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ächönlmrger TaoMM «nd Waldenburger Anzeiger Amtsblatt für den Stadtrath zu Waldenburg. Sonntag, den 1. October 1882 22» Erscheint täglich mit Ausnahme der Tage nach Sonn- und Festtagen. Beiträge sind erwünscht und werden eventuell honorirt. Annahme von Inseraten für die nächster scheinende Nummer bis Mittags 12 Uhr des vorhergehenden Tages. Der Abonnementspreis beträgt vierteljähr lich 1 Mk. 50 Pf. Alle Postanstalten, die Expedition und die Colporteure dieses Blattes nehmen Be stellungen an. Einzelne Nummern 8 Pf. Inserate pro Zeile 10 Pf., unter Eingesandt 20 Pf. Da« aus da« dritte Vierteljahr 188S fällige Schulgeld ist spätestens bis zum 1«. künftigen Monats an hiesiger Rathsexpeditonsstelle zu bezahlen. Schulkassenverwaltung Waldenburg, den 30. September 1882. "Waldenburg, 30. September 1882. Politische Rundschau. Deutsches Reich. Der Kaiser ist am 29. September früh 8 Uhr mittelst Extrazugs wohlbehalten in Baden-Baden angekommen und von dem Erbgroßherzog, dem Stadtdirector v. Göler und dem Oberbürgermeister Gönner am Bahnhofe empfangen worden. Alsbald nach der Ankunft auf dem Bahnhofe erstattete der Leibarzt Dr. Schliep Bericht über das Befinden Ihrer Mas. der Kaiserin. Die Stadt ist mit Fahnen geschmückt. lieber das Befinden des Fürsten Bismarck bringt man wieder günstigere Berichte in Umlauf. Die neuralgischen Schmerzen sollen zwar noch nicht voll ständig geschwunden, aber stark in der Abnahme begriffen sein. Trotzdem halte sich der Reichskanzler noch immer von den Geschäften der inneren Politik I nahezu ganz fern und es dürfte in dieser Hinsicht ! wohl schwerlich allzu bald eine Wandlung eintreten. Denn die auswärtige Politik, in welcher augenblick lich äußerlich eine gewisse Ruhe eingetrelen ist, wird voraussichtlich bald wieder die volle Arbeitskraft des Reichskanzlers in Anspruch nehmen. Gegen die für halb offiziös gehaltene „Nordd. Allg. Ztg.", welche — wie wir gestern mitgetheilt haben — den Conservativen wegen ihrer „Selbst- ständigkeitsgelüste den Text gelesen" hat, wendet sich der conservative „Reichsbote" in längerer Ausfüh rung. Er sagt u. A.: „Glauben die Schreiber der Artikel der N. A. Ztg. wirklich, sie stärkten die Autorität der königlichen Regierung, wenn sie alle selbstständige Gesinnung und gewissenhafte Ueber- zeugungstreue ertödteten und die Regierung mit einer gesinnungslosen Schaar von Jasagern umgeben, welche keine eigne Meinung haben, oder nicht den sittlichen Muth, sie da, wo es ihre Pflicht ist, zum Ausdruck zu bringen? Jetzt im Zeitalter des allge meinen Wahlrechts ruht die Macht der Monarchie nicht in engen gouvernementalen Freundeskreisen, sondern in dem Volke und deshalb ist es für die monarchisch gesinnte conservative Partei, gerade weil sie eine wirklich feste Stütze für die Monarchie sein und bleiben will, dringend nöthig, daß sie im Volke große Kreise für sich zu gewinnen sucht. Das ist aber nur möglich, wenn sie sich dem Volke als eine wirklich selbstständige, freie und unabhängige Partei darstellt, welche ebenso sehr den Muth hat, falsche Ansichten der Regierung als falsche Ansichten in Volkskreisen zu bekämpfen und überall, nach oben wie nach unten, das wahre Wohl des Volkes und Staates zur Geltung zu bringen." Von anderer Seite wird zu dem Vorgehen der „Norddeutschen" bemerkt: Immer von Neuem müssen die Conserva tiven es jetzt anhören, daß sie eine selbstständige Bedeutung ohne oder gar gegen die Regierung nicht besäßen, daß sie das Vertrauen zu dem Reichskanzler soweit treiben müßten, unbesehen