Volltext Seite (XML)
Freitag Nr. 84. 23. Junius 1843. Leimig. Di-S'iiung erscheint täglich Abends. Zu beziehen durch alle Postämter deS Jn- und Auslandes. —, , Preis für das Viertel- Deutsche Allgemeine Zeitung. MM» -Wahrheit und Recht, Freiheit und Gesetz!» Ueberblick. Deutschland. **Aus Mitteldeutschland. Die Meinungsspaltungen. *Äus der dairischen Mals. Der König will den Dom von Speyer rcstauriren. Die die Pfalz betreffenden Gesetzentwürfe. * Dresden. Berathung des Deputationsberichts über die ständischen Anträge und die königl. Entschließungen darauf. Geldbewilligungen, ch Leipzig. Feuer. Osnabrück. Die Nachforschungen in Betreff des Mordver suchs. * Schwerin. Der Convocationstagsabschied. Preußen. Die Verhandlungen des rheinischen Landtags über die Com- munalordnung. Kefterreich. * Presburg. Verhandlungen in den Kirchensachen. Spanien. * Frankfurt a. M. Handelsbriefc stellen die Unruhen als gegen das Eigcnthum gerichtet dar. * Paris. Die Unruhen in Cata-, lonien greifen um sich, aber auch die Gegenmacht rückt heran. Großbritannien. Unterhaus: Bewilligung für die Prinzessin von Cambridge. — Die Sandwichinseln. Das Morning Chronicle über Spanien. Frankreich. Dcputirtenkammer: Budget. - Paris. Der Bericht über den die Staatsminister betreffenden Gesetzentwurf. Hr. de Lamartine. *Lyon. Beschwerden des nicdern Klerus, s'Paris. Der Mufti von . Algier. Die Franzosen als Eroberer. Italien. Neapel gibt die Kanonen der Engelsburg zurück. * Pa lermo. Der Duca Serra di Falco. Die brasilische Flotte. Die Pro fessoren Pacini und Parlatore. Der Duca de Majo. Serbien, -f von brr serbischen Grense. Bewegungen der zeitheri- gen Regierungspartei. Handel und Industrie. Berlin. Ankündigungen. Deutschland. **A»S Mitteldeutschland, 18. Jun. Kritische Betrachtun gen über Gebrechen gesellschaftlicher Zustände sollen sich stets zur Richt schnur nehmen: die Gründe nicht bei den Personen, sondern in den Sachen aufzusuchcn. Die politische Streitkunst, wie sie vor zugsweise als Polemik in den Ereignissen des Tages auftritt, bedarf unter Anderm auch dieser gerechten Beurthcilungsweise. Denn wer dieses laut belebte Gefild durchwandert, den muß die Zerrissenheit der Ansichten und Gesinnungen, der rastlose Hader gegenseitiger Eorrectu- ren, Anklagen, Zurechtweisungen, oft fast gesuchter Mißverständnisse — auch die verschiedenartige, theils kühle, theils partciwarme, oft zwei deutige Theilnahme des Publicums zu dem Glauben veranlassen, daß hier unter der Oberfläche des bürgerlichen Lebens verborgene Trieb federn einer geistigen Anarchie wirksam sind. Dies wäre Aberglaube; denn näher betrachtet, reduciren sich diese Risse in der „allgemeinen Meinung" auf, wiewol lebendige, jedoch nur mehr in der literarischen oder rhetorischen Sphäre so bedenklich sich kreuzende, im gemeinen Le ben jedoch friedlich neben einander wirkende Thätigkeitcn. Was hier wohlthätige Parallele ist, erscheint, durch den vielkantigen Strahlen brecher publicistischer Anschauungsweisen hindurchgegangen und in rhe torischen Schwung und dialektischen Eifer gesteigert, dort als bedroh liche Divergenz. Wer nun die Formeln zur Berechnung dieser Flexion nicht kennt, mag wol jeweilcn den zitternden Zwist des vielfältigen Farbenspielö gegen einander ankämpfender Meinungen mit Schrecken und Besorgniß beobachten; der Eingeweihte gewahrt mit Ruhe und lebhafter, zwar ernster, aber ungestörter Theilnahme das ganz Natur gemäße dieses interessanten Schauspiels. Das Prisma, welches die Zustände deS politischen oder sittlichen Lebens, seine Ergebnisse, Bedürf nisse, seinen Streit und seinen Frieden in der Sphäre der Tagespole mik, gebeugt oder gebrochen, vor das Auge deö Beobachters bringt, dieses Prisma —die Physik verstatte diesen Ausdruck—hat viele Sei ten, welche billiger Berücksichtigung bedürfen. Eine der breitesten die ser und eine zumeist übersehene Seite ist das Misverhältniß, in wel ches, durch den übermäßigen Zuwachs literarischer Gegenstände, For schen, Schreiben und Lesen zu einander verseht worden sind. Dies ist der Erbfeind der Gründlichkeit. Die stichhaltige Begründung der ge- gentheiligen Ansichten aber ist, was wir Alle zunächst verlangen. Hier aus entstehen fast unbesiegbare Schwierigkeiten. Bei zwiespältigen An sichten liegt die Wahrheit gewöhnlich mehr oder weniger inmitten, und das dem Parteinehmcn das Wort redende, oft angeführte Solon'sche Gesetz: „Bei zwiespältigen