Volltext Seite (XML)
Wie Hermann Müller regieren will. Mehrheiten werden genommen, wo sie z« siaden sind. - Auch kom munistische Silse zu Agitatlonsgesehe« erwünscht. — Trotzdem Appell an die Geduld -er sozialistischen Wühler. Negierungssorgen des „Vorwärts". sDrahtmeldung unserer N erlin er Schrift,lcitung.) Berlin. 29. J„ni. Der „Vorwärts" befaßt sich heute nochmals in längeren Darlegungen mit dem Aussehen und den Aussichten des neue» Kabinetts. Wiederum betont er, -aß Erfolg und Dauer der neuen Negierung nicht ohne weiteres als gesichert erscheinen könnten. Das liege aber nicht an einer Unzulänglichkeit der Personen. Die Schärfe der Klassengegen sätze bildeten für sie eine Gefahr. Diese Angabe des „Vor wärts" ist um so beachlenöwerter, als das neue Reglern,,gs- organ damit offen zngibt. daß, sobald das neue Kabinett seine sachliche» Arbeiten wird ausnchmcn wollen, sich leicht die gleichen Schwierigkeiten cinstelleii werden, an denen die Ver handlungen über das sachliche Programm scheiterten. Der „Vorwärts" scheint sich auch darüber klar zn sein, daß die Arbeit des neuen Kabinetts a» Pannen nicht arm sei» wird, denn er erklärt, daß ein weites Feld für parlamentarische Zwischenfälle. „die übrigens auch durch feste Abmachungen zwischen den Parteien nicht zn verhindern sind", vorhanden sei. Es sei darum auch nicht ohne weiteres ei» Schaden, wenn alle beteilig, tcn Parteien erklärte», daß sic i» ihrer Haltung gegenüber der neuen Regierung und ihren Vorlagen srei seien. Tie Lebensfähigkeit des Kabinetts hänge davon ab, daß die Zu sammenarbeit der Führer in einer Zusammenarbeit der Parteien ihre Ergänzung finde, wobei cs der „Vorwärts" ganz dahingestellt sein läßt, ob das eine oder das andere über haupt möglich sein wird. Besonders beachtenswert ist dann die Ansicht des „Vorwärts", die Regierung könne sich für ein zelne Vorlage» die Mehrheit nehmen, wo sic sie finde. DaS könnte unter Umständen ein Vorteil sein. Man wird diese Sätze wohl dahin zu deuten haben, daß die Sozialdemokraten gewillt sind. Vorlage», die als Konzession an die Masten ge dacht sind, wie hinsichtlich des Achtstundentages oder der Hcr- ansstetzung des steuerfreien Existcnzminimnms. eventuell mit Hilse der Kommunisten durchznbrinacn. wenn sich die Rolkspartei außerstande erklären sollte, solchen Gesetzen ihre Zustimmung zu geben. Dann hält es der „Vorwärts" aber auch für notwendig, den sicherlich sclir weit gespannten Erwartungen der sozial demokratische» Anhänger die Schwierigkeiten, die sich nun ein mal aus den Realitäten ergeben, zu zeigen. Er erklärt. auch die Sozialdemokraten lebten in einer kapitalistischen Welt. Deren innere Gesetze würde auch ein sozialdemokratischer Arbcitsminister kickt anfheben können. Das soll wohl heißen, daß auch der neue Arbeitsministcr die von den Sozialdemo kraten mit wilder -Helle bekämpfte TchlichtungSpolitik seines Vorgängers notgedrungen wird fortictzen müssen, wenn er nicht die ganze Wirtschaftsordnung über de» Hansen renne» will. ES ist in diesem Zusammenhänge sehr interessant, daß heute das Berliner ZentrnmSorgan, die „Germania", erklärt, das Zentrum sei sehr gespannt daraus, wie die Sozialdemo kratie ihr AgitationSbcdürsniS, das sic ohne Verantwortung gegenüber dem ArbeltSministcrinm bis zur Hetze gesteigert habe, mit der seht von Ihr übernommene» Verantwortung in Einklang bringen werde. Daß man sich auch bei den Sozial demokraten darüber klar zu sein scheint, daß unter Um- ständen die Anhäiigcrschnren einige Enttäuschung werden er leben müssen, geht a»S dem Appell des „Vorwärts" hervor, den