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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 12.11.1911
- Erscheinungsdatum
- 1911-11-12
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191111122
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19111112
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19111112
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1911
-
Monat
1911-11
- Tag 1911-11-12
-
Monat
1911-11
-
Jahr
1911
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Be^uk-.Pr^s Ameigrn-Prei- tür Leipria und B«r»r1« durch «s«« Tröger und Spediteur« 2mal tilglich in» Hau, geblocht » P>. monatt., l-7u Mk. viert,Uahrt. Bet unlernFilialen ». Ln» nahmesteüen «rbaehott: 7S Pt. «uaatl, r^SMk. viert,YL-rl. r«ch dt, P»K: innerhalb Deutichland, und der deutsche» Kolonien vierteiiöhrl. S.S» Btt., monatl. I.S> Ml. au»Ichl. Postdestellaeld. Ferner in Belgien, Dänemark, den Donauftaaten, Italien. LuremdurL Niederlande. Nor wegen, Oesterreich»Ungarn. Rußland, Schweden, «chweu u. Spanien. In alle» übrigen Staaten nur direkt durch di« GrichäIt»st«U« de» Blatte, erhältlich. Da» Leipziger Tageblatt «rlcheint 2mal täglich. Sonn- u. Feiertag» nur morgen«. Adonnem«nl».Bnnohmr 2»ha»,i»gals« d«, vnleren Trägern. Filialen, Spediteuren »ud LnnahmesteUen. iowi« Boäämtern und Briefträgern. Slai«l,,rtaut»»r«i» 10 Pf, einiger Tagtblalt !rl.->iischl.!i«m, «Nünoerszelmng. Ämtsölalt -es Aales «nb -es Volizciamtes -er Lta-t Leipzig. 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Dss Wichtigste. * Im Beisein des Kaiserpaares fand am Sonnabend in Kiel die Vereidigung der Ma- rinerckruten statt. (S. Dischs. Reich.) * Der Reichstag führte am Sonnabend die Marokkodebatte zu Ende. (S. bas. Art. und Neichstagsber.) * Dem Reichstage ist ein Weißbuch zu dem deutsch-französischen Marokkovertrag zugcgangen. (S. des. Art.) * Italien sendet weitere Truppen nach Tripolis. (S. des. Art.) * Der ehemalige schwedische Minister präsident Lundebergist gestorben. Der Ssnjler. Wer die letzten ParlamenrStage mitfühlend und mitdenkend erlebt hat, kann leicht zum Men- schcnverächter werden. ES ist unstreitig: vor unfern Augen hat sich eine richtige Volksbe wegung mit flammender Leidenschaft abge spielt. Tie Strömung trug alle Kennzei chen der Massenbewegung an sich: die Verschiedenheit der Motive der einzelnen, die Gleichgültigkeit gegen diese Verschiedenheit, das Ueberwicgen der Leidenschaft über den Verstand, das immer höhere Anschwellen der Wut und das Hinausfluten über alle Grenzen. Es sind in diesen Tagen Leute herumgelaufen, in deren Köpfen es sauste und brauste und deren innerer Zustand ähnlich dem jener krankhaft Erregten gewesen ist, die „rot sehen" müssen. Die Verhältnisse lagen eigenartig: die besten deutschen Patrioten wollen feststcllcn, daß Deutschland eine Niederlage erlitten hat, sie wollen dies buchstäblich durch Eide erhärten und sie wollen jeden niederschmettern, der ihnen nicht zustimmt. „Eine Niederlage, eine Niederlage, eine Schmach, eine Schmach", so rufen sie in die Welt. Auch wer mit kältestem Verstand diese leidenschafterfüllten Männer beobachtet, muß so fort zugestehen, daß uns die patriotische Gesin nung unentbehrlich ist, die sie treibt. Eine Nie derlage und ihre Gründe richtig zu erkennen, tann heißen, den künftigen Sieg vorbereiten, lieber Sieg und Niederlage auf dem Schlachtfeld hat sich freilich einst Suworow etwas anders geäußert. Als er gefragt wurde, was eine