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Wochenblatt für Reichenvmnd, Siegmar, Neustadt und Rabenstein. Dieses Blatt wird an jede Haushaltung der obigen Gemeinden unentgeltlich vertheilt. M 45. Sonnabend, den 14. November 1903. Erscheint jeden Sonnabend Nachmittags. Anzeigen werden in der Expedition iReichenbrand, Pelzmühlenstraße 47 O>, sowie von den Herren Barbier Bast in Reichenbrand, Buchhändler Clemens Bahner in Siegmar und Kaufmann Emil Winter in Rabenstein entgegengenommen und pro Ispaltige Corpuszeile mit 10 Pfg. berechnet. Für Inserate größeren Umfangs und bei öfteren Wiederholungen wird entsprechender Rabatt, jedoch nur nach vorheriger Vereinbarung, bewilligt. Bekanntmachung. In Gemäßheit der Bestimmungen in § 26 des hiesigen Gemeindeanlagen-Regulativs vom 20. Juni 1899 ergeht hiermit an alle Anlagenpflichtigen die Aufforderung, ihr steuerpflichtiges Einkommen bis Ende November dss. Js. schriftlich an die Gemeindebehörde anzuzeigen. Rabenstein, am 13. November 1903. Der Gemeinderat. Mtsdorf, Gemeindevorstand. Oertliches. Hleichenörand, 13. November. Vorgestern ist der Strumpfwirkermeister Herr Karl Ferdinand Klemm, der älteste Einwohner Neichenbrands, im Alter von 96 Jahren verstorben. — Der hiesige Gabelsberger'sche Stenographen verein hielt am Freitag den 6. d. M. seine diesjährige Generalversammlung ab und konnte an diesem Tage auf sein 12jähriges Bestehen zurückblicken. Bei Ver gebung der Vereinsämter wurden folgende Herren gewählt: 1. Vorsteher: Albert Aurich, 2. Vorsteher: Gustav Pflugbeil; 1. Kassierer: Rudolf Claus, 2. Kassierer: Willy Tischendorf; 1. Schriftführer: Albert Hofmann, 2. Schriftführer: Walter Birke; 1. Archivar: Max Irmscher, 2. Archivar: Otto Reichmann. Die Herren Aurich und Pflugbeil werden auch fernerhin den Unterricht in den Uebungsabenden erteilen. — Eine besondere Rolle spielt in diesem Jahre der 31. Dezember in der Rechtspflege! Er ruft den Kaufleuten und Gewerbetreibenden ein „Achtung!" zu, wenn sie sich vor Verlust schützen wollen. Bis zur Einführung des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches war die Verjährung der Forderungen der Kaufleute, Fabrikanten, Handwerker für gelieferte Waren oder Arbeiten für den Geschäfts- oder Gewerbebetrieb des Schuldners eine dreißigjährige. Das neue Bürgerliche Gesetzbuch hat dagegen in § 196, Abs. 2 für solche Forderungen eine nur vierjährige Verjährungsfrist ein geführt. Infolgedessen verjähren am 31. Dezember 1903 alle Forderungen der Kaufleute, Fabrikanten und Handwerker für Waren oder Arbeiten, welche für einen Geschäfts- oder Gewerbebetrieb in der Zeit vor dem 1. Januar 1900 geliefert worden sind. Wer 1899 und noch früher an einen Detaillisten Waren, an einen Handwerker Rohstoffe u. s. w. geliefert hat, verliert seine Forderung, wenn er bis Ende des Jahres die Verjährung nicht durch Klage, Zahlungsbefehl, Erwirkung eines Anerkenntnisses, auch durch Abschlags zahlungen, unterbrochen oder dem Schuldner weitere Gestundung erteilt hat. Zum ersten Male wird dieser Termin für Handel und Gewerbe bedeutungsvoll. Außerdem verjähren am 31. Dezember dieses Jahres die Forderungen der Kaufleute, Fabrikanten, Hand werker, Fuhrleute, Gastwirte, Lotteriekollekteure, Mäkler, Privatbeamten, gewerblichen Arbeiter, Aerzte, Rechts anwälte, Hebammen, öffentlichen oder Privatlehrer für nicht zum Gewerbebetrieb gelieferte Werke und Arbeiten, Speisen und