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VoilMiliMfr Anzeiger. 8ieveimndsech8zigster Fahrgang. Verantwortliche Redaction, Druck und Verlag von Moritz Wieprecht in Plauen. Dieses Blatt erscheint wöchentlich dreimal und die Post, 1 Thlr. 10 Ngr. — Annonce "d ' ^^""erstags und Sonnabends. Jährlicher Abonnement-preis, auch bei Beziehung durch finden in d-r A'""gs 12 Uhr eingehen, werden in die TaaS darauf erscheinende Nummer ausgenommen, später eingehende Annoncen " noch^ig,^, N.mm.r A-fnahm,. - 2ns„a>- w,rd.n mi, I Ngr. f°. di. z-sp-Ii-n- C-rpu-.Z.ii. b.r.chn,.. Dienstag. LS. Juli 18Z« SV Ueber Rahrungs- und Erwerbsverhältnisse der Gegenwart. Nur zu ost noch treten in der Gegenwart Leute auf, die geneigt und über den Schattenseiten unserer Zeit die Lichtseiten derselben zu übersehen, wahrend sie dagegen sür die Vergangenheit voll Lobes sind und diese über haupt als „die gute alte Zeit",' rühmen. Sie ergehen sich namentlich in Klagen über das, angeblich in fortwährendem Wachsthum begriffene Miß- verhältniß der Bcvölkerungszahl zu den vorhandenen NahrungS- und Er werbsmitteln, über die daraus hervorgchende Massenarmuth und ihre schrecklichen physischen und moralischen Folgen. Weil man die vorhandene Noth vor Augen sicht, so vergißt man zu forschen, ob eS früher nicht ebenso gewesen und macht wohl gar die fortschreitende Kultur, Handel und In dustrie, weil sic als die hervorragendsten Kennzeichen der Gegenwart gelten, verantwortlich für die vorhandenen Gegensätze von Arm und Reich, ohne zu bedenken, daß auch in früheren Zeiten Dürftigkeit und Wohlleben eben so schroff neben einander standen. Denn cs läßt sich Nachweisen, daß Noth und Elend früher, bei einer viel dünnern Bevölkerung unsers deutschen Vaterlandes, ebenso groß, ja zum Theil größer gewesen, als heut, wo wir an vermeintlicher Ucbervölkcrung leiden. Es waren zu den Zeiten eines strcnggcschlosscnen Gewerbebetriebes die Klagen über Nahrungsmangel und erdrückende Concurrcnz nicht weniger häufig und ost begründeter, als jetzt bei größerer Freiheit. Es kann durch Zahlen bewiesen werden, daß die Einführung des Maschinenwesens und der großen geschlossenen Etablisse ments die Lage dcS Arbeiters nicht verschlimmert, sondern verbessert hat und daß cS daher ein für den Einzelnen, wie für das Ganze unheilvoller Gedanke ist, Maschinen zerstören und an deren Stelle wieder die Handarbeit setzen zu wollen. — Für diesmal wollen wir nur, um den unbedingten Lobsprcchern früherer Zeit einigen Stoff zum Nachdenken zu liefern, den Versuch wagen, durch Gegenüberstellung der heutigen mit den ehemaligen Erwerbs- und NahrungSverhällnissen Gegenwart und Vergangenheit in das rechte Licht zu setzen. Fangen wir bei dem ersten und wichtigsten Lcbensbedürfniß, dem Brodgctreide an, so müssen wir annchmcn, daß im Allgemeinen die Er- zengung desselben in Deutschland seit etwa hundert Zähren sehr bedeutend zugenommcn habe, indcm damals der Gcsammtcrtrag der einheimischen Getreideproduktion, nach ziemlich glaubwürdigen Berechnungen kaum mehr alS den eignen Bedarf der Bevölkerung deckte, höchstens einen genügen Ucberschuß zum Verkauf in'S Ausland darbot, wogegen jetzt nicht allein cine um ohngefähr die Hälfte stärkere Bevölkerung davon ernährt, sondern auch ein beträchtliches Quantum nach außen abgcsetzt wird. Nach den höchsten Schätzungen hätte Deutschland in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine KornauSfuhr von etwa 10 Millionen Thalern gehabt. Heutzutage beträgt die Mchraussuhr an Getreide nur allein im Zollvereine einige 20 Millionen Thaler; die des ganzen Deutschlands, ohne Oester reich ward von dem Statistiker, Freiherr» von Reden, im. Jahre 1845 bereits auf 40 Millionen Thaler berechnet. — Trotzdem ist aber der Ver brauch durch die inländische Bevölkerung, nach Köpfen gerechnet, wenn nicht gestiegen, doch auch nicht gesunken, woraus folgt, daß die vermehrte Einwohnerzahl in Bezug auf Ernährung durch Brodkorn