ver lorene Schlacht sei, antwortete er: „ich weiß nicht; eine Schlacht, die man verloren zu haben glaubt." Und ein anderer hat den Gedanken weiter gesponnen: „Eine verlorene Schlacht ist gewiß oft nur eine Schlacht, die man ver loren glaubt, an deren folgenden Tagen ein an Seelenkraft stärkerer Feldherr mit einem hierin stärkeren Heere, statt sich zurück- zuzichen und sich geschlagen zu bekennen, Vik toria geschossen und die Geschichte gezwun gen hätte, ihnfürdenSiegerzuhalte n." Der so dachte, war Prinz Friedrich Karl von Preußen. Bei diplomatischen Kämpfen mag es wohl etwas anders sein . . . Der Reichskanzler hat in seiner Abwchrrede vom Freitag denen, die eine deutsche Niederlage ausposannen, zugerufen, daß Wahlrücksich- t e n mitspielcn. Tie Behauptung beschränkte sich nicht auf eine einzelne Partei. Keine aber will es wahr haben. Doch hier sieht das Auge des Gegners wohl schärfer als das eigene. Schön vor Wochen ist von konservativer Seite den National- liberalen nachgesagt worden, daß ihre nationale Opposition mkt den Wahlen zusammephänge, und die Freisinnigen bezeugten am Freitag offen, daß sie etwas AeHnllcheS von Herrn von Heyde- brand glaubten. ES wird schon so sein. Wäre es nicht merkwürdig, wenn hartgesottene Partei- männer irgend eine erhebliche Aktion ohne Prü fung ihrer Wirkung auf die bevorstehenden Wah- len einleiteten? Die Herren Bassermann und von Heydebrand versprechen sich, indem sie ihrem patriotischen Herzen folgen, auch zugleich eine gute Wirkung für ihre Partei. Wersichnicht mitgebundenenHändeneinerPartei überantwortet, mußdaSauSsprechen, ivenn auch die Nichts-als-Parteimänner sich darob erbosen. Ten wahren Interessen großer Par teien wird durch solche Unfreiheit gar nicht ge dient. Der Kanzler hat also am Freitag recht gehabt. Die beiden am meisten Angegriffenen, sowohl Herr Bassermann al- Herr von Heyde brand, wurden von ihrer Partei gedeckt. Das ist ganz selbstverständlich; anders konnte man cs nicht erwarten. Trotzdem ist es sicher, das; die Schärfe der ersten Rede Hcydebrands nicht von allen Konservativen im Lande gebilligt wird. Sie wich erheblich von der bisherigen Haltung der konservativen Presse im Lande ab. Sie wirkte daher auch im Reichstage, obwohl der Breslauer Anftag vorangegangen war, als ein neues Ereignis. Hätte Graf Kanitz gesprochen, so hätte man zweifellos andere Worte gehört. Herr v. Heydebrand wollte einen Triumph bei der Volksstimmung erreichen. Tas ist ihm ge lungen. Aber er erreichte diesen Triumph nickt ohne eine Niederlage des Kanzlers, was an sich zu einem volkstümlichen Erso ge nicht nölig war. Das hat den Kanzler im Innersten empört, zu mal er die Empfindung hatte, daß die positiven Gedanken, die sein Kritiker vorbrachte, abwegig und unbrauchbar seien. Wir meinen namentlich den Rat, die Regierung hätte sich freie Hand hal ten und warten sollen. Hier ist der Kanzler uns der bessere Führer. Es gab eine Zeit, wo die Regierung sagte: „mir können warten." Aber es war aus dem unmittelbarsten Empfinden der durchlebten Monate geurteilt, wenn der Kanzler erklärte, es wäre falsch gewesen, dauernd die Hände in den Schoß zu legen; man mußte handeln und ein Risiko übernehmen. Man kann glauben, daß eS Tage gegeben hat, wo die ver antwortlichen Männer mit brennender Sorge dem Moment entgegensahen, wo ihnen eine ver hältnismäßig friedliche Demonstration wie die Entsendung eines Schiffes unmöglich gemacht wurde durch das Zuvorkommen einer andern