Getränke, Gehalt, Lohn und sonstige Vergütungen aus dem Jahre 1901 (zwei jährige Verjährung nach ß 196, Abs. 1 des Bürger lichen Gesetzbuches). Auch wegen dieser Forderungen muß also in der oben angegebenen Weise die Ver jährung rechtzeitig unterbrochen werden. Nachbarskinder. Original-Roman von Irene v. Hellmuth. (6. Fortsetzung.» Allerdings quälte sie wieder die Angst, daß die Mutter am Ende die Arznei doch dringend bedurfte, wie leicht konnte der Anfall von vorhin sich wieder holen, und dann war nicht einmal ein Beruhigungs mittel im Hause. Auf der Stirn Evas standen große Schweißtropfen, immer rascher eilte sie vorwärts, während der Ver folger keuchend hinter ihr her rannte. Allein die Flucht war vergeblich gewesen, denn schon hatte Kloßmann das Mädchen erreicht, er schlang den Arm um die bebende Gestalt und preßte sie fest an sich. „Siehst Du, kleine Widerspenstige," rief er, „nun hab' ich Dich doch, Du hast mir viel Mühe gemacht, und zum Lohn dafür sollst Du mir jetzt einen Kuß geben!" Er beugte sich nieder. Eva fühlte seinen heißen Atem an ihrer Wange, sie wehrte sich mit der Kraft der Verzweiflung, da — plötzlich wurde Kloßmann von einer starken, kräftigen Hand zurückgeschleudert, daß er taumelte und Mühe hatte, sich aufrecht zu halten. Eva stieß einen Schrei aus, als sie aufblickend, ihren Retter erkannte. Einen Moment lang über wältigte sie die Schwäche, und ohne sich Rechenschaft von ihren, Lun "geben zu können, ganz willenlos in dem Gefühl der Sicherheit, des süßen Geborgenseins, sank sie in die Arme Doktor Lindes, der Geistesgegen wart genug besaß, die Wankende aufzufangen. Erst das höhnische Gelächter Kloßmanns brachte Eva wieder zur Besinnung. „Also ein Stelldichein, — ach, wie pikant! Na warte, Du spröde Schöne, — also habe ich doch richtig geraten, der Herr Doktor ist der Liebste, des halb wurde ich abgewiesen!" — Eva richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand über die heiße Stirn. Einen Augenblick war es ihr gewesen, als träume sie einen wunderbar süßen, entzückenden Traum, als befände sie sich im Paradiese. „Beruhigen Sie sich, Eva," klang da eine wohl lautende, weiche Stimme an das Ohr des leise er schauernden Mädchens, so mild, wie man mit einem Kinde spricht, — und zwei dunkle Augen hingen mit unbeschreiblichem Ausdruck an ihrem Gesicht. — „Ihr Verfolger ist fort, Sie haben nichts mehr zu befürchten, ich begleite Sie nach Hause, jetzt sind Sie vollkommen sicher." Er zog ihren Arm durch den seinigeu und wanderte langsam die menschenleere Straße entlang, nur von Zeit zu Zeit warf er einen besorgten Blick auf das schweigsame Mädchen. „Sie zittern ja noch immer! Haben Sie sich so sehr geängstigt, Eva?" begann er nach einer kleinen Weile, „was ist denn eigentlich vorgefallen und warum befinden Sie sich so spät auf der Straße?" „Die Mutter wurde kränker," berichtete Eva mit fliegendem Atem, „da ich nichts im Hause hatte, was ihr Linderung schaffen konnte, wollte ich so rasch als möglich eine Arznei besorgen, und da ." Sie schwieg beklommen. Bei der Erinnerung an die eben stattgehabte häßliche Szene zitterte sie noch heftiger, ihre Zähne schlugen hörbar aufeinander. „Man hat Sie belästigt und verfolgt, Eva?" Sie nickte nur. „Aber — ich dachte —er brachte die Worte seltsam stockend und beklommen heraus, „dieser Kloß mann — meine Mutter sagte mir — daß er — und Sie — —." „O, sagte man Ihnen, daß zwischen uns beiden