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Nr. HEV — V. JaHrftunft Sonnabend de« L«. November LV1E» erscheint täglich «ach«, mit «ulnlchme der Eon», und Festtage. ««Sa»»« t., Mit .Die Zeit t» Wort und Md- dierteljLhrltch- 1,1» In Dresden dnrch Boten 1,4» In gang Deutschland^et Hau» 1,81 Musttierte Beilage dlertel^ l.8« I, 1,H d. Boten 1,1» In ganz Deutschland frei Hau» - «nzel-Nr. 1» 4 - 3eUung»pret»l- Nr. «858. Unabhängiges Tageblatt für Wahrheit, Recht und Freiheit «s Jnse»at« werden die ftgespaltene Pctttzeile oder deren Raum mit »8 ^.Reklamen mit 5» 4 die Zeile berechnet, bet Wiederholungen entsprechenden Rabatt Vuchdruilerei, Redaktion und »lrschitstSfteklei LeeSdeu, PtUnttzer «teas,e 4». — Fernsprecher LS«« gk» Rückgabe nnderlanat. S chrtftftück« keine VerbindNchlett RedalttonS-Sprechstunde! LA-II Uhr. Der zweite Vizepräsident im Reichstage- Man schreibt uns aus Berlin: Erbprinz Erwin zu Hohenlohe hat in den wilden Tagen der Borromäus-Enzyklika die Stelle des zweiten Vizepräsi denten niedergelegt: das war sein gutes Recht, vielleicht auch der Not entsprungen, denn eigentlich wohl fühlte er sich auf dem Sessel im Reichstags nicht. Man hatte nur zu oft den Eindruck, daß hier das alte Dichterwort seine neue Bestätigung findet: „Auf dem Dache sitzt ein Greis, der sich nicht zu helfen weiß." Wollte er also einem Amte, für das er nicht sehr geeignet war, entstehen, so hätte man das menschlich begreiflich gefunden. Anders ist es mit der Begründung dieses Schrittes; sie war eine Beleidigung für den katholischen Vizepräsidenten Dr. Spahn und für alle Katholiken des Reiches. Der Langenburger Erbprinz moti vierte nämlich seinen Schritt damit, daß er meinte, jetzt könne kein überzeugter Protestant mehr mit einem Katho liken im Präsidium sitzen. Daß er dadurch auch dem Neichs- tagspräfidenten Grafen Schwerin - Löwitz zu nahe trat, merkte er wohl nicht. Aber diese Taktlosigkeit werden wir nicht vergessen. Sie hat dem Erbprinzen die vielleicht er hoffte Glorie nicht gebracht; seine eigenen Parteifreunds waren sehr erstaunt, daß dieser Schritt ohne jegliche Fühlungnahme mit ihnen erfolgte und daß man sie vor e e vollendete Tatsache stellte. Nun aber hatte die liberale Presse lustige Monate, um immer wieder raten zu können: wer wird Vizepräsident? Teilweise sahen sie die neue Mehrheit in heilloser Verlegen heit; da schrieben gar einige Blätter, daß die Stelle gar nicht mehr besetzt werden würde, die Fraktionen wüßten nicht, was sie tun sollten usw. Gut; diesen Alleswissern sei heute verraten, daß die Zentrumsfraktion des Reichstages eine ganze Minute auf diese Angelegenheit verwendete, und diese wurde dadurch ausgefüllt, daß der Vorsitzende mitteilte, die Reichspartei stelle den Kandidaten und dieser sei der Abge ordnete Schulz. Alles war einverstanden. Da haben die Leser ein Bild, wie die Stimmung in einem Teil der Presse gemacht wird. Die Besetzung der Stelle war eine Aufgabe der Reichs- Partei. Diese gibt darüber folgende parteioffiziöse Er klärung ab: „Nach der Auffassung der Neichspartei wohnt der Wahl des zweiten Vizepräsidenten des Reichstages zurzeit keinerlei Bedeutung bei. Es würde demzufolge auch nach der in solchen Fällen bisher üblichen Regel zu verfahren fein, daß die Stärke der Fraktionen den Ausschlag gibt. Daher würde die Besetzung der Stelle des zweiten Vize präsidenten zunächst den Nationalliberalen, und sofern diese ablehnen, den vereinigten Fraktionen der Linken zukommen. Von dieser Auffassung der Reichspartei sind die anderen Fraktionen verständigt worden." Die beiden liberalen Parteien haben aber abgelehnt und so stellt die Reichspartei selbst den Kandidaten. Die Sozialdemokraten fordern als drittstärkste Fraktion den Posten für sich, wollen sich aber den üblichen Pflichten nicht unterwerfen. Wie sehr sie es auf eine bloße