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Nummer 168 — 26. Jahrgang -mal wüch. Bezugspreis für IM 8.00 Mk. elnschl. Bestellgeld. Anzeigenpreise: Die laesp. Petitzelle «0H. Elellengesuche SO L. Die Petitreklamezeile, 89 Milli- Meter breit, 1 Offertengebiihren für Selbstabholer 89 bei Uebersendung durch die Post außerdem Portozuschlag. Einzel-Nr. 19 Sonntags-Nr. SO L. Peschästticher Trist Artur Lenz in Dresden, SöcklMe Sonnabend, den 23. Juli 1927 Im Fall« höherer Gewalt erlischt seöe Verpflichtung auf Lieferung sowie Erfüllung v. Anzelgenausträgen u. Leistung v Schadenersatz. Für undeutl. u. d. Fern- ruf Ubermitt. Anzeigen übernehmen wir keine Ver antwortung. Unverlangt eingesandte u. m. Rückporto nicht versehene Manuskripte werd. nicht aufbewahrt Sprechstunde der Redaktion 2—3 Uhr nachmittags Hauptschriftleiter: Dr. G. Desezyk. Dresden. volrsmmng GeschiiftSftell«, Drnitu.Berlag: «ermania. sürBcrlag und Druitcre,, giliale Dresden, Dresden-A. I. Polierttratze 17. ffer,n»,!iwI2. Bosischecklonto Dresden ?7oz. Baukkonlo: «tadtdank DreSd«» Nr. U17IS Für christliche Politik und Kultur Redaktion der EachfNchen BolkSzettun« DreSden-Attstadt 1. Polierstratze 17. Fernruf 20711 und Slvl2. Nach dem Aufruhr Wieder Alltagsleben in Wien — Rücktritt -es sozialdemokratischen Bürgermeisters Seitz? — Abberufung -es Sowjelbolschaflers 6. 7. Wien. 21. Juli. In Wien herrscht wieder alltägliches Leben; die Fremden, die vor den Wogen der Leidenschaft abflossen, sind durch Reuankömmlings erseht; lediglich die Ruinen des Justiz palastes und die ausgebrannten Räume der „Reichspost" er innern an die Schreckenstage; und die armen Opfer, die heute beerdigt werden — fast hundert blühende Menschenleben! — Sehr richtig stellt Heeresminister Baugain fest, daß die Dinge einen anderen Verlauf genommen hätten, wenn der zur Anforderung militärischer Assistenz in erster Linie berufene Bürgermeister und Landeshauptmann Wiens den um 10 Uhr vormittags erstmalig gestellten diesbezüglichen Antrag der Polizeidirektion nicht beiseite geschoben hätte, wenn das gleiche Schicksal nicht einem um 3 Uhr nachmittag gestellten, erweiter ten Antrag der Polizeidirektion zugestoßcn wäre, der die Kon- signierung der Nachbargarnisonen empfahl. Erst als diese bei den Assistenzansuchen beim Landeshauptmann von Wien ver geblich waren, gab Bundeskanzler Seipel selbst den Befehl, Militär zur Verwendung zu bringen. Wie richtig diese Anord nung des Bundeskanzlers über den Kopf des zuständigen Lan deshauptmanns hinweg war, zeigt sich darin, daß vom Mili tär kein einziger Schutz abgegeben zu werden brauchte — wo eine geschlossene Abteilung erschien, räumten die Aufrührer von selbst das Feld; überall genügt« das Aviso: „Laden!" Sieben Stunden früher — es Hütte kein Justizpalast gebrannt, dessen Ruinen nun als Schandmal Wiens den Fremden leergebrannt entgegenstarren; es hätte vielleicht einige, aber jedenfalls nicht an die hundert Todesopfer gegeben. So aber brannte ein Eebäudekomplex von der ungefähren Grütze des Berliner Schlosses ab, so mutzte die Polizei in kleinen Trupps und mit Einzelsalven sich der andauernden Angriffe todesmutig erwehren, weil sie nicht zahlreich genug war, um alle bedrohten Räume gleichzeitig zu decken, weil sie schließlich im ganzen Be reich der I)l-Millionen-Stadt auf dem Posten sein mutzte, was die in mehreren Vorortbezirken losbrechenden Zusammen rottungen und Plünderungen hinlänglich bewiesen. Der Haltung der Polizei, die fest in der Hanv ihres in ganz Oesterreich hochverehrten Präsidenten, Altbundeskanzler Johann Schober lag, und dem konsolidierten Geist der durch Kanzler Seipel eingesetzten Wehrmacht dankt Wien die Wiederherstellung