allen seinen gegen wärtigen und künftigen Plänen zuzustimmen. Jede auch noch so schüchterne Selbstständigkeitsregung, jede Berufung auf die eigene Ueberzeugung sei bei ihnen Verrath und Meuterei. Das ist entschieden nichts als eine tendenziöse Uebertreibung zu Wahl zwecken. Einen solchen Verzicht auf jedes selbst ständige geistige Leben wird einer großen Partei, die eine alte Tradition und Geschichte hat, Niemand im Ernst ansinnen. Wenn daher jetzt die „Nordd. Allg. Ztg." Artikel gegen die Conservativen bringt, die einen höheren Ursprung als aus dem Redactions bureau der Zeitung nicht verleugnen können, so kann sich der Reichskanzler damit nur selbst schaden. Die Geschichte des letzten Jahrzehnts hat gelehrt, daß die conservative Partei in Preußen, sobald sie von der Regierung in Acht erklärt wird, eine starke Schwä chung erleidet. Wenn aber schon die schüchternen Versuche einzelner konservativer Politiker und Preß organe, eine eigene Ueberzeugung und einen eigenen Willen zu haben, so herbe Abfertigungen auf sich ziehen, so muß man sich fragen, wie der Reichs kanzler jemals eine parlamentarische Majorität zu gewinnen hoffen kann, die sich zu einer so bedingungs- und vorbehaltslosen Regierungsstütze hergeben mag, wie es beansprucht wird. Mit solchen Anforderun gen gewinnt man wohl ein Häuflein von Anhängern „saus xstrasö," aber niemals die Mehrheit einer Volksvertretung. Das Uebermaß dieser Anforderun gen eben war schuld, daß sich eine feste mit der Regierung zusammenwirkende Majorität bisher nicht bilden konnte oder, wenn sie einmal bestanden hat, keine Dauer hatte, und mit der immer wachsenden Zumuthung einer bedingungslosen Hingebung seitens des leitenden Staatsmannes kommen wir von die sem Ideal eines Verhältnisses zwischen Regierung und Parlament immer weiter ab. Minister von Bötticher hat sich nach Varzin be geben, um über die Einberufung des Reichs tags mit dem Reichskanzler zu conferiren. Minister v. Puttkamer ist entweder schon dort oder geht doch dieser Tage dahin. Die Wahlen zum preußischen Abgeordneten - Hause finden amtlicher Bekanntmachung zufolge am 26., die Wahl der Wahlmänner am 19. October statt. Oesterreich. Auch in Wien macht die Antisemitenpartei Fortschritte. Mehrere Mitglieder derselben fertigten Siegelmarken mit der Inschrift: „Kauft nur bei Christen" und bedienten sich derselben. Der Staats anwalt gab sich die unnöthige Mühe, die Herren wegen „Aufreizung gegen eine Religionsgesellschaft" zur Rechenschaft ziehen zu wollen, das Gericht sprach sie jedoch sämmtlich frei. Ungarn. Das „Berl. Tgbl." läßt sich von seinem Wiener Correspondenten in der Tisza-Eßlarer Mord- Affaire folgendes auftischen: „Es fleht jetzt außer Zweifel, daß gegen diejenigen Personen, die beschul digt waren, bei dem Verschwinden der Esther Soly- mossiy oder bei dem späteren Leichenschmuggel irgend wie betheiligt zu sein, die Tortur angewendet wurde. Stockprügel und Peitschenhiebe waren noch die harm losesten Hilfsmittel der „Richter"; diese gebrauchten auch die „Wasserprobe", d. h. sie zwangen die „Delinquenten" schaffweise Wasser zu trinken und sie ließen ihnen, nachdem die Gemarterten nicht mehr trinken konnten, Wasser durch Trichter ein- gießen, bis jene „Geständnisse" gemacht wurden, die man brauchte. Dann wieder kam das „Brennen", die „Feuerprobe" zur Anwendung. Ein Mann wurde gefesselt und der „Richter" hielt ihm die brennende Cigarre an die Nasenspitze, bis er ous- sagte, was man hören wollte. Wieder ein Anderer wurde bei den Füßen aufgehängt und in dieser Stellung gelassen, bis