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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration«-Preil 22^ Silbergr. (r Tdlr.) vierteljährlich, Z Tblr. für da« ganze Jahr, vhneErhökung, in ollen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pranumerirt aus diese« Literatur- Blatt in Berlin in der Erxedition der Ma. Pr. Staat«.Zeitung <Friedrichs- Straße Nr. 72); in der Provinz so wie im Auöiandc bei den Wohllöbl. Poft - Aemtern. Literatur des Auslandes. 2. Berlin, Mittwoch den 4. Januar 1843. Schweiz. Simonde de Sismondi, als Geschichtsschreiber. Genf, aus dessen Schoße so viele in der Französischen Literatur und Politik berühmte Männer und Frauen, die daselbst theils geboren, theils er zogen wurden, hervorgingcn, — wir wollen hier nur flüchtig I. I. Rousseau, Necker, Frau v. Stadl, Mad. Necker de Sauffure, Benjamin Constant, Guizot und zuletzt den am 2S. Juni v. I. verstorbenen Sismondi °) nennen, — Genf hat zu jeder Zeit vermöge seiner Lage und der Intensität seines poli tischen und religiösen Lebens eine bedeutende Rolle gespielt und alle Zweige der Industrie, des Handels, der Wissenschaften, der Literatur und schönen Künste mit Erfolg ausgebeutet. Als Gränzstadt zwischen mehreren Staaten hat es immer auf seiner Hut sepn müssen; es hat gegen seine Nachbarn seine Freiheit vertheidigt und durch seine Weisheit, die ein besserer Schutz ist als seine besoldete Garde, sich die Achtung der Welt zu verschaffen gewußt. Aber Genf hat sich nicht immer bloß auf die Defensive beschränkt. Seine Lage ge schickt benutzend, hat es durch seinen Geschäftsgeist alle Länder sich zinspflichtig zu machen verstanden. Der Osten und Westen, der Süden und Norden empfangen die Produkte seiner Industrie. Reisende aus der alten und neuen Welt begegnen sich in seinen Mauern, lassen sich aus seinen Fluren nieder, führen Gold und Ideen ein und nehmen die Achtung vor dem Namen „Genf" mit sich. Genf sendet zu allen Nationen Vertheiviger seiner Interessen und Herolde seines Ruhmes. Seine Gesandten sind Staatsmänner, politische Schriftsteller, Wechsler, Gelehrte, Geistliche, Gewerbtreibcnde, Künstler, Prinzen - Erzieher, Lehrer, Handlungsdiener und Kaufleute , und trotz dieses scheinbaren Kosmopolitismus ist in der Fremde Niemand patriotischer als der Genfer. Diese mannigfache Berührung mit anderen Völkern ist noch nicht Alles; man darf nur die Genfer Familien mit Französischen, Deutschen, Savopardischen, Jtaliänischen, Schweizerischen und mit Genfer Namen nennen hören, um sich zu überzeugen, daß die verschiedensten Elemente eine der am stärksten ausgeprägten Nationalitäten gebildet und das Gefühl des nationalen JchS am deutlichsten entwickelt haben- Der Staats-Organismus hat viel dazu beigetragen, die Lebendigkeit und Regsamkeit des Geistes der Genfer zu nähren. Die republikanische Form giebt den Bürgern das Recht, die Fragen des öffentlichen Lebens in den gesetz gebenden Versammlungen und in den Klubs, und in Zeiten der Aufregung sogar auf den Straßen und auf den öffentlichen Plätzen zu erörtern. Das aristokratische Element scheint sich in Genf erhalten zu haben, um den Kampf und die Regsamkeit des Volkslebens zu schüren. Genf, das republikanisch und gcwerbflcißig ist, hat beständig an die Intelligenz und die Thätigkeit seiner Bevölkerung appcllirt. Seine Bevölkerung fühlt ein allgemeines Be- dürfniß nach Unterricht und Wissenschaft. Aus diesem Grunde haben die Regierung und die Individuen, die Poli tiker und die Spekulanten ihre Blicke nach allen Seiten wenden, in der Nähe und Ferne beobachten, ihre Aufmerksamkeit auf die praktische Seite des Lebens richten, ihre Gedanken auf die Politik lenken, die Wahrheit nm ihres Nutzens, die Wissenschaft um ihrer Anwendungen willen lieben und die handgreiflichen Interessen des Lebens besser als die uneigennützigen Entzückungen einer in sich selbst konzentrirten Seele begreifen müssen. Daher haben in Genf zwei Be schäftigungen des Geistes eine nicht so günstige Aufnahme gefunden, als die sozialen und Naturwissenschaften und als die historische und polemische Litera tur und die Rhetorik; nämlich Poesie und philosophische Speculation. Diese kurze Charakteristik der geistigen Nationalität der Genfer glaubten wir vorausschicken zu müssen, ehe wir uns zu Sismondi wandten, dessen zahlreiche historische Schriften wir hier in der Kürze aus allgemeinen Gesichts punkten beurtheilcn. Wir wollen Sismondi hier bloß als Geschichtsschreiber betrachten. Die historischen Compositionen bilden den umfangreichsten und zugleich den wich tigsten Theil seiner Werke, sein größtes Verdienst in den Augen der Gegen wart und der Nachwelt. ES wird nicht unzweckmäßig sepn, die Titel dieser Schriften anzuführen: Hiswire «len republigues italiennes du maxen-sge, 16 Voll pari« 1808 — 1818. (Geschichte der Jtaliänischen Freistaaten des Mittelalters.) Histoire des Vranssis, 29 Vol. Paris 1821 —1842. (Geschichte der Franzosen), noch