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Noch ehe diese Thatsachen sich herausstellten, hatten französische Romane ein grausiges Spiegelbild ihrer Zeit geliefert, dessen Wahrheit erst jetzt recht einleuchtend geworden, seit man eingestehen muß, daß der Mord einer tugendhaften Gattin, wie er in Wirklichkeit vorgekommen, den Schriftsteller gleichsam rechtfertigt, der einem Vater Waffen in die Hand giebt, um seinen verbcchcrischcn Sohn zu strafen, wie Eugen Sue bekanntlich in seinen „Memoiren eines Kammerdieners" gcthan. Freilich sollte die Kunst sich nicht hcrabwürdigen, die Verirrungen der Natur zu schildern; die Unnatur ist kein Gegenstand der Kunst. Die Werke von Eugen Sue können deshalb auf ihren Stempel keinen Anspruch machen, aber wohl auf eine gerechtere Bcur- thcilung, als ihnen in letzter Zeit zu Theil geworden. Als Sitten, und Cha rakterschilderungen behalten sie immer ihren Werth. Sue lehrt allerdings das Laster kennen, aber nicht lieben, man kann ihm wenigstens in seinem letzten Romane nicht vorwerfen, daß er es reizend schildert, sondern immer abscheu- erregend, selbst da, wo die französische Frivolität sich unleugbar geltend machte in der heimlichen Leidenschaft deS Dieners für seine Gebieterin. Daß aber dennoch Gefahr in dieser Lektüre liegt, wer wollte es leugnen! je schärfer das Messer, je weniger eignet es sich zum Spielwcrk der Unmündigen ; selbst die abschreckendste Schilderung der Sünde vermag in ein unerfahrenes, aber Zum Bösen reifes Gemüth Zündstoff und in den Sinn der Unschuld Schatten zu werfen. Eben so gefährlich kann auch der falsche Nimbus wirken, den der Autor einigen seiner Bösewichte ertheilt; in früherer Zeit wäre nur ein unschädlicher und komischer Rinaldo - Rinaldini - Enthusiasmus in den un gebildeten Klaffen dadurch vielleicht hervorgerufcn, jetzt aber find verkehrte Begriffe ein gefährliches Ferment zu den Gährungen, welche in den unteren Schichten der Gesellschaft immer mehr bemerkbar werden. Es ist deshalb zu bedauern, daß Eugen Sue, bei seinen grundfalschen Ansichten von Christcnthum und Sittcngesetz, durch die allgemeine Lescwuth zum Volksschriststeller gemacht wird, und daß die Kritik unserer Tage so vornehm ist, jeden Liebling der Menge von ihrem Forum auszuschlicßen oder vielmehr kurzweg zu verdammen, anstatt ihn wo möglich zu belehren und zu bessern, oder wenigstens das Urthcil über ihn zu berichtigen. Ein Darstellungtalent, wie cs Eugen Sue besitzt, wird sich immer siegreich in der Unterhaltungs-Literatur zu behaupten wissen und hat ein Recht auf die Beachtung der Kritik. Diese apologetische Abschweifung soll direkt zu dem Gegenstände dieses Aufsatzes zurückführen, nämlich zu Bal zac, dem eigentlichen Begründer des neufranzöfischen Sittcnromans, den Sue nur weiter und erfolgreicher ausgesponnen und wodurch er seinen Vorgänger in den Hintergrund gedrängt hat. Balzac gab in seinem „l'öre Ooriot" den ersten schauerlichen Grundton an zu diesen traurigen Variationen menschlichen Elends und Verderbens, die nur zu grell und wahr klingen. Die Romane von Balzac haben mehr künst lerischen Werth, als die von Sue, er zeichnet seine Charaktere mit mehr Fleiß und Studium, er läßt sich kein Haschen nach Effekt, keine Uebcrtreibung zu Schulden kommen und besitzt die Würze echten Humors, die am sichersten vor Schalheit, so wie vor Ueberschwänglichkeit bewahrt. Nichtsdestoweniger sind Balzac's Romane bei uns fast in Vergessenheit gerathen. Der Zweck dieses Aufsatzes- seine Verdienste anzucrkennen und ins Gedächtniß zurückzurufen, dürfte deshalb wohl gerechtfertigt erscheinen, besonders da eines der neuesten Erzeugnisse dcü Autors der deutschen Gemächlichkeit ein so reichhaltiges Lob spendet und sie gleichsam als Versöhnung neben die französische Ueberkul- tur stellt. Das Merkchen heißt „Vetter PonS, oder die armen Verwandten" und ist «ine erschreckende Beweisführung, wie Habsucht und Bestechlichkeit, die Krebs schäden der französischen Zustände, schon ties in das Geäder des Familienlebens gedrungen sind, wie überall Genußsucht und EitelkeitSzwccke die Triebfedern jeder Handlung sind und namentlich die erstere in den unteren Volksklaffen überhand nimmt. Balzac reiht seine Beobachtungen an den Faden einer Er» zählung, die Wort für Wort aus dem Leben gegriffen zu sepn scheint und die durch die feinste Pinselführung sich zu einem echten Genrebilde des Pariser Lebens in den dunkleren Regionen gestaltet Die beiden Hauptfiguren find mit unverkennbarer Vorliebe bis in die kleinste Hcrzenssalte ausgcführt, der Vetter Pons, ein alter Franzose von Ehemals, und sein deutscher Freund Schmucke, mit dem Stercotppausdruck der in Frankreich so gedachten deut schen Eigenthllmlichkeit, deren Konterfei im vorliegenden