Volltext Seite (XML)
Brahms benötigte eine geraume Zeit, ehe er sich entschloß, für Joseph Joachim (die Bekanntschaft zwischen beiden hatte 1853 Remenyi vermittelt) ein Violinkonzert zu schreiben, für denselben Joseph Joachim, der, als später ihre Freundschaft nur noch eine Angelegenheit formellen Verkehrs wurde, äußerte, Brahms’ Musik wirke auf ihn wie eine Naturgewalt, der mit Brahms die Ablehnung der ,,Neudeutschen“ teilte, der gleich Brahms dem Nur-Virtuosentum abhold war und das in seinen Programmen (barocke und klassische Literatur) nachdrücklich unterstrich. Die Daten der Skizzierung des Werkes sind nicht bekannt, die erste Ausarbeitung nahm Brahms im Sommer des Jahres 1878 in Pörtschach am See (Kärnten) vor und sandte im August des gleichen Jahres die Solostimme des 1. Satzes an Joachim, dem er schrieb: ,Jetzt . . . weiß ich doch eigentlich nicht, was Du mit der bloßen Stimme sollst! Ich wollte Dich natürlich bitten, zu korrigieren, meinte, Du solltest nach keiner Seite eine Entschuldigung haben — weder Respekt vor der zu guten Musik noch die Ausrede, die Partitur lohne der Mühe nicht. Nun bin ich zufrieden, wenn Du ein Wort sagst und vielleicht einige hinschreibst: Schwer, unbequem, unmög lich usw.“ Joachim antwortete von Salzburg aus: ,,Es ist eine große echte Freude für mich, daß Du ein Violinkonzert . . . aufschreibst. Ich habe sofort durchgesehen, was Du schicktest, und Du findest hie und da eine Note und Bemerkung zur Ände rung — freilich ohne Partitur läßt sich nicht genießen. Herauszukriegen ist das Meiste, manches sogar recht originell violinmäßig — aber ob man’s mit Behagen alles im heißen Saal spielen wird, möchte ich nicht bejahen, bevor ich’s im Fluß mir vor geführt.“ Joachim spielte das Werk erstmals am 1. Januar 1879 im Leipziger Ge wandhaus unter Brahms’ Leitung, danach mehrfach in England. Die Aufnahme durch Publikum und Kritik zeichnete sich zunächst nicht gerade durch Bereitschaft zur Anerkennung aus. Böse Zungen behaupteten sogar, Brahms habe ein Konzert ,,gegen die Violine“ geschrieben. Das „Neuartige“ bestand aber in nichts weiter als der Absage gegen alles Nur-Virtuosenhafte in der Wirkung, wobei dem Solisten nach der Seite der technischen Schwierigkeiten (doppel- und mehrgriffiges, weit- spanniges Spiel, breiter Bogenstrich bei hohem Kraftaufwand) viel abverlangt wird. Die Technik ist in diesem Werk nicht Selbstzweck, sondern dienendes Glied im sinfonischen Ablauf, fordert also auch vom Hörer mehr als nur Erwartungen nach der Seite der Brillanz und des preziösen Zierwerks. Daß Brahms mit einer solchen Zielsetzung die Gattung des Violinkonzerts um ein gewichtiges Werk bereichert hat, beweist die Tatsache, daß es zum bleibenden Repertoirewerk der namhaftesten Interpreten geworden ist. Wenn je in einem Brahmsschen Werk Überkommenes mit Neuem, überpersönliche Gestaltungsprinzipien von Barock und Klassik mit allerpersönlichsten Gefühls gehalten zu einer höheren Einheit zusammenfloss en, so in der 4. Sinfonie e-Moll op. 98, die in Mürzzuschlag in den Jahren 1884 und 1885 niedergeschrieben wurde. Über dieses Werk schrieb Brahms an Hans von Bülow: „Ein paar Entr’actes liegen da — was man so zusammen gewöhnlich eine Symphonie nennt. Unterwegs auf den Konzertfahrten mit den Meiningern habe ich mir oft mit Vergnügen ausgemalt, wie ich sie bei Euch hübsch und behaglich probierte, und das tue ich auch heute noch — wobei ich nebenbei denke, ob sie weiteres Publikum kriegen wird. Ich fürchte nämlich, sie schmeckt nach dem hiesigen Klima — die Kirschen werden hier nicht süß, die würdest Du nicht essen.“ Die hier vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Publikumswirksamkeit der Sinfonie teilten die Freunde des Meisters. Eduard Hanslick fühlte sich nach dem ersten Anhören des Einleitungssatzes „von zwei schrecklich geistreichen Leuten durchgeprügelt“, und der seit 1880 dem engeren Wiener Brahmskreis zugehörende Biograph des Meisters, Max Kalbeck, riet zur Vernichtung des dritten Satzes und der Herausgabe des vierten als Variationenwerk für sich. Beide Sätze sollte nach seiner Meinung Brahms durch neu zu komponierende ersetzen. Nun: dieser beließ es bei der ersten Fassung, und der eindeutige Erfolg der Uraufführung durch das Meininger Orchester am 25. Oktober 1885 gab ihm recht. Verständlich, daß damals manch einem der Zugang zu diesem grandiosen Werk nicht eben leichtfiel: schon allein sein Reichtum an unterschiedlichsten Ausdrucksgehal ten, dazu die souveräne Handhabung alles Kompositorisch-Handwerklichen, fahl, beinahe ungreifbar anmutende Episoden neben solchen aus dem Herzen quellender Sanglichkeit, derb-humorig Zupackendes in der Nachbarschaft von Gedanken um die letzten Dinge des menschlichen Daseins — all das macht dieses mächtige Werk zu einem der bleibend gültigen in der gesamten sinfonischen Literatur. Und wenn im letzten Satze Brahms, der als erstes Variationenwerk für Orchester 1873 die Haydn-Variationen op. 56 schuf, in 31 Abwandlungen über ein lapidares 8taktiges Thema das äußerste an Ausdrucksgeladenheit, an Fülle der Gedanken aus dem Orchester sprechen läßt, so tritt er damit den bündigen Beweis an für das Goethe- wort: „Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“ Walter Bänsch LITERATURHINWEISE Kalbek, Johannes Brahms (Brahms-Gesellschaft 1912) VORANKÜNDIGUNG Sonnabend, 31. Dezember 1960, 19 Uhr (ausverkauft) Sonntag, 1. Januar 1961, 19.30 Uhr 4. Außerordentliches Konzert Dirigent: Siegfried Geißler Solist: Prof. Amadeus Webersinke, Leipzig 1 3. Außerordentliches Konzert 1960/61 6018 Ra III-9-5 1260 1,5 It-G 009/60/85