er erklärte, „gestehen" zu wollen, was man ihm imputirte. Ja selbst Zeugen wurden gemartert, bis sie das aussagten, was von ihnen verlangt wurde, und die Gleichberechtigung der Confessionen kam insofern zum Ausdruck, als Juden und Christen die gleiche Behandlung erfuhren, die gleichen Prügel kriegten und in gleicher Weise der Tortur unterzogen wurden. Für deutsche Leser ist es vielleicht nothwendig, zu betonen, daß das hier Erzählte amtlich constatirt wurde und daß jetzt gegen die Schuldigen eine Untersuchung im Zuge ist." Der Justiz-Wachmann Karancsay, der diese haarsträubenden, märchenhaften Geschichten dem dieselben gierig zu Protokoll nehmenden Staats anwalt zu erzählen wußte, hat seine Aussage am 25. d. als vollkommen erlogen, von Ge wissensbissen gepeinigt, freiwillig wieder zurückge nommen! Gleichzeitig erklärte er, daß er die falschen Aussagen aus Furcht vor dem neuen Staats-Anwalt auf Geheiß höherer Personen (zweifelsohne auf Anrathen und durch Bestechung seilens des biederen Judenvertheidigers I)r. Eötvös) gemacht habe, um den Untersuchungs-Richter und den Sicherheits- Commissar zu compromittiren und dieselben, aus ihrem Amte zu beseitigen! Ob das „Berl. Tgbl." von dieser Zurücknahme Notiz nehmen wird? In Preßburg haben am 28. September in den von den Juden bewohnten Gaffen Excesse statt gefunden. Militärpatrouillen mußten einschreiten, wobei 40 Personen verhaftet wurden. Das Militär ist in den Kasernen consignirt. Schweiz. Ein Wirthschaftsgesetz, mit dessen Entwurf sich der große Rath zu Basel zu befassen hat, steuert darauf hin, die Zahl der Wirthschasten aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, der Sanitäts-, der Lebensmittelpolizei zu vermindern. Man hofft, die 432 Wirthschasten Basels auf etwa zwei Dritttheile zu reouciren, indem man folgende Gesetzparagraphen allmählich ins Leben führt: Den kleinen Winkel kneipen tritt die Baupolizei mit der Verordnung entgegen, daß alle Wirthschaftsräume anständig, hell, reinlich und gut ventilirbar sein sollen. Die haupt sächlichste Localität soll einen Minimalgehalt von 100 Kubikmetern bei einer Höhe von mindestens 3'/s Metern haben. Die Patente sind nach Klaffen eingetheilt, Minimum 400, Maximum 2000 FrcS. Junge Leute unter 18 Jahren dürfen nicht über 9 Uhr abends zur Bedienung verwendet werden. Bleibt eine Wirthschaft länger als 12 Uhr nachts geöffnet, so soll ein Wechsel der Bedienung statt finden. Die in den Wirthschasten Angestellten haben alle 14 Tage einen Anspruch auf einen freien Nachmittag; sie dürfen an diesem Tage von mittags 12 Uhr an bis zum nächsten Morgen zu keinerlei Dienstleistung angehalten werden. Die Wirths dürfen keine ganz oder theilweise durch künstliche Zusammensetzung hergestellten Weine unter der landesüblichen Benennung von unverfälschtem Wein zum Verkaufe bieten. Frankreich. Die Anzeichen mehren sich, daß Frankreich vor einer inneren Krisis steht und daß die Tage des Ministeriums Duclerc gezählt sind. Es soll sich bei genauer Abwägung aller Verhältnisse herausge stellt haben, daß das gegenwärtige Cabinet in der Deputirtenkammer, zu deren Auflösung der Präsi dent der Republik, Grevy weniger denn je schreiten wird, in keinem Falle auf eine Majorität zu rech nen hat und kurze Zeit nach dem Wiederbeginn der parlamentarischen Arbeiten zum Rücktritte gezwun gen sein wird. Für diese Eventualität soll der Kammerpräsident Brisson mit der Neubildung des Cabinets beauftragt werden, Freycinet würde wieder das Portefeuille des Auswärtigen erhalten und der „regierungsfähigen" Gruppe Clemenceau sollen in