Demonstrations wahl abgesehen haben, sieht man aus dem Umstande, daß sie den Abgeordneten Singer präsentierten; dieser aber ist so schwer augenleidend, daß er das Amt gar nicht ausüben könnte. Der Arzt hat ihm völlige Arbcitsruhe verordnet. Der neue Vizepräsident, Landgerichtsrat Schulz in Bromberg, trat 1907 in den Reichstag ein als Nachfolger des Herrn v. Tiedemann; er war anfangs ein scharfer Haka- tist, lernte aber im Reichstage bereits, daß man auch in der Politik mit Wasser kocht. Im Vorjahre bemühte er sich sehr um das Zustandekommen der Reichsfinanzreform: in diesem Jahre ist er Vorsitzender der Neichsversicherungskommission und hat sich so schon Geschick in der Leitung von Verhand lungen angeeignet. Persönlich ist er ein sehr liebens würdiger Herr, der auch in seinem Wahlkreise Bromberg recht angesehen ist und im Reichstage wohl keinen Feind hat. Man darf erwarten, daß seine Geschäftsführung eine allgemein befriedigende sein wird; jedenfalls wird er es besser machen als sein unmittelbarer Vorgänger. Die Hoffnung der Gegner auf eine Art politische Krise aus der gesamten Angelegenheit ist somit ins Wasser gefallen. Politische Rundschau. Dresden, den 25. November 1S10. — Der Kaiser traf Donnerstag nachmittag 2 Uhr 25 Minuten im Sonderzuge in BreLlau ein und setzte nach einem Aufenthalte von 10 Minuten die Reise nach Ober schlesien fort. — Die Fleischnotdebattc setzte am Donnerstage im Reichstags sehr nett ein, obwohl der freisinnige Abgeordnete Tr. Wiemer über If/j. Stunde seine Parteiforderungen traktierte und mit einem Angriff auf die Agrarpolitik schloß. Dr. Paasche (natl.) aber wehrte sich hiergegen und betonte, daß seine Partei der alten Wirtschaftspolitik treu bleiben werden. Freih. v. Gamo lRv.) und Fürst Radziwill (Pole) schlossen sich dem an. Mit rheinischer Lebhaftigkeit forderte dann Trimborn (Zentr.), daß die Vieheinfuhr aus Holland freigegeben werde, aber der Landwirtschafts minister v. Schorlemer lehnte dies ab, da Holland seuchen frei nicht ist. Nach kürzerer Verhandlung wurde die Debatte vertagt. Am Freitag werden die Kaiserreden besprochen. — Die Militärvorlage hat im Bundesrate nach dem Vorschläge Preußens einstimmige Annahme gefunden. Im ersten Jahre sind 8 Millionen Mark mehr erforderlich, im Höhepunkt 26 Millionen Mark. — DeukmalSauSschuß. Am Dienstag fand im Reichs- tage eine Sitzung deS Ausschusses für Errichtung eine« Denkmals für die gefallenen Südwestafrikaner statt. Dar Reich hat bisher 60 000 Mark hierfür genehmigt. ES fragt sich nun, ob weitere Reichsgelder zur Verfügung zu stellen sind oder ob man Private Zeichnungen zulassen will. Gegen den letzteren Modus erheben sich recht zahlreiche Bedenken. Die Angelegenheit ist noch nicht definitiv entschieden. — Die Bcuroner Kaiscrrede liegt den liberalen Blättern noch immer in den Gliedern. Sie sprechen daher die Zweifel ans, denen sich auch die „Kreuzzeitung" ange schlossen hat, ob die Veröffentlichung der Beuroner Kaiser rede den Intentionen des Kaisers entsprochen habe. Hierzu wird der „Germania" von berufener Seite mitgeteilt: „Die .Kaiserrede wurde erst veröffentlicht, nachdem sie in Donaueschingen Vorgelegen hatte und eine Ermächtigung dazu in legaler Weise erfolgt war." Außerdem wurde, wie weiter berichtet wird, die Rede seitens der fürstlich Fürsten- bergschen Verwaltung den in Donaueschingen erscheinenden Lokalblättern zugcstellt, was sicher nicht geschehen wäre, wenn die Veröffentlichung nicht gewünscht worden wäre; endlich hat die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" in ihrer vorigen Freitagsausgabe die Rede abgedruckt, woraus sich zweifelsfrei ergibt, daß das offiziöse Blatt den Text der Rede für authentisch hielt und daß deren Veröffentlichung kein Hindernis entgegenstehe. — Eine eigenartige Sammlungspolitik. Dem Re gierungspräsidenten v. Meister