Ansichten bleibe nicht parteilos!" ist ohne Zweifel für uns nur so zu verstehen, daß, wo cs darauf ankommt, die Wahrheit zu finden, cs besser sei, irgend eine als gar keine Mei nung zu haben. Wie aber wird Meinung gewonnen? Hauptsächlich durch eigne Erfahrung und nach Maßgabe derselben, durch Aneignung der Erfahrungen Anderer. Der Quell eigner Erfahrungen fließt nur Wenigen reichlich, Keinem so genügend, um auch nur in allen Haupt sachen eine Meinung zu bilden, die sich Halbwegs hören licße. Jeder, mehr oder weniger aber doch immer zum größern Theil, bedarf da her der Erfahrungen Anderer, wie sie vorzüglich die literarischen Mit- theilungcn, Aufzeichnungen darbieten. Mit der unermeßlichen Man- nichfaltigkcit der Lebensformen sind aber die Quellen der nothwendig- stcn Erfahrungen zahllos geworden, besonders die, welche sich durch schriftliche Ueberlieferung aufschließen. Hierzu tritt der Umstand, daß nur in den Metropolen des geistigen Verkehrs die Massen literarischer Erzeugnisse, wie man gegenwärtig mit ihnen in steter Berührung sein muß, um auch nur Ein Fach, selbst nur eine Disciplin anzubaucn, so zur Hand sind, um jedesmal an jede Seite jener Erfahrungen herankom- mcn zu können. Aber dazu reicht wieder das Tagewerk des Einzelnen nicht aus! Nur wenige bevorzugte Naturen überwinden das Dilemma, indem sie mit sicher treffendem Urtheil das Nichtcrfahrcnc als selbständiges Gcbild der Seele zu construiren vermögen. Die gewöhnlichen, auch oft die be fähigtsten Geister kommen jeder nur zum Anblick einzelner Seiten der Erfahrungen, welche ihr Fach, ihr Amt, ihr Interesse vorzugsweise in Anspruch nehmen, oder auch nur zum Anblicke gewisser Abschnitte die ser Seiten, und hier spielt noch nicht selten arge Selbsttäuschung mit. Was der Eine gewahrt, bleibt dem Andern verborgen, und fast Jeder be zieht von dem unübersehbaren Zufluß und Vorralhe der Literatur wie der Weltkenntniß nur seine besonder» Notizen, Axiome, Grundgedan ken, seine besonder» Argumente und Schlagwörter,-welche dem An dern, als mit der Errungenschaft seiner Seele nicht zusammenhängend, mit seinen Erfahrungen nicht übereinstimmend, auch wol seinen Wün schen und Stimmungen nicht zusagend, fremd, leer, unverständlich, jedenfalls nicht plausibel erscheinen. So wird auch daS Gebiet der Jdeenverbreitung in eine Menge kleiner Meinungskreise zcrstückt, wo jede sogenannte Partei — denn zu wahren Parteien ist es in der That in Deutschland noch nicht gekommen — ihr Panier aufpflanzt, ihre cigenthümliche Sprache redet, und die Stimmführer ihre Parole als die Losung der Zeit ausrufcn. Noch mehr! Dieser Masse von Schrei berei und schriftlicher Ueberlieferung gegenüber befindet sich das lesende Publicum in ähnlicher Lage, welches, damit auf seine Mußestunde» angewiesen, an den Mississippi der Literatur tritt, wo cs eben angcht, schöpft, was eben vorbeitreibt, was ihm als das Zusagendste oder Wis- senSwerlheste erscheint, ohne das Alles zu gewahren, was ferner und ferne sonst noch vorwegschifft, ohne sich auf Erwägungen einlasscn zu können, ob und welche Bestandtheile von Gründlichkeit, Wahrheit in dem Gelesenen enthalten seien? Die große Mehrzahl — und dies liegt in der Natur der Sache— wendet sich daher, ohne sich erst lange zu bedenken, der einen oder andern Ansicht zu, welche ihrer Bildung, ihren vorgefaßten Meinungen, ihrer Erkenntniß oder ihren Vorurthci- Icn entspricht, ihren Interessen, ihrem Ehrgeize schmeichelt; auch der, welche überzeugt. So entstehen, wie dort Meinungskreise, hier auS Lesekreisen gewisse Cirkcl von Welt- und LcbenSansichten, innerhalb welcher der Gcdankenzug und -Flug um systematische Kennzeichen der Schule, dialektische Kunstgriffe, um Stichwörter, Axiome, Gcmein- sprüche sich bewegt und die tägliche Kost, von so vielen Köchen in so vielen Küchen bereitet, in Fleisch und Blut der „allgemeinen Mei nung" übergeht, aus der sie zum Theil wieder in das breite Beckcrr der Tagesliteratur überströmt, um hier, durch verschiedene Schleuse» aufgestaut oder durchgelassen, endlich abermals, ruhig oder rauschend, durch tausend Kanäle zu dem gemeinen Leben zurückzukchrcn. AuS die sem Einen hier erwähnten Umstand allein schon kann der Unbefangene abnchmcn, wie so bei unserer in die endlose Breite vorgeschrittenen Bil dung eine vielseitige Einseitigkeit sich entwickeln mußte, welche gegen wärtig auch bedächtiger» Leistungen, geschweige denn der polemische»