ein Einvernehmen bestände, so sprach man die Un wahrheit!" brach Eva mit solcher Heftigkeit aus, daß sie der junge Mann verwundert betrachtete. Doch leuchtete es in seinen Zügen auf und rasch fiel er wieder ein: „Sie lieben jenen Mann nicht — Eva? Ganz sicher nicht?" Ein erleichternder Atemzug hob die Brust des Doktors, während er unbewußt den Arm des Mädchens leise an sich drückte. „Ganz sicher nicht!" lächelte Eva glückselig. Sie hatten indessen das Haus erreicht. Im Flur brannte eine kleine Lampe und verbreitete eine matte Helle. „Wenn Ihre Mutter es wünschen sollte, Eva —, ich würde gern nach ihr sehen —, soll ich mitkommen?" meinte Doktor Linde, einen treuherzigen Blick auf das leicht errötende Mädchen werfend. „Ach ja — bitte, bitte —, das heißt," erwiderte Eva etwas befangen, „wir werden Ihre kostbare Zeit nicht so lange in Anspruch nehmen dürfen. Sie gehen ja doch wohl wieder auf den Ball zurück, Ihre Tänzerinnen könnten ungeduldig werden!" „Der ganze langweilige Ball mitsamt allen Tänzerinnen soll mir vom Halse, bleiben!" brach er grimmig aus.' ^,Ä'ch,''Walsch 'kam derartigen Ver gnügungen nun einmal keinen Geschmack abgewinnen. Ich lief davon, ohne einem einzigen Menschen „gute Nacht" zu sagen. Diese Mädchen — ich hielt es einfach nicht mehr aus — dieses Kokettieren, dieses Angenverdrehen, dieses Bemühen, jedem zu gefallen! Dazu das krampfhafte Festhalten an einem Gespräch, das geistreich sein soll! Und dabei bekommt man das abgeschmackteste, geistlosesteLeug zu hören! Und zu alledem muß man womöglich noch lächeln, um nicht als ungalant verschrieen zu werden! Es ist einfach nicht auszuhalten! Meine liebe Nachbarin, Frau Seifenfabrikantengattin Sennebach, brachte mich vollends zur Verzweiflung. Alle Augenblicke winkte sie mich mit ihrem gönnerhaften Lächeln an ihre Seite, um mir irgend jemand vorzustellen. Dabei erzählte sie dann die haarsträubendsten Dinge, zum Beispiel, daß junge Mädchen sich sehr leicht „komprimieren" können, daß ihr Herr Gemahl ein richtiger „Garmand" sei und daß er jetzt schon ganz grau „möblierte" Haare habe, und dergleichen schöne Dinge mehr. Da bei zu sitzen und das spöttische Lächeln der Anderen mit anzusehen, das ging über meine Kräfte — ich brannte durch!" Eva lachte, wie wenn man mit silbernen Glöckchen läutet. Es klang so wunderbar süß. „Somit hat es Ihnen auf dem Balle nicht gefallen?" „Nein, gar nicht!" gestand der junge Mann offen ein. Das Mädchen hatte indessen die Tür geöffnet und trat rasch über die Schwelle, während der Doktor etwas zurückblieb. „O Kind — Eva — Du warst so lange fort, ich habe mich recht geängstigt," sagte die Kranke, einen forschenden Blick ans die Tochter richtend. „Aber," fuhr sie, erleichtert anfatmend, fort, „meine Befürchtungen scheinen ganz grundlos gewesen zu sein — Du siehst so eigentümlich — so strahlend aus, gerade als ob Dir „das Glück" begegnet wäre." „Ach, Mutter, was Du doch für scharfe Augen hast," lachte Eva und schlang einen Moment die Arme um den Hals der alten Frau. Dann eilte sie geschäftig zur Tür. „Aber kommen Sie doch herein, Herr Doktor," rief sie, und beinahe übermütig klang dabei die frische Stimnie. „Ach so — also deshalb," murmelte die Kranke und streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. „Störe ich Sie auch wirklich nicht, Frau Abend rot?" fragte er freundlich und nahm neben dem Bette Platz, während Eva sich auf die andere Seite setzte,