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Wöchentlich «cichcjnen drei Nummern. Pränumeration--Preis 22 j Silbergr. (j Tblr.) vierteljädrlich, Z Tdlr. für da- ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumerirt aus diese« Literatur- Blatt in Berlin in der Expedition der Illg. Pr. Staats-Zeitung (Friedrichs- Straße Nr. 72); in der Provinz so wie im ÄuSIande bei den Wohllöbl. Post-Aemtern. Literatur des Auslandes. 66. Berlin, Freitag den 3. Juni 1842. Rußland. Uebcr Kunst und Literatur in ihrem Verhältnisse zur Gesellschaft. Von N. Polewäi. °) Was man auch sagen möge, so kann doch nur unsere Eigenliebe uns den Wahn beibringen, als gehöre die Kunst eben so zum Alltagsleben, wie alles Positive und Materielle; als wäre das Vergnügen an ihren Schöpfungen für Jedermann eben so wesentlich, wie das Vergnügen an sinnlichen Eindrücken. Singet nur und spielet auf eurer Leier, Poeten! Meißelt nur eure Phantasie gebilde aus dem Marmor, ihr Bildhauer! Suchet nur Töne aus den Tiefen eurer Seele und laßt sie vermittelst eures Violinbogens in andere Seelen übergehen, ihr Musiker! Traget eure Ideale auf die Leinwand, ihr Maler! Die Leute werden eure Sänge und Klänge anhörcn, werden eure Bildwerke und Gemälde ansehen; aber alle eure Schöpfungen werden das Ohr und das Auge immer nur auf Augenblicke in Anspruch nehmen, nie ein wesentliches Glück ausmachen, an welches der Mensch sich gleichsam festklammertc, das er zu seinem Daseyn nothwcndig glaubte. Willst Du, o Künstler, etwas leisten, was den Menschen wahrhaft wichtig ist, was sie für nützlich oder gar für nothwendig halten — so steige von Deinem Piedestal, ans welchem Du die Bewunderung des Volkes zu erwerben gedenkst: mische Dich unter den Haufen, unter die Frohnknechte der Eitelkeit, die dienstbaren Geister der Caprice! Bist Du ein Maler, so fertige keine Gemälde, sondern Zierrathen für die Wände — stehe, jener reiche Banquier hat keinen Pendant für die Zwischenräume seiner Fenster: er muß ein Bild haben, das gerade zwei Ellen hoch und anderthalb Ellen breit sey, mit goldenem Rahmen! Bist Du cm Bildhauers nun wohl, im Garten desselben MäcenS sind Statuetten für den Pavillon nöthig und Karyatiden für den Balkon und Vasen für den künstlichen Hügel! Macht euch Beide auf: cs gilt, einen gewissen Herrn zu portraitiren und zu modelliren — einen Herrn, vor dessen Bild und Büste die Nachkommen einen Augenblick verweilen und etwa fragen werden: „Wer zum Henker ist denn da abkonterfeit?" Jener Große giebt einen Ball, und es ist neue Musik zu einer neuen Quadrille nöthig: wirf Deine Symphonie in die Ecke und zerarbeite Dich an einer Tanzmusik, o Komponist! Da hast Du ein dummes Libretto — schreibe die neue Musik dazu, oder paffe nur eine alte der neuen Monti- rung an- Und was wird man bei Dir bestellen, Poet? Was wird man Dir in Arbeit geben, Literat? Besinnt euch einmal: könnt ihr uns nicht auch mit eurem Talente ein wenig amüsiren? Wir bezahlen euch dafür. Ersinnet wo möglich etwas, das zum Nutzen und Vergnügen sey. Du mußt Dir nicht einbilden, Leser, daß man nur in unserer Zeit so mit den Künstlern spreche: so ist's immer gewesen. Du mußt nicht glauben, es habe jemals oder irgendwo ein goldenes Zeitalter für Künstler und Dichter