Macht. Warum denn sonst das grim mige Dementi der verfrühten Meldung! Indem also Herr v. Heydebrand in dieser Weise Kritik übte, enthüllte er, daß er selbst in dieser Frage als den Dingen Fernstehender spreche. Dazu die Verbindung seiner hochgemuten Worte gegen England mit einem Seiten hieb gegen den Kanzler. Schlimmer noch die Ignorierung der vom Kanzler gesprochenen „ernsten Worte" gegen England. Der "Kanzler hat in seiner ersten Rede erklär:, daß er nach Lloyd Georges Bankettansprache nach Eng land ein Ersuchen gerichtet hat, das, von uns in die deutsche Umgangssprache übersetzt, ungefähr lautete: „W ennSieWü n sche ha - b c n, bringen 'Sie sie gefälligst auf den unter gesitteten Leuten üblichen Weise vor." Und die englische Regierung ist daraus still gewesen. Daß Herr v. Heyde brand glaubte, über diese ganze Erklärung hin- weghüren zu tonnen, um sich selbst auf Kosten des Kanzlers in und außer dem Hause einen Erfolg zu bereiten, hat den Kanzler empört und ihn zu einem energischen Willcnsausbruch geführt. Mag man einen Parteistandpunkt wählen, wo man will, man wird bekennen müssen, daß auf dem Posten, wo Herr v. Beth- mann Hollwcg steht, ein Arsenal von Wil lenskraft, — nicht zu verwechseln mit ge schäftigem Eifer, dessen Uebermaß nach dem be kannten Worte eines Routiniers schädlich ist, — vorhanden sein muß. Der fünfte Kanzler des Deutschen Reiches, der einzige für die deutsche auswärtige Politik verantwortliche Mann, will nicht ungestraft auf sich hcrumtrampeln lassen. Er weiß, daß die Werte, die er zu vertreten hat, leiden müssen, wenn man ihren Hüter als em Nichts behan delt. Er will auch das Werk, an dem andere und er monatelang gearbeitet, nicht in den Schmutz ziehen lassen. So ungefähr, denken wir, wird es in der Seele des Kanzlers am Freitag aus gesehen haben. Sein Recht aus Abwehr ist zwar so selbstverständlich, daß es auch zweifel los von denen, mit denen er sich auseinander setzte, anerkannt wird. Sollten sie der Meinung sein, daß dieses Recht mit allzu großer Schärfe benutzt wurde, so wäre eine solche Ansicht doch schwerlich ein Anlaß, daß in der allgemeinen politischen Hal tung der betreffenden Gesamtparteien eine Veränderung ein tritt. Es war wohl getan, daß dec Kanzler in dem Momente der Abwehr für die Erweckung des vaterlän dischen Gefühls dankte, selbst soweit es sich gegen ihn gekehrt hat. Möge dieser vater ländische Impuls zu sicheren Besitz werden. Die mancherlei G c f ü h l s a u f w a l l n n g e n der letzten Zeit, die sich durch Massenwirkung erhöhten, werden vielleicht schneller ver gehen, als die Träger dieser Gefühle heute noch glauben. * Die „Norddeutsche Allgemeine Zei tung" schreibt: In zwei Reden hat der Reichskanzler das deutsch-französische Abkommen im Reichstage ver treten, zunächst in sachlicher Darstellung, sodann in entschlossener Abwehr von An griffen aus ein nacy langen Verhandlungen gelunge nes Werk internationaler Verständi gung. Beide Reden müssen im Zusammen hang beurteilt werden. Die Notwendigkeit der zwei ten ergibt sich aus der Aufnahme, die die erste Rede im Reichstage gefunden hat. Sache des Reichstages wäre es gowejen, die verzweifelte Kritik, die von einem großen Teil der öffentlichen Meinung an dem Marokkoe.bkommen geübt worden ist, auf Grund der Erklärungen der Negierung auf ihre Berechtigung zu prüfen. Statt dessen stieß die Darlegung der Tat sachen durch den Reichskanzler auf vorgefaßte, fertige Urteile, die eine objektive