der Rechtsordnung, dankt Oesterreich die Verhinderung des Bürgerkrieges. Denn die Folgen eines weiterandauernden oder gar triumphierenden Linksputsches wären unabsehbar gewesen, weil diesem Treiben die bäuerlichen Bundesländer nicht teil nahmslos zugesehen hätten. Aber auch Heercsminister Vaugoin kann sich des Ergeb nisses seiner sechsjährigen, stillen Erziehungsarbeit rühmen; wie viele Zweifel waren innerhalb und außerhalb Oesterreichs über die „Zuverlässigkeit" der kleinen Wehrmacht laut geworden! Die Soldaten haben die richtige Antwort erteilt; sie waren am Platz — zur Ueberraschung der Putschisten, die sich des Auf treten der Wehrmacht ganz, ganz anders vorstelltenl Die Wehr macht Neuösterreichs hat zwar — gottserdank — ihre Feuertaufe nicht im Kampf mit Mitbürgern erhalten; aber die Bescheini gung hat sie sich geholt, eine Ordnungszelle im Staat zu sein. Das war vor dieser Probe meist »»bezweifelt — und darin liegt der Erfolg der Ministertätigkeit Vaugolns. Dem Zusammenbruch des Aufruhrs in Wien folgte das real politisch sehr zweckmäßige Abblasen des Verkehrs st re i- kes. Elfteren dankt man — wie erwähnt— Kanzler Seipel und Präsidenten Schober. Letzteres Ereignis der konzessions losen Festigkeit Seipels und dem Zu greifen der Län der. Ohne miteinander oder mit Wien im sonstigen Kontakt zu sein, trafen Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Obcrösterreich, Kärn ten und Steiermark die gleichen Maßnahmen. Unter Heranzie hung von Militär und Aufbietung der Heimatwehrcn wurden die Bahnlinien besetzt, die Streikkommandanten zum Abzug gebracht und der Verkehr wieder eingeleitet; was Tirol und Torarlberg bereits Sonntag, den 17. Juli, getan, war von den übrigen teils Montag begonnen, teils für Dienstag einaeleitet. Wäre der Verkehrs streik nicht abgeblasen worden, so wäre er durch die Machtmittel der Länder reg ierungen erstickt worden: ohne daß in Tirol- Vorarlberg auch nur ein Widerstand versucht, ohne daß in Kärntnen auch nur eine wichtig« Postlinie versagt hatte. So wäre es — den inzwischen Lekanntgewvrdenen Vorbereitungen nach — auch in den anderen Alpenländern gegangen: das wohl vorbereitete Erscheinen des Militärs genügte —. so hätte es auch in Wien sein können, sein müssen, wenn nicht Bürgermeister Seit; Bedenken gehabt hätte, die zuallererst dem inneren Kon flikt innerhalb der Sozialdemokratie galten, wo s oz i a l r evo lutionär und sozialdemokratisch im Kamps lagen, wie die vergeblichen, persönlichen Jnterventionsversuche des Bür germeisters bewiesen, so daß selbst Fritz Adler aus Zürich her beigerufen wurde, um zur Mäßigung zu mahnen, weil er als Mörder des Grafen Stürgk viel gilt bei den Radikalsten. Diese Radikalen haben weder ihren Zielen, noch der Sozial demokratischen Partei, noch Oesterreich genützt. Bezüglich ihrer Ziele bleibt dies ihre Sache; und Oesterreich? das ist ihnen gleich. Aber wie die Partei darüber denkt, das hat der Grazer Sozialistenführer, Nationalrat Eisler, in di« Worte gekleidet: „Die Ereignisse waren wohl ein schwerer Schlag sür die Sozial demokratische Partei Oesterreichs, dessen Größe wir gar nicht leugnen wollen." Diese klarschenden Worte Dr. Eislers beleuchten die Lage. Niemand will in Oesterreich gegen die So zialdemokratie, gegen eine Parteimassc von 72 Mandaten regieren, aber auch diese Masse darf nicht die latente Kampfansage an die übrigen 0-1 Mandate richten, als Minderheit die Vorherrschast ihres Willens als alleiniges Dogma gelten lassen wollen, sie darf nicht mit dem Gedanken spielen, unter Umstünden auch auf gewaltsamem Weg die Herrschaft des Staates in die Hand zu bekommen. Nach die sen Ereignissen sollte man sich wenigstens zur Rückkehr, zur Wirk