unvollendet. -) Ucb-r sein Leben vergl. da« Magazin Nr. «7 S. -IL v. I. NM. flisloirv st« I« Uensissnneo de ls liberke en Ilslie, 2 Voll Paris 1832. (Geschichte der Wiedergeburt der Freiheit in Italien.) llisloire de ia clnile d« I empire roinain et du deelin de la civilisstiun, 2 Vol. Paris 1838. (Geschichte der Auflösung deS Römischen Reichs und deS Verfalls der Civilisation der alten Welt, verdeutscht von Wilh. Ad. Lindau. Leipzig 1836.) In diese Kategorie ist auch ein historischer Roman zu rechnen, der eine Schilderung Galliens im Sten Jahrhundert enthält: Sulis 8ever<l ou I'an 492; 3 Vol. Paris 1822. (Julia Severa oder das Jahr 492; übersetzt von M. Müller, Leipzig 1822 , 2 Bde.) Wenn man einen Geschichtsschreiber synthetisch beurthcilt, so richtet man seine Aufmerksamkeit zuerst auf seine Prinzipien , diese müssen der Untersuchung der Thatsachen und der Composition vorangehen; sic müssen den Geist des Forschers nach allen oder wenigstens nach einigen Seiten einer nationalen Eristenz lenken. Nach unserem Geschichtsschreiber ist eine Ration eine Gesellschaft von Menschen, die unter einer Regierung vereinigt sind. Nur die Regierung macht säst allen Unterschied der Nationen aus: auf die Natur oder auf eine erste Ursache kommt dabei wenig an. „Von der Natur ist Allen Alles ge geben", so lesen wir in der Einleitung zur Geschichte der Jta liänischen Freistaaten, S. I, „während die Regierung in den Menschen, die ihr unterworfen sind, die Eigenschaften, welche das Erbtheil der Men- schengattung bilden, erbält oder zerstört. Die Regierung ist unter den Ur sachen des Charakters der Völker die wirksamste; die Tugenden oder die Laster der Nationen, ihre Energie oder ihre Verweichlichung, ihre Talente, ihre Kenntnisse oder ihre Unwissenheit sind fast niemals die Wirkungen des Klima's oder die Attribute einer einzelnen Race, sondern das Werk der Gesetze." Diese Ansichten wenden aus die Völker die Geschichte der von Condillac er dachten Bildsäule an: die Seele, welche die Bildsäule, ich kann nicht sagen belebt, sondern bewohnt, ist fast nichts; es ist nicht einmal eine Kraft, son dern eine reine Nezeptivität im Zustande der Substanz, aus der man mit Hülfe der Sensationen nach und nach etwas macht. Wir sehen hierin eine Emanation der Genfer Philosophie, eines modisizirten Zweiges der Philo sophie, der Philosophie eines Volkes, das nur äußere Phänomene beobachtet. Eine andere Philosophie, die mit dem Schweizer Geschichtsschreiber in näherer Beziehung steht, würde seinen Geist bestimmen, auf die angeborne Individua lität eines Boltes, auf seinen ursprünglichen Charakter, der mit dem Boden, auf dem es lebt, mit der Luft, die es athmet, mit der ganzen Natnr, die es umgiebt, ein harmonisches Ganzes bilvct, zurückzugehen. Seelen und Völker sind verschieden, erstens durch ihr Sepn, zweitens durch die Erziehung; die Regierungen sind nicht die Schöpfer der Völker, sondern die Erzieher dersel ben. Beobachtet zwei Brüder, die in denselben Verhältnissen leben, und die Frage ist gelöst. Der von Sismondi ausgedrückte Gedanke enthält viel Wah res, wenn er in engere Gränzen eingeschlossen wird; soll er aber als absolut gelten, so kann ich ihn nicht unterschreiben: ich leugne zwar nicht die Er ziehung; aber ich könnte nie die Natur leugnen. Die ursprünglichen Unter schiede der Race und des Charakters zwischen den Völkern entdecken, ihre Com bination und ihre Resultate studircn, der Erziehung Schritt vor Schritt folgen, welche jedes Volk von der Regierung und von anderen äußeren Einflüssen empfängt, so das organische Prinzip jeder Nationalität und ihr inneres Gesetz aufsuchen und cs in seinen Beziehungen zu den allgemeinen Gesetzen der menschlichen Natur und der Soziabilität betrachten, das ist, glaube ich, das Amt des philosophischen Geschichtsschreibers und die Quelle der großen Lehren der Geschichte. Durch die Erfahrung bereichert und durch das Alter reifer ge worden, hat sich Sismondi später diesem Gesichtspunkte genähert. In der Darstellung nationaler Thätigkeit und sozialer Interessen ist er ausgezeichnet. Hier flößt er uns Vertrauen ein durch sein besonnenes Urthcil. Die Richtigkeit seines Urtheils, womit er die wesentlichen Verhältnisse der Dinge zu einander auffaßt und das Wahre von dem Scheinbaren zu sichten weiß; die Sicherheit, mit welcher er Alles entdeckt, was zum Ziele sührt; die Genauigkeit, mit welcher er Alles in sein wahres Licht stellt, mit einem Wort, sein klarer Verstand setzt den Leser in Erstaunen. Diese Eigenschaft zeigt sich auch in den fundamentalen Gesichtspunkten des Geschichtsschreibers. Als Hauptgegenstand der Geschichte stellt er uns zuerst das Volk dar. Die Regierung, der er in dem Schicksale der Nationen mit Recht eine sehr große Nolle ertheilt, müßte für das Volk, und nicht für sich allein da sepn, und fast immer sieht man, daß gerade das Gegentheil den Stoff der Geschichte bildet. Das größte Gut der Völker oder vielmehr die