Würdigung des Erreichten nicht auskommen ließen. Nur selten ist eine schwierige und schwcrwieaense politische Ak tion durch so weitgehende Nachgiebigkeit gegen gefühlsmäßige Stimmungen ent wertet worden. Pflicht des Reichskanzlers war es daher, das Land und die Parteien zur V e - sonnenheit z u r ii ck z n r u f e n und den 'schäd lichen Wirkungen chauvinistischer Ausbrüche auf die politischen Beziehungen des Reiches zum Ausland vorzubeugen. Die Vedcutung dieser Abwehr wuchs weit über den Charakter einer per sönlichen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Partcircdnern hinaus. Für den Reichs kanzler handelte es sich vor allem um die F rer- inachung eines politischen Weckes von phan tastischen Ansprüchen und wahltakti schen Rücksichten, die bei mehr als einer Partei zu der ungünstigen Aufnahme Leigetragen haben. Das ist im Reichstage ohne Zweifel verstanden wor den, und deshalb hat diese zweite Rede so tief ge wirkt. Die Kundgebungen hervorragen der Männer des öffentlichen Lebens außerhalb der Parteien lassen erwarten, daß sich auch im Laude die Rückkehr von einem ungerechrfertiglcu, durch die Sprache der Tatsachen widerlegten Pessi mismus vorbereitet. Oer Abschluß üer Msrokkvöedstte. ^Stimmungsbild aus dem Reichstage.) F. Berlin, 11. November. (Pcio.-Tel.) Ohne Prinz und ohne Kanzler bricht der dritte Tag der Debatte an. Abg. Fran k°Mannh«im (Soz.) kann einem frischen Haus sagen, was er zur Er gänzung Bebels vorzuonngen weiß. Er lobt Len Kanzler, weil er den konservativen Patriotismus tot geschlagen habe; ob das freilich die Art ist, Len Kanzler auf diesem Wege sestzutzalten, kann oezwet- felt werben. Doch daran lieg: ihm wohl weniger, als ein Brillantfeuerwerk des Witzes leuchten zu lassen, Pointen und Antithesen auszustreuen. Das Auftreten des Kronprinzen im Reichstage lnetet sei ner fatyrischen Neigung Stoss. Zulunstsf«r,xeillvcn düsterer Art werden ausgemalt und das positive Fragezeichen es fehlt nicht ganz. Im Interesse der Arbeiterschaft begrüßt der Sozialdemokrat die Lurch das Marotkoabkommen erzielte Beseitigung einer Monopolstellung im Schcrifenreicke. Statt nach Aga dir hätte er aber das deutsche Schiff nach Casablanca oder Mogador geschickt. Wenn es geschehen wäre, hätte Herr Frank es wirklich gebilligt? Aus der Rede eines polnischen Abgeordneten ist der Hinweis bemerkenswert, daß die Polen an der Wahrung des Friedens Interesse hätten. Das war nicht immer so. Ein Freund des Friedens ist auch der Abg. Haußmann (Vpt.). «ein rednerisches Auftreten in den Novembertagen 1908 ist noch unver gessen. Damals wurde er durch die Woge der Be wegung in die Höhe gehoben und man empfand es für einen geschichtlichen Moment, als der schwäbische Volksredner sich an die Konservativen wandte und sie mahnte, den Weg, den der Fortschritt zur Siche rung der Verfassung gegen Uebergriffe beschreiten wollte, mitzuaeycn. Heute sicht er sich auch einer wallenden und wogenden Volksstimmung gegenüber, aber er glaubt. Unterschiede machen zu müssen. Der Wille Les Volkes, so meint er, wird nicht immer in erregtem Zustand allseitig erkannt. Es gelte kaltes Blut zu bewahren, und so sucht er denn bei Beurtei lung des Marokkoabkommens und unseres Verhält nisses zu England die Besonnenheit zur Geltung zu bringen. Da fällt manch gutes Wort, an dem sein schwäbischer Landsmann Kiderlen seine Genugtuung haben mag. „Wir müssen i u einer einheitlichen Poli- tit in Deutschland kommen, die nicht nur die