lichkeit, zur Demokratie entschließen. Oesterreich hat die Ordnung selbst und aus eigener Kraft wiederhergestellt: es bedurfte keiner — freierfundenen — Wie ner Diplomatenkonferenz, um in Wien den Aufruhr zu ersticken; es bedurfte keines — ebenfalls erfundenen — Schrittes Musso linis, um die Tiroler Brüder zwischen dem Reich und Italien freizumachcn. Bevor der Oesterreicher an seine eigene Kraft glaubt«, hat er sie erfolgreich betätigt — das ist die Lehre für das Ausland am traurigen Tag der Beerdigung der irregeleiteten Gefallenen. Die Polizeidirektion hat dem Stadtkommando zur Kennte nis gebracht, daß die Situation die weitere Gestellung von militärischer Unterstützung entbehrlich macht, » Innsbruck, 22. Juli. Die Vertrauensmänner der Tiro ler Bauernsck-aft haben in einer Versammlung anläßlich der Ereignisse in Wien auch die Verlegung der Bundes regierung in eine andere Stadt gefordert, um die Unab hängigkeit der Regierung zu sichern. Berlin, 22. Juli. Wie die „Nachtausgabe" aus Wien meldet, werde im Wiener Rathause von einem völligen Ne> venzusammenbruch des Wiener Bürgermeisters Seih gesprochen, der ihn auch verhindert habe, die Leichenrede bei der Bee rdigung der Opfer zu halten. Es verdichtet sich aber andererseits auch das Gerücht, wonach Seitz In ständig wachsen dem Gegensatz zur Parteileitung und vor dem Rücktritt stehe, der aus dem Umwege über einen Krankenurlaub erfolgen soll Warschau. 22. Juli. Wie aus Moskau gemeldet wird, ist im Zusammenhang mit dem Fiasko der Wiener Revolu tion der diplomatische Vertreter Sowjetrutzlands in Wien, Bersine, ab berufen worden. Es wird ihm von der russiscl)en Regierung vorgeworfen, daß er durch seine unge schickte Taktik zu dem Zusammenbruch der Revolution beige tragen habe, wodurch die russische Regierung vor ganz Europa kompromittiert worden sei. Volksbildung lu Sowjelruhland. Von Dr. W. v. Korostovetz. „Die Volksmassen können ihr Recht auf ein« allseitig« wirklich« Aufklärung nur in dem Falle erreichen, falls sie die ganze Staatsmacht in ihr« eigenen Hände nehmen" — das waren Lenins Lieblingsworte. In einigen Monaten werden seine Schüler und Anhänger das zehnjährige Jubi läum ihrer Macht, „der Macht der Arbeiter und Bauern" in Rußland feiern. Es ist interessant, zu untersuchen, wie groß di« Resultate der Sowjetregierung auf dem Gebiete der Volksbildung sind, und ob der Fort schritt im Vergleich zur „verfluchten Zeit des Zarentums^, dieser „Periode der Finsternis und Unwissenheit", wie die Bolschewiken immer sagen, wirklich so groß ist. Zu diesem Zwecke haben wir ein ziemlich ausführliches Material in dem vor kurzem veröffentlichten Berichte, den der Kom- missar für Volksaufklärung (Narkompros), Anatolij Wassiliewitsch L u n a t sch a r s ky, in Moskau vor einer Versammlung der Delegierten der Lehrer hielt, wie auch in den Reden der Delegierte» selbst bei der Besprechung dieses Berichts. Hier finden wir genaue Angaben über die Sum men, die für die Volksbildung verausgabt waren, und über die allgemeinen Resultate. „Es wäre sehr unrecht — sagte Lunatscharsky —, die Sowjet regierung der Vernachlässigung der Volksaufklärung zu beschuldigen. In dieser Sache steht es bei uns wohl schlecht, sogar sehr schlecht, trotz der riesigen Be mühungen der Negierung. Die Hauptschuld liegt an dem Geldmangel." Die Gesamtsumme der Ausgaben für Volksbildung ist im Jahre 1926 in Vergleich zu 1913 um 17 Prozent gestiegen, aber di« Zahl der Schüler ist auch von 7 Millionen auf 19, d. h. um 40 Prozent gestiegen. Die Ausgaben für einen Schüler waren in der Zarenzeit 74 Rubel jährlich, zur Zeit sind es 34 Rubel, das ist um 30 Prozent weniger. Falls wir noch die Entwertung des Geldes