eristirt, in welchem die Kunst den wesentlichen Elementen der Gesell schaft uninteressirt sich beimischte. Nein, ein solches Zeitalter ist noch nie ge wesen, wie überhaupt kein goldenes: schon dieses glänzende Epitheton ver kündet, daß die Sache nur im Hirn der Dichter eristirt habe. Aber gerade hierin liegt auch der Beweis des erhabenen Ursprungs der Kunst und ihrer absoluten Nothwendigkeit, ob zwar nicht für die Leute, so doch für die Menschheit. Hülflos verachtet, für Unverstand erklärt, hat sie aus der Seele des Menschen sich losgerungcn, ist sie ein Bedürfniß seines Geistes geworden, offenbart sie sich in reinem Geistesdrang, ohne Berechnung. Die Kunst schafft nicht auf Bestellung, übergiebt uns ihre Schöpfungen nicht zum Zeitvertreibe, zwingt uns unwillkürlich zu enthusiastischer Bewunderung derselben. Wenn sie kein Glied in der Kette unserer Lebensbedürfnisse seyn kann, so ergiebt sich eben hieraus, daß ihr Reich nicht von dieser Welt ist. Bei den Menschen findet sie keinen Lohn, und ihre Schöpfungen selbst sind ihr die vornehmste, die großartigste, die einzige Vergeltung. Sollen wir dar über zürnen? Ist überhaupt irgend etwas Großes, Schönes und Erhabenes materiell und irdischer Natur? Sind die heiligen Wahrheiten der Religion selber einem Jeden zugänglich — die unsterblichen Thaten edler Selbstauf opferung einem Jeden möglich oder nur begreiflich? Sehet die Gestirne: ihr Lichtstrahl nur ist uns gegeben; sie selber bleiben am Himmel, gehören der Erbe nicht an. Und wenn ihr Licht in den armen irdischen Wassern sich spie- ') Bildet die Einleitung zu dessen Kritik de« Romanes Mathilde, von Sue, und wird einen neuen Beweis von d-r scharfsinnigen AufsaffungSweise diese« gediegensten der neueren Russischen Literaten geben. gelt, so zittert es und wird unlauter. Ein Kind des Staubes mit Erinne rungen an seine himmlische Heimat, muß der Künstler oft vor den Menschen sich erniedrigen um der Bedürfnisse seines materiellen Daseyns willen; aber selbst in solchem Falle verfehlt er sein Ziel, und das aufgetragene Werk be geistert Niemanden, wenn er handwerksmäßig daran arbeitete und ohne Be geisterung für das Ideal nicht verstand, ihm Seele einzuhauchen. Ganze Zeitalter gingen für die Kunst verloren, weil sie nur der Eitelkeit und Hab sucht knechtisch fröhnte; denn wie die frische Luit durch den Athem eines Bolkshaufens faulig wird, so muß die Kunst vermodern, wenn sie den Gift hauch irdischer Eitelkeit einzieht. Mit dem bis jetzt Gesagten haben wir die folgenden Wahrheiten beleuch ten wollen, die zu jeder Zeit und allerwärts unverändert geblieben find: Das wahrhaft Künstlerische, in wahrhast großartigen Kunstwerken Darge stellte kann nicht allgemeines und materielles Bedürfniß der Menschen werden, und befriedigt seiner Natur nach dnün erst die Forderungen der Menschheit, wenn es selbständig und unabhängig entstanden ist. Daher der ewige Kampf zwischen den verschiedenen Generationen. Da übrigens die Kunst und ihre Leistungen, wie Alles auf dieser Welt, in gewissem Betrachte den Bedingungen der Materialität unterworfen find, so nehmen sie auch nothwcndig das Gepräge ihrer Zeit und ihres Ortes an. Doch genügen sie dann nur der Menschheit, wenn dieses Gepräge ihnen minder stark