen überwältigend auf. Wie anders war eS vor einem Jahre gewesen! Schlaflose Nächte waren die Folge. Am vierundzwanzrgsten Dezember, der in Parts all' des poetischen deutschen Zaubers entbehrt, war Erna wieder von Magazin zu Magazin geschlichen. In dem stürzte sie besinnungslos zu Boden. Ihre Befreier knieten neben ihr nieder. Der eine wollte ihren Kopf aufrichtcn; dabei fühlte er eine warme Flüssigkeit über seine Hand rinnen: „Sie ist verwundet! Himmel, sic blutet!" sagte er erschreckt. — Bei diesem AuSruf machten sich die Verfolger aus dem Staube. Die beiden Herren blieben allein. „Diese verfluchte Dunkel ¬ heit hier! Man kann nichts erkennen. Und die Atelier- sind bereits geschloffen. Doch der Concierge und seine Frau sind in der Loge. Ich werde sie rufen; der Alte kann einen Schutzmann und eine Droschke hcrbeiholen!" „Wo sollen wir mit ihr hin? Ins Krankenhaus?" „Keine Ahnung!" „Na, willst du sic auf die Polizei schleppen? Wozu denn einen Schutzmann und solch Trara? Erst hole schnell etwas Wasser nnd die Leute her!" rief der Kniende dem Davoneilenden nach. Vorsichtig hob er den Kopf der Ohnmächtigen ans nnd befreite sie von -cm Hut. Ihre Haaren lösten sich. Die seidige Masse hing herab und das Blut strömte darauf. Er riß sein Taschentuch hervor nnd preßte eS gegen die Wunde. Ungeduldig harrte er, bis die anderen hinzu eilten. Sie brachten einen Stuhl, Wasser und ein paar angcfeuchtete Tücher mit. — Die Ohnmächtige bewegte sich und stieß verworrene deutsche Worte aus. Sv gut es ging, wurde sie von der Portiersfrau verbunden, während deren Gatte die Laterne dazu empvrhvb. Dann brachte inan die noch immer Bcsinnmrgslvse zu einem in der Nähe wohnenden Arzt. Dieser und seine junge Frau mühten sich um sie voller Erbarmen. „Wir müssen zu erfahren suchen, wer sie ist!" meinte der Arzt. „Vielleicht können wir das arme, schöne Ge schöpf zu ihren Verwandten bringen, die sich bereits nm sie sorgen. Erst wenn wir bei ihr keine Anlmltspnntte finden, bitte ich einen von Ihnen, meine Herren, nch zur Polizei zu bemühen." Tic beiden Angcredetcn, welche im Vorzimmer gewartet hatten, verbeugten sich schweigend. In diesem Augenblick trat die Gattin des Tottors >u ihnen. „Ich habe in der Tasche der Kranken dies völlig leere Portemonnaie und einen Bries gefunden. Vielleicht erfahren wir daraus ihren Namen und ihre Adresse." Sie eilte zum Tisch und hob das Papier hoch: „Hier stellt es! Gelobt sei Gott! Sie muß Erna Bolmauii beißen! Und hier ans dem Umschlag steht dreimal mit Blei: Ludiolg Antok!" „Was? Ludwig Autol? Tas ist ja ein Bekannter von uns! Ter Bildhauer!" rief der eine -er Fremden freudig. — „Wenn Sic der Dame noch eine halbe gründe Unterkunft gewähren, so hole ick ihn schnell herbei. Illi kenne das Cafe, in welchem er sich um diese Zeit mit seinem unzertrennlichen Freunde aushält!" Nach kurzer Aussprache stürzte der eine vou Ernas Rettern fort. — Nach ungefähr einer Stunde kehrte er triumphierend mit Antok und Vollricd wieder. "Beide, besonders der erstere, waren tief erschüttert. Man snlirte sic zu dem Sofa, auf welches Erna gebettet war. Sie erkannten sie sofort. „Sic wird zu mir gebracht, Hannes, ordne alles an!" stieß Ludwig heiser und erregt hervor. Hannes Vollricd blickte den anderen betroffen an. Tiefer starrte in stummer Qual nnd dock, beglückt aus die Bewußtlose, die jetzt anscheinend fieberte. Er fall, hier gab cs keinen Widerspruch. Sv übernahm er denn alle weiteren Schritte, nachdem er sich und den Freund ge nügend legitimiert hatte. Er fuhr mit der Gattin des Arztes voran und bereitete Antvks eigenes Schlasgcmach für die Ausnahme der Kranken vor. Ludwig und der Doktor selbst überführten später diese nach dort. In dem leeren Portemonnaie hatte man noch einen kleinen Zettel entdeckt, aus dem stand: „Fräulein Erna Bolmann bei Fran Robier, Straße der Märtyrer Nr. 76, IV., für drei
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