Falle mit wahrhaft herzgewinnender Wärme gezeichnet ist und uns keincsweges Unehrc macht, wenn auch daö Gemüth auf Kosten des Verstandes hcrvorgehoben wird. Schmucke ist nämlich eine heilige Einfalt, ein argloses Spielzeug aller Betrüger und Heuchler, seine Gutmüthigkeit und die Innigkeit seiner Empfindung wird gewiß das Auge mancher Leserin mit Thräncn füllen. Er ist alt und häßlich, so häßlich, daß er und der einzige Gegenstand seiner Zuneigung, der alte Pons, auf der Straße den Beinamen „die Nußknacker" bekommen haben. Seiner Profesfion nach ist er ein Musikus, der bescheiden sein Leben durch Klavierstundcn fristet, aber Abends führt er, fich selbst unbe wußt, die Schönheit und die Poesie, in Gestalt einer Beethovcnschen Sonate, über die Tasten in seine düstere Stube und beglückt dadurch und durch seine rührende Liebe seinen alten Pons. Dieser ist auch Musikus, er hat es aber bis zu einer Dirigentenstelle im Orchester eines Theater-Unternehmers gebracht und besitzt überhaupt mehr Geldmittel als sein Freund, den er zu fich ins Haus genommen, um ihm die Wohnungsmicthe zu ersparen. Der alte PonS ist indessen nicht minder originell; die Grundzüge des franzöfischcn Charakters von Ehemals: Feinheit des Geistes, Lebensklugheit, Freundlichkeit, Gcscllig- kcitStricb und eine Dosts Vergnügungssucht, find treffend angedcutct; bei dem guten alten Pons beschränkt sich die letztere jedoch auf die Leidenschaft für ein ausgesuchtes Mittagessen. Ein solches zu erobern, wendet er alle erlaubten Mittel an und sucht sich zu diesem Zwecke besonders bei seinen Verwandten einzuschmeichcln, die sich eine Stellung in der Welt erworben haben und ein gastfreies Hauü machen. Freilich ist der Verwandtschaftsgrad sehr entfernt mit allen diesen Familien, und sie sehen sämmtlich den armen alten Vetter mit scheelem Auge an, sic haben es sogar vor ihren Dienstboten kein Hehl, wie sie fich seiner untergeordneten Stellung schämen und seine Armseligkeit verachten : der Vetter Pons muß die fetten Bissen ihres Mahles mit dem Wermuthkelch der Demiitbigung genießen. Dennoch vermag er denselben nicht zu ent« sagen, seine feine Zunge fiegt immer wieder über sein feines Gefühl; er kann sich nicht entschließen, anderweitig sein Gaumcngelüstc zu befriedigen, weil dies zu kostbar sepn und das karge Budget überschreiten würde, welches er fich gestellt. Er ist übrigens keineswegeS so arm, wie seine Verwandten glauben, aber cr braucht sein Geld zu anderen Zwecken, für die sie kein Verständniß haben, er ist ein Sammler. Seit langer Zeit verwandte cr alle seine Mittel und seine Mußestunden auf die Jagd von Kunstsachen, unermüdlich kämpfte er um die Wette mit trödlcrischcn Spürhunden und war überglücklich, wenn er sie von der Fährte abgeleitet oder sic in Lug und Trug überlistet hatte. Der Sammelgeist hatte nach und nach ein vollständiges Museum in seiner beschei denen Behausung geschaffen, das werthvoller ist, als manches mit zehnfachen Kosten begründete, weil Pons alt ist und schon mit Kennerblicken Kunstwerke aus der Dunkelheit hervorzog, als sich noch Niemand sonst in Paris mit den selben beschäftigte; Liebhaberei und Gewinnsucht haben jetzt diesen Zweig zu einem der lukrativsten gemacht. Der Vetter PonS besitzt also in seinem Kunst- kabinet einen Schatz, vor dessen baarem Werthc seine vornehmen Verwandten Achtung haben würden, den er aber wie seinen Augapfel hütet und liebt. Sei netwegen ißt cr fremdes Gnadcnbrod, seinetwegen trägt er noch seine Kleider von ehemals, einen Spenser über den Frack, was seine Achnlichkcit mit einem Nußknacker nur noch vermehrt. Pons ist aber ein rechtlicher Charakter, er will seine Verbindlichkeit für die Mahlzeiten bei seinen Verwandten auf eine gute Art vergelten; er hört von seiner vornehmen Cousine, einer Präsidentin, daß sie sich einen der beliebten Rococo. fächer wünscht, und cr ruht nicht eher, bis eS ihm gelingt, von einem noch un erfahrenen Trödler ein Meisterstück Wattcau's einzutauschen. Ganz stolz und fröhlich eilt cr zur Eßstunde in das Haus der Präsidentin, die mit ihrer Toch ter unangenehm von der Meldung des unwillkommenen Gastes überrascht wird und die Zofe laut ausschilt, weil sie versäumte zu sagen, die Herrschaft sep nicht zu HauS. Pons legt unterdessen im Vorzimmer seinen übergezogcnen Spenser ab und tritt mit mehr Sicherheit als gewöhnlich ein, indem cr mit altfranzösischer Galanterie seine Gabe darbringt. Die Mienen der Empfänge- rin Hellen sich auch wirklich auf; in der Freude darüber geht dem armen PonS das Herz auf, und er erzählt seinen Triumph über den Trödler, dem cr mit so vieler Schlauheit für eine Kleinigkeit den köstlichen Fächer abgeschwatzt hat. Die vornehme Cousine fühlt jedoch gar keine Sympathie mit dem Kunstkenner