berücksichtigen, infolge deren ein Tscherwonetzrubel die Kaufkraft von nur 42 Kopeken der Vorkriegszeit hat, wie es das Konjunktur-Institut in Moskau ausrechnete, so wird der Unterschied noch viel ungünstiger. „Bedenkt noch dazu, Genossen", sagte Lunatscharsky, >aß die Zarenzeit bei weitem keine günstige Periode für die Volksaufklärung war," Es gibt noch eine ganze Reibe Momente, die die Sache weiter verschlimmern. So geven die Bolschewiken laut Lunatscharskys Aussagen 46 Millionen Rubel jährlich für die obdachlosen Kinder aus, 74 Millionen zur Unter stützung der Studenten der „Rabfaki" (Fakultäten für Ar beiter) und 75 Millionen für die politische Aufklärung (Poliaramota). Falls wir alle diese Ausgaben, die dem früheren Etat unbekannt waren, von der Gesamtsumme abzieyen, so be kommen wir nur 408 Millionen Rubel gegen 528 Millio nen Rubel der Zarenzeit. „Dieser Geldmangel", fährt Lunatscharsky fort, „verursacht unser ganzes Unheil. Die Zahl der Schulen ist ungenügend und erst im Jahre 1933, falls die Bautätigkeit sich dem Plane gemätz entwickelt, werden die Schulgebäude alle Schüler beherbergen können. Dazu braucht man aber die riesige Summe von 1400 Mil lionen Rubel, bis dahin bleiben ca. 40 Prozent der Schul jugend außerhalb der Schule, .besonders die Kinder der ärmsten Volksschichten'." Diese Erklärung Lunatscharskys klingt sonderbar für einen Minister eines proletarischen Staates. Die Lage des Lehrers wird von Lunatscharsky auch sehr traurig geschildert. „In unserem Arbeiterlande soll der Volkslehrer besonders bevorzugt werden. Seine wirtschaftliche und soziale Lage soll ganz anders als in der übrigen Welt sein," pflegt« Lenin zu sagen. Und wie sieht diese Lage in Wirklichkeit aus? — Der Durchschnittslohn eines Lehrers in der Stadt macht 46,30 Rubel (ca. 100 Mark) monatlich aus, und auf dem Lande sogar nur 37 Rubel, was nach Lunatscharskys Berechnungen nur 44 Prozent des Vorkriegslohnes ausmacht, und das wieder ohne die Geldentwertung zu beachten. Bei dieser Sachlage ist es klar, daß es sehr schwer ist, überhaupt Lehrer zu finden. Im Artikel der Zeitung „Trud" vom 27. Mai werden die Worte einer jungen Schülerin angeführt: „Ich werde nie Lehrerin werden. Meine Mutter, eine ein fache Weberin, bekommt mehr." Di« soziale Lage der Lehrer ist auch bei weitem nicht glänzend. Lunatscharsky beschwert sich, daß die Lehrer ständig von einem Ort zum anderen versetzt werden; sie werden von den Behörden mißachtet, ihre Klagen über ihre schwere Lage werden nicht berücksichtigt. Es ist kein Wunder, daß ein großer Mangel an Lehrkräften herrscht. Das Gouvernement Samara braucht 1200 Lehrer, doch sind nur 740 vorhanden, und davon nur 220 mir höherer Bildung. Wie Lunatscharsky selbst erklärt, haben 51 Prozent der Lehrer ihre Bildung nur in der Volksschule erhalten- Di« heutige Rümmer enthält d»e Beilage »Die Welt »er Krau". ' Di« Lage der Professoren und derLehr- kräfte in den Hochschulen und Universitäten ist ver- hältnismäßig auch nicht besser. Ihr Gehalt, wie Luna- tscharsky bestätigt, macht nur 26 oder sogar 20 Prozent des Vorkriegsgehaltes aus. Genoss« Posern, der Vertreter Petersburgs, berechnete auf Grund mehrerer statistischer Tabellen, daß der Durchschnittslohn eine» Professor» 75 Rubel monatlich, derjeniae der Assistenten «nd Privat- dozenten — 50 Rubel ausmacht. Oft müssen die Pro fessoren ihre Vorlesungen in fünf verschiedenen Schulen abhalten. Es herrscht auch großer Mangel an Professoren und nach ihrem Ausscheiden werden sie nicht erseht werden können. „Die Jugend, nachdem sie sich fünf bis sechs Jahre in der Hochschule alweschunden hat, will sich nicht mit 75 Rubel beanilaen. Es gibt keine Leiden in unterer Zeit.