Heißblütigen, sondern auch die Kaltblütigen hinter sich hat." So ungefähr hatte Haußmann geendet. Einer von den Heißesten der Heißen war sein Nach folger, Zlbg. von Liebert (Reichspartei). Nach wenigen Worten war er in Feuer. Es ging gegen Italien. Statt aber mit einem Dantewort oder irgendeinem Urteil, das zugleich die Kenntnis und Wertung italienischen Wesens ausdrückte, den Ita lienern an die Seele zu rühren, schleuderte er Las Wort: „Raubzug gegen Tripolis" in den Saal und mußte sic^ von seinem Fraktionsgenossen, dem Prä sidenten « ch u l tz, eine Zurechtweisung gefal len lassen. Man muß die Entgleisung doppelt be dauern, denn im weiteren Verlauf der Rebe, nament lich bei Beurteilung des deutsch-französischen Abkom mens, legte der Redner sich selbst die Zügel an; nach dem einmal das Abkommen abgeschlossen sei, wollte er von Pessimismus nichts wissen. Herr von Ki ds r len genügte der Amtspflicht noch ausdrücklich, die Mißbilligung der Regierung gegen den scharfen Ausdruck Lieberts auszufprechen. Daran knüpfte er noch einige Sätze. Zum ersten Male zeigte sich, daß er auf dem Instrument Les Parlaments zu spielen gelernt hat. Er verteidigt die deutsche Diplomatie, der Tollkühne. Und siehe da, es entsteht Heiterkeit, aber diese Heiterkeit ist unstreitig nicht unfreiwillig. Er wird mutig und erreicht, als er sich zum zweiten Make erhebt, mit einer humoristischen im schwäbischen Dialekt gegebenen Schilderung der berühmt gewor benen Berliner Versammlung von etwa 50 Presse vertreter, die Marokko „annektieren" wollten, eine durchschlagend« Heiterkeitswickuug. Ob «seine Be hauptung. daß das Auswärtige Amt von der „An nexion" abgesehen habe, auch weiterhin von Presse vertretern bestritten werden wird, bleibt abzuwar ten. Uns scheint die Feststellung dessen, was damals gewesen, nicht die Hauptsache am Maroltohandel ge wesen zu sein. Selbst wenn man glauben wollte, daß irgendwelche Beamte Les Auswärtigen Amts im Juli mit dem Gedanken des Landecwcrbs in Marokko operiert hätten, so wird man doch ebenfalls glauben müssen, daß in Paris und London den dortigen Pressevertretern im Juni und Juli etwas anderes als Ziel der Politik der Regierung genannt worden ist, als schließlich durchgesrtzt wurde. Das sind Sachen, die dort säzeinbar zwischen Auswärtigem Amt und Journalisten begraben sind. Sie sollten in Deutschland nicht an die große Glocke gehängt werden. Ein dritter Schwabe, Erzberger (Ztr.), ferner Bebel sSoz ), Mugdan (Vpt.) und Fischer- Berlin (Soz.) haben noch etwas auf dem Herzen. Zentrum und Fortschrittliche rechnen mit der So zialdemokratie wsgen ihrer unpatriotischen Haltung während der zurückliegenden Monate ab. Abg. Bebel mit feinem Instinkt für die augenblickliche Volks stimmung, stellt die sozialdemokratischen Demonstra tionen als harmlos hin. Von Massenstreiks keine Rede! Nunmehr kann der Präsident dem Hause die Mit teilung machen, daß die Debatte geschlossen sei. Weder von den Nationalliberalen, noch den Konservativen hat noch ein Redner gesprochen, ein Beweis, daß man sich in diesen Parteien keinen Vor teil daraus versvricht, den Faden weiterzuspinnen. Endlich überwerst man das gesamte Material der B ud g e t k o mm iss i o n. Drei abwechslungs reiche Tage sind damit abgeschlossen: Der Tag Lev Reichstags, der Tag d«s Kanzlers und der Tag der Schwaben. Die Ucberweisung an die Kommission hat den großen Vorteil, daß in jedem Augenblick, wenn Ereignisse in Paris dies wünschenswert erschei