Sozialdemokraten, die setzt im Kabinett seien, das Ver trauen zu bewahren. Das neue Kabinett Ein schlechtes Koroskop. Das „Berliner Tageblatt" schreibt, daß das neue Kabinett ein Kabinett der Großen Koalition ist. zwar nicht der Form, aber der Sache nach. Daß Wirth ihm nicht angehört, sei be dauerlich. Die abwartendc Stellung der Fraktionen sei in erster Linie als Druckmittel gedacht. Auch die „Bosstsche Zeitung" bezeichnet das Kabinett als eine Regierung der Großen Koalition. Im Herbst werde die Umbesetzung einiger Portefeuilles erfolgen müssen, aber das bedenke keineswegs, daß das Kabinett ein Provisorium ist, denn wenn der Reichs tag in die Ferien gegangen ist. wird für die Negierung die schwerste Arbeit beginnen. Dr. Wirth habe sein großes Ver trauen bei der demokratischen Mitte und der sozialdemokra tischen Linken verloren. Die „Germania" bemerkt, daß das Zentrum durch GuSrard einen Vertrauensmann ins Kabinett entsandt habe und daß cs abwartcn könne, wie die Dinge sich entwickeln. In dieser Zeit werde es sich in seinem eigene» Hanse sorgfältig umsehen „nd, wo cs nötig Ist, auch ausbesscrn oder gar neu aufbauen. Hermann Müller, so schreibt das Blatt weiter, sei keine überragende Führcrnatur. Der Kops der Negierung sei Sevcring. Hilferbing sei gls Fknanzminlster eine umstrittene Per- sönlichkctt. Die «Tägliche Rundschau" nennt bas Kabinett Hermann Müllers eine Notlösung. Man müsse sich dar auf verlassen, daß im Herbst nachgcholt wird, was diesmal ver- sänmt wurde. Es verstehe sich von selbst, daß die Regierung nur dann gesund werden kann, wenn in Preußen die be rechtigten Forderungen der D. V. P. erfüllt werden. Koch »nd Wissell seien nur provisorisch in das Kabinett eingctreten. In der Frage der Amnestie und der Erhebung des 11. A u - g u st zum Nationalfeiertag werde sich Herausstellen, daß das Fundament des Kabinetts zu wünschen übrig läßt. Die „D. A. Z." behauptet, ein Erfreuliches habe die Kabinettsbildung gehabt. Josef Wirth habe sich durch seine geschäftige Ungeschicklichkeit auch bei seinen Reichsbanner- freunden so unbeliebt gemacht, daß er hoffentlich bis auf weiteres auSgeschaltet bleibt. Das Blatt nennt die Ne gierung ein F e r i c n k a b i n e t t. Man müsse abwartcn. ob der „Zwangsvcrglcich" zur Sanierung oder zum Konkurse führt. Der „Lokalanzeiger" weist darauf hin, daß die ersten Schwierigkeiten die Formulierung der Regierungs erklärung bereiten werde. Die erste Krise werde bet der Er örterung der kommunistischen Anträge aus Streichung der Kosten für den Panzerkreuzer ^ ansbrcchen. Wenn bas Haus ungünstig besetzt ist. würde die offene Krise da sein. Ein Ver trauensvotum werde Müllers Kabinett nicht erhalten. Man werde sich mit der Ablehnung des kommunistischen Miß- traucnsantrages begnügen oder eine allgemein gehaltene ViNigkeitserklärung zusammenkompromisseln. — Die „Börsenzeitung" betont, die Krise sei nur vertagt. Wer glaube, eS würde im Herbst glatter gehen, habe seine Rechnung ohne den Wirth gemacht. Pünder bleibk. Berlin, 29. Juni Wie die „Börsenzcitnng" meldet, ist die Frage eines Wechsels im StaatSsckrctariat der Reichskanzlei vorläufig znrückgestellt. Zunächst bleibe. Staatssekretär Pündcrim Amt. von ferne gesehen. Die Pariser Presse unsicher. Paris, 29. Juni. Soweit die Presse zur Kabinettsbildung in Deutschland Stellung nimmt, drückt sie sich mit Zurückhal. tung aus. „Oeuvre" schreibt, daß sich im Lause der Ver handlungen manches Seltsame gezeigt habe, scdoch dürfe man das Wesentliche nicht vergessen, nämlich daß dieses von Stresemann gewollte Kabinett unter der Präsident schaft von Hermann