aufgedrückt ist. Hieraus ergeben sich zwei nothwcndige Folgerungen: die Kunst muß um so mehr gefallen, je mehr sie die ewigen künstlerischen Wahrheiten mit den Erfordernissen des Zeitalters vereinigt. Beweist sie aber dem Zeitalter zu große Jndulgenz, so fällt sie, wird zum Gewerbe und erwirbt sich die Ver- acüi.ing ihrer Zeitgenossen, za des großen Haufens selber. Leider reißen die Nothwendigkcit, die Verhältnisse, auch Schwäche und Leidenschaften den Künstler nicht bloß zu unwillkürlicher, sogar zu vorsätzlicher Erniedrigung fort. Immer hat es Mißbräuche gegeben, und diese Mißbräuche werden nie ein Ende nehmen. Man werfe einen Blick auf die Kunst und die Künste in Griechenland, wo sie entstanden, in Rom, wohin sic aus Griechenland verpflanzt wurden, in dem weltberühmten Zeitalter Leos X. und in dem hochmüthigen Zeitalter Ludwig's XIV. Eine stolze selbständige Kunst machte sich in der Gesellschaft geltend und bezeichnete ihr Daseyn mit unsterblichen Meisterwerken. Der gleichen Schöpfungen blieben fast immer unerkannt, und viele Ursachen, vor Allem aber die menschliche Schwäche und Leidenschaftlichkeit, zogen die Kunst von ihren Idealen zur platten Wirklichkeit herab. Das achtzehnte Jahrhun dert zeigt sie uns überall in einem dienstbaren handwerksmäßigen Zustande; allein sie erwarb sich den Schutz der Vornehmen und Reichen, sie wurde ein angenehmes Spielwerk des großen Haufens, ein allgemeiner nationaler Zeit vertreib. Als die politischen Stürme der neueren Zeit ausgetobt hatten, da be- gannen die Stürme der intellektuellen Welt und reflektirten sich glühend in den Ideen und Ansichten vom Schönen und von der Kunst. Hat man aber diese neuen Ideen bis jetzt in selbständigen, von nichts Irdischem bedingten Schö pfungen verkörpern können? Nein — und die Ursachen davon find theils in den Künstlern selber zu suchen, theils in ihren Zeitgenossen, theils endlich in der Kürze der Periode, die von der Zeit der Umwälzung bis auf unsere Zeit verflossen ist. Man sagt uns, wir leben ungewöhnlich rasch, und in unserer Zeit werde in einzelnen Jahren Vieles zur Vollendung gebracht, was ehemals Jahrhun. derte erfordert habe. Ist diese Meinung nicht ein Wahn ? Sollten die Natur und das Leben von ihrer gewohnten Regel abgcwichen seyn? Nein, beide find immer noch dieselben, wie der Mensch immer noch derselbe ist, und die Ordnung der Begebenheiten ruht noch auf ihren alten Prinzipien. Die ganze Täuschung der Andersdenkenden hat, nach meiner Meinung, ihre Quelle in dem Umstande, daß wir die Periode der Umwälzung noch nicht ganz durchgelebt haben. Von ihrem stürmischen Fluge erschreckt, wollen wir uns die Ueberzcugung beibringen, daß sie schon am Ziele sey; aber in der That ist nur erst die Zerstörung am Ziele; der Wiederaufbau hat noch gar nicht begonnen, und die Gegenwart ist eben derjenige Moment des Sturmes, wo die Wogen, nachdem sic verheerend die Küste überfluthet, zurücktretcn und sich austosen. Dieses Zurücktretcn der moralischen Wogen erklärt die vermeintliche stür mische Eile in unserem Leben. Sie giebt zugleich Ausschluß über einen anderen Jrrthum, als ob diese Eilfertigkeit des Lebens intellektuelle Großthaten erzeuge, die man früher nicht einmal zu denken gewagt, über den Wahn, als bewegten