nen lassen, die Debatte wieder ausgenommen werden kann. Dss Scho Ser zweiten KsnzlerreSe. Tie Frcitagsred« des Reichskanzlers, in der er von der sachlichen Darstellung zur Abwehr der llebcctrcibnngen der parlamentarischen Kritik über ging, sinoct naturgemäß in der gesamten Presse einen lebhaften Widerhall. Recht verschieden ist die Be urteilung unter dem ersten Eindruck der Rode: Tie „Deutsche Tageszeitung" schreibt: „Ganz unbegreiflich muß es erscheinen, daß der Reichskanzler gegen die konservative wie gegen die nationälliberale Fraktionsrede den Vor wurf erheben konnte, daß sie von Wahlrück- si chren diktiert gewesen seien! Weshalb Herr von Bethmann Hollwög diese Unterstellung dein konser vativen Redner gegenüber noch direkter machte, als dem nationalliberalen, obwohl Herr Bassermann nicht nur die Auffassung des Herrn v. Heydebrand in puncto „Tischrede" in aller Form akzeptiert, svn- dern auch ausdrücklich erklärt hat, dec konservative Sprecher habe eine minder scharfe Kritik an den Verträgen geübt als er selber, soll unerörtert blei ben. Taß der Herr Reichskanzler einen so überaus schweren und ^verletzenden «Vorwurf gerade geg:n Par teien aussprechen konnte, die doch wohl stets als Träger nationaler Politik in der ersten Linie ge standen haben; wie er verkennen konnte, welche Bedenken es auch dem Auslande gegenüber haben muß, wenn er dieses Urteil im offenen Parlament und in dieser Situation doch zugleich über die hinter diesen Parteien stehenden Teile des deutschen Volkes fällt, das ist und bleibt wirklich überaus schwer verstärrdlich." Tas Zontrumsorgan am Rhein, die „Köln. Volkszeitung" meint: „Tie Reichskanzlerrede ist ein politisches Er eignis, dessen Bedeutung im Augenblick noch nicht nach allen Seiten hin zu übersehen ist. Tis Si tuation hatte heute im Reichstag so manche Aehnlichkeit mit der vom 13. Dezember 1906, nur daß die Rollen der Parteien vertauscht sind. Damals sollte es gegen das Zentrum gehen, beute tonnte man meinen, cs solle gegen die Konservativen Sturm gelaufen werden. Tas Blatt meint aber schließlich, eine neue Orientierung der Bethmannschen Politik nach links zum Großblock unb geizen rechts sei nach der lektcn wirtschaftlichen Programmrede des übccagrarlschen NeichSkanzlerchwie ein liberales Blatt ihn nannte, doch wohl eine Illusion." Die „Bofsische Zeitung- schreib: „Endlich eine Sprache, die den Mann der Tat verrät. Vielleicht gehört für einen Reichskanzler und Ministerpräsidenten hierzulande mehr Mut dazu, dem ungekrönten König den Handschuh ins Gesicht zu schleu dern, als mit dem gekrönten König anzubinven. Die Wirkung der ganzen Rede war verblüffend; wie der Kanzler mit einem Male in straffer Haltung da stand, den Ton steigerte, die Worte scharf akzentuierte; es war von elementarer Gewalt. Und da» geschah am Tage, nachdem Herr von Heydebrand die Polnik des Kanzlers und auch des Kaisers in Grund und Boden verurteilt hatte. Jedenfalls hat Herr von Bethmann Hollweg den ersten rethorischen und einen wirklich politischen Erfolg in seiner Kanzlerschaft erlangt." Das „Berliner Tageblatt- äußert sich: „Die Linke wird dem Kanzler gern Anerkennen, daß er gestern manches richtige Wort gesprochen, und sie darf es ihm auch danken, daß er den Wochlkampf von dem nationalistischen Gift befreit. Aber sich sei nem schwankenden Schiff anzuvertrauen, dazu Hai sie nicht die geringste Veranlassung. Sie hält davon fest
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