sich nicht schlechter befinde, als die frühere, dünnere. Es läßt sich dies durch die glaubwür digen Ermittelungen des statistischen VureauS in Berlin über die Ver- ' Lehrung von Brodkorn in den letzten fünfzig Jahren nachweisen. Diese ergeben, daß in den Jahren 1806, 1831, 1842 und 1849 gleichmäßig vier Scheffel Korn auf den Kopf kamen. Hiernach ist klar, daß die vermehrte Ausfuhr von Getreide in der Gegenwart ein wirklicher Ueberschuß ist, hcrrührcnd von einer bessern Bebauung und Fruchtbarmachung des BodenS. So z. B. ward in Kurhcssen bei der im Jahre 1764 vorgcnommenen Ka- tastrirung der Ertrag eines Ackers bester Qualität zu 28*/z Metze berechnet, während man ihn jetzt auf mindestens 41 Metzen veranschlagt. — Ein zweites wichtiges Lebensbedürfniß ist daS Fleisch. Dessen Verbrauch hat sich in den letzten 50 Jahren von 33 Pfund für den Kopf aus 40 Pfund gehoben. Hierbei dürfen wir nicht außer Acht lassen, daß auch manche ganz neue Nahrungsmittel, die früher theilS gar nicht, theils nur wenig in Gebrauch waren, während der letzten hundert Jahre mehr und mehr in Aufnahme gekommen sind und gegenwärtig einen ziemlich bedeutenden An theil zu dem Gesammtverbrauch der Lebensrnittel liefern. Dahin zählen wir namentlich die Kartoffel, die bis zum siebenjährigen Kriege ein kaum nenncnSwertheS Quantum der Verzehrung in Deutschland bildete, seit der großen Hungcrsnoth von 1771 und 1772 aber in immer größeren Mengen angebaut ward und dermalen mindestens das Doppelte des Ge treideverbrauchs beträgt. Mag immerhin dieses Nahrungsmittel vom diäte tischen Standpunkte aus, namentlich als alleiniges oder vorwiegendes, ge gründeten Bedenken unterliegen, so muß man doch sagen: ein minder gutes Nahrungsmittel ist immer besser, als gar keines, und die Kartoffel hat wenigstens das Verdienst, in Jahren des Gctreidemangels uns vor förm licher HungerSnoth zu schützen, wie solche in früheren Zeiten beim Miß- raihen der Drodfrucht regelmäßig und ost in furchtbarster Gestalt auftrat. Und, wie sehr auch zu wünschen wäre, daß unsere Bevölkerung statt der 9 bis 10 Scheffel Kartoffeln, welche man auf den Kopf rechnet, und deren Nahrungsstoff etwa 2 Scheffeln Getreide gleichgestellt wird, lieber 2 Schfl. Getreide mehr verzehrte, so darf man doch nicht vergessen, daß, wie schon angeführt, der Verbrauch an Getreide noch mindestens ebenso groß ist, als früher, so daß jene Masse Kartoffeln einen reinen Zuwachs an Nahrungs mitteln darstcllt. - Wlr gehen über von den nothwendigen Lebensbedürfnissen zu den an genehmen Lebensgenüssen. An Kaffee kamen noch Ende des vorigen Jahr hunderts nicht mehr als 1 oder höchstens 1*/, Pfund auf den Kopf, und zwar in den Gegenden, wo dieses Getränk schon am Meisten üblich war und am Wenigsten durch die Concurrcnz dcS Wein- und BiertrinkenS zu rückgedrängt ward. Heutzutage rechnet man im ganzen Zollverein, ein schließlich der Bier- und Wein trinkenden Länder, 2*/z Pfund auf den Kopf. In Preußen hat sich der Kaffeeverbrauch seit 1806 von ^/z auf mindestens 4 Pfund gesteigert. Der d« S TheeS betrug im vorigen Jahr hundert kaum r/z Loth auf den Kopf; gegenwärtig beträgt er wenigstens V- Lolh. An Zucker verbrauchte man in Deutschland vor etwa 70 Jahren ungefähr 1Pfund per Kopf, d. h. den dritten Theil yeS gegenwärtigen Bedarfs. Auch die Bier- und Weinconsumtion hat sich bedeutend gesteigert und vom Tabak, dcn ein so großer Theil unserer Bevölkerung zu den Unentbehrlichkeiten deS Lebens rechnet, wird gegenwärtig mindestens dreimal soviel als früher verbraucht. Ueberaus groß ist die Steigerung des Verbrauchs derjenigen Bekl ei- dun göstoffe, deren Benutzung sich vorzugsweise auf alle Klassen der Bevölkerung erstreckt. So ist der Geldwerts den der Einzelne durchschnitt lich sür Leder (Schuhwerk u. s. w.) auSgicbt, binnen 5)0 Jahren von 12 auf 27 Neugroschen gestiegen, und während von baumwollenen Zeuchen zu Anfang dieses Jahrhunderts nur erst Elle auf den Kopf kam, hat sich