Müller in der Lage sei, wenn es trotz seines sonderbaren Aussehens am Lebe» bleibe, die Polt- ttk von Locarno weiter zu verfolgen. — „Qu o t i- dien" hebt in seiner Betrachtung die schwache Verbindung mit dem Zentrum hervor und folgert daraus, daß die Lage dieses Kabinetts schwierig erscheine. — „P o p u l a i r e" fragt: Wirb die sozialistische Leitung der Regierung so sichergestellt sein, wie sie unsere Genossen wünschen? Wird die Zwischen, lüsung bis Oktober zur Bildung einer neuen Regierung führen, die Garantien mit Stabilität und der Kraft bietet? Der „Figaro" des Parsümfabrikantcn Coty schreibt, die Ernennung Hermann Müllers znm Kanzler verhindere nicht Aufrufe zum Haß. Aufreizung zur Bewaffnung »nd den ganzen Rcvancheseldzng, der i» Locarno nickt vorgesehen ge wesen sei. Die Sozialdemokratie bleibe im Dienst des deut schen Imperialismus. s!s - Der „GanloiS" schreibt, das Kabinett sei vielleicht nur ei» Nebergangsministerinm. Die deutschen politischen Kreise erwarteten von ihm nur eine günstige Lösung der Nhcinlandsrage, eine Gesamtliguidation der Kriegsschulden und eine enlschcidcndc Etappe ans dem Wege zur allgemeine» Abrüstung. Stimmen aus Wien. Wien, 29. Juni. Bisher nehmen nur einzelne Blätter zur Kabineltsbildung im Reiche Stellung. Dabei wird dar aus hingcwicsen, daß das Kabinett Müller nicht eine Negie rung der Große» Koalition ist. die aller Welt als die selbst verständliche Folge des Wahlergebnisses erscheint. Es ist die tragische Folge der Spaltung der deutschen Arbeiter klasse, so sagt die „Arbeiterzeitung", daß sie die in- üustrtereiche Republik nicht allein zu regieren vermag. Das Blatt betont, die deutsche Sozialdemokratie habe die be deutendsten Männer tu diese Regierung entsandt, aber so stark und bedeutend auch die Partei In der neuen Regierung vertreten Ist, so groß und schwer werde» die Hindernisse sein, mit denen öle Partei in dieser Regierung zu ringen haben wird. Die „Neue Freie Presse" bringt In ihrem Leit artikel eine Skizzlernng der Persönlichkeit Hermann Müllers und schließt: Wenn Hermann Müller die guten Helfer be wahren wird, die er heute besitzt, wen» es ihm gelingen wird. das Ministerium im Herbst zu einem endgültigen zu ge stalten. dann wird er vielleicht dereinst von neuem einen Friedcnsvertrag unterzeichnen, des wahren und wirklichen Friedens. Das wünschen wir dem Manne der Mäßigung und der Wahrhaftigkeit, dem Sozialisten der Vernunft an diesem Tage. Äindenbu.gs Dank an die scheidenden Minister. Berlin, 29. Juni. Reichspräsident von Hindenburg hat dem Reichskanzler Dr Marx und den gleichfalls aus dem Amte scheidenden Rcichsministern in herzlichen Schreiben seinen Dank für ihre Dienste ausgesprochen. In dem Schreiben an Dr. Marx heißt es: «Stets und in allen Stellen, die Sie inne hatten, als Richter, als Abgeordneter, als Reichsmtnister und als Reichskanzler verschiedener Kabinette, haben Sie sich bei Ihrer Amtsführung nur leiten lassen von dem einen Ge Ein kleiner Kindenburg isk -a. Berlin. 29. Juni. Dem Major v. Hindenbnrg wurde heute nacht ein Sohn geboren. Der Kleine ist der erste Enkel des Reichspräsidenten, der den Namen Hindenburg trägt. sichtspunkt der Arbeit am Wohls des ganzen Volkes. Was Sie Insbesondere als verantwortlicher Letter der deutschen Politik in schweren Zeiten voll ernster wirt schaftlicher und politischer Krisen für Deutschlands Wohl und Wiederaufstieg in unermüdlicher, pflichtgctreuer Arbeit ge leistet haben, wird Ihnen stets unvergessen bleiben." An den Vizekanzler und Rcichssnstizminister Hergt schrieb der Reichspräsident u. a.: „Mit Umsicht und Tatkraft haben Sie stets Ihr verantwortungsvolles Amt als Chef -er Rcichsinstizvcrwaltung und Vertreter des Reichskanzlers ge führt und dabei Ihre reichen, in früherer bewährter Minister tätigkeit und langjähriger parlamentarischer Arbeit erworbe nen Erfahrungen zum Wohle des Reiches nutzbar gemacht." Der ErnährungSministcr Schiele erhielt ein Schreiben, in dem gesagt wird: „In einer Zeit schwerer wirtschaftlicher Krisen der Landwirtschaft haben Sie Ihr Ministerium mit tatkräftiger Hand geführt und es ver standen. die Notlage der deutschen Landwirtschaft im Rahmen des Möglichen zu erleichtern und Wege zn ihrer hoffentlich dauernden Besserung zu finden. Das foll Ihnen unvergessen bleiben." — In dem Schreiben an den Reichöarbcitsminister Dr. BrannS heißt es: „Gerade vor acht Jahren haben Sie das verant wortungsvolle Ministerium übernommen und es seither durch einen Zeitabschnitt schwerer wirtschaftlicher und sozialer Er schütterungen hindnrchgeführt. Daß es trotz aller Krisen ge lungen ist. den wirtschaftlichen Frieden zu erhalten und zu festigen, daß cs möglich gemacht wurde, die Lage der arbeiten den Klassen, der Sozialrentner und der Kriegsbeschädigten zu besser», ist in erster Linie Ihr Werk. Dafür Ihnen namens des Reiches und im eigenen Namen zu danken, ist mir tn dieser Stunde aufrichtiges Bedürfnis. Meine besten Wünsche für Ihr persönliches Wohlergehen begleiten Sie in den Ruhestand, der wie ich hoffe, kein dauernder sein wird." Ebenso hat der Herr Reichspräsident auch den scheidenden Reichsministern Dr. h. c. K o ch. Dr. Köhler und Dr. von Ke »bell in persönlichen Schreiben seinen herzlichen Dank für die geleisteten Dienste ausgesprochen. Der Wechsel -er Aeichsreglerung. Berlin, 29. Juni. Am Vormittag deS 29. Juni übernahm Reichskanzler Müller-Franken die Dicnstgcschäfte im Reichskanzlerhause, wv ihn der Staatssekretär in der Reichs kanzlei, Dr. P ü »der, begrüßte und ihm die Beamten, An gestellten und HauSarbciter der Reichskanzlei vorstellte. — Um 11 Uhr vormittags fand sodann im Reickskan-rerhause die erste Sitzung des neuen Reichskabinctts statt. Nach der Vereidigung der neu hinzutrctenden Mitalieder des RcichSkabinetts durch den Reichskanzler trat das Kabinett in die erste Beratung der Regierungserklärung ein. An den abwesenden Reichsministcr Dr. Stresemann wurde seitens der Reichskanzlei mit Zustimmung des Reichskabinctts ein BegrüßungStelegramm gerichtet. Sieben Todesurteile im Schachly-Prozeß beankragk. Moskau, 29. Juni. Staatsanwalt Krnlenko zielte tn seinem Plädoner im Sckachtu-Prozcß auf starke rednerische Wirkungen ab. Tein groß angelegtes politisches Vorwort sollte eine Demonstration sür den Ausbau des Sowjetstaates und der Sowjetwirtschaft sein. Er stellte sodann fest, daß der Prozeß bewiesen habe, daß vom Donez-Gebiet a»S gegen, revolutionäre Fäden nach Paris, Warschau und Berlin gegangen seien. Wie die geheimen Prozeß- sitzungen es ergeben hätten, hätten dabei auch einige Ange hörige deutscher Firmen ihre Hand im Spiele ge habt. Bon den Firmen selbst sprach Krylcnko nicht, was eine gewisse Abschwächnng bedeutet. Krylcnko mußte selbst zugcbcn, daß nur Geständnisse «nd Bezichtigungen, aber keine Dokumente gegen die Angeklagten vorhanden seien. Trotzdem beantragte er gegen 81 Angeklagte folgende schwere Strafen: Gegen sieben russische Staatsange hörige die Todesstrafe und gegen 19 weitere Angeklagte mehr oder weniger harte G c s 8 n g n i s st r a s c n oder Straf arbeit. Bei zwei Angeklagten wurde die Todesstrafe noch ossen gelassen und sür zwei andere die BemährnngSsrtft be fürwortet.