ging die Anfrage zu, ob er bereit sei, im 2. nassauischen Wahlkreise Wiesbaden-Nhein- gau die Kandidatur für den Reichstag anzunehmen. Er erklärte, daß er dazu bereit sei, wenn er von den Konser vativen, dem Zentrum, dem Bund der Landwirte und den Nationalliberalen unterstützt werde und wenn ihm frei gestellt sei, sich den Freikonservativen anzuschließen. Das ist ein bißchen viel auf einmal; es ist ja zuzugeben, daß eine solche Kandidatur das Mandat den bürgerlichen Kreisen sichern kann. Aber zugunsten der Freikonservativen, die gar keine Wähler im Kreise haben! So entstände eine Fälschung des Wahlresultates: man erhält auf diese Weise eine Frak tion, die niemand im Lande hinter sich hat. Unser Partei leben muß Schaden nehmen, wenn eine solche Politik in Schwung kommen würde. Dir Privatbeamtenvcrsicheruug. Aus Privat- beamtenkreiien geht der „Köln. Volksztg." folgende Zu schrift zu: „Vor einigen Tagen ging die Nachricht durch die Presse, daß man im Reichsamt des Innern entschlossen sei, „mit Rücksicht auf die innerpolitische Lage" die Vorlage betr. die Privatbeamtenversicherung vorläufig zurückzustellen. Ob die Nachricht zutreffend oder die Mitteilung als ein „Fühler", vielleicht auch ein Wunsch von gewisser Seite zu betrachten ist, bleibt abzuwarten. Sollte sie sich aber tat sächlich bewahrheiten, so könnte man sich allerdings kaum der Ansicht verschließen, daß die Reichsregierung das rechte Verständnis für den Ernst der gegenwärtigen innerpoli tischen Lage noch nicht gewonnen habe. Man wolle bedenken: Ein Gesetz, für dessen Zustandekommen die beteiligten Kreise jahrelang eine Unsumme von Vorarbeiten geleistet, für dessen Grundgedanken alle Parteien des Reichstages entschieden eingetreten, an welches sich die Hoffnung von Hunderttausenden von Privatbeamten und deren Ange hörigen knüpfen, sollte jetzt wiederum nicht zur Verab schiedung gelangen, und dazu zu einer Zeit, wo die Wirkung > einer solchen Tatsache sozusagen auf dein Fuße folgen würde. Hat die Regierung, nachdem sie in den siebziger ? Jahren Kulturkampfs- statt Sozialpolitik betrieben und so die Mehrzahl der Arbeiter ins sozialdemokratische Lager gedrängt hat, Interesse daran, daß bei der heutigen allge meinen Unzufriedenheit und der zeitigen Parteikonstellatiou auch die Privatbeamten, die zum allergrößten Teil noch immer in den Reihen der bürgerlichen Parteien zu finden sind, sich der Sozialdemokratie zugesellen? Man wolle mich recht verstehen: Meine Ausführungen sollen weder einen Wunsch noch eine Drohung bedeuten, vielmehr nur einen warnenden Hinweis auf die wahrscheinliche Folge einer der artigen Behandlung der Privatbeamtenversicherung. Ge wiß, Schwierigkeiten der mannigfaltigsten Art mögen noch vorhanden sein, trotzdem würde eine nochmalige Hinaus schiebung in weiten Kreisen der Beteiligten einfach als Interesselosigkeit der Regierung und der — daran völlig unschuldigen bürgerlichen Parteien gedeutet werden." — Die deutschen Diamanten. Die Meldung, wonach das jüngste Novcmbershipment der nach Antwerpen ver sandten deutschen Diamanten auch eine Reihe größerer Steine bis zu 9fH Karat enthalte, hat allenthalben über rascht. Es ist allerdings schon längst bekannt, daß auf den Südwestafrikanischen Diamantenfeldern neben der Masse Die Blutrache bei den alten Zuden. Wenn wir heutigen Tages von der Blutrache, wie sie noch im Orient und unter den korsischen Bergvölkern hei misch ist, hören, so verbinden wir damit unwillürlich den Begriff von etwas Barbarischem, Widerrechtlichem und ver meinen,'in ihr den Ausfluß einer verkehrten, falsch ent- wickelten Rechtsanschauung zu sehen, die auf ein tiefes sitt liches Niveau ihrer Anhänger und Verteidiger schlie ßen läßt. Um so mehr muß es verwundern, daß das mosaische Ge setz, das uns heute noch Achtung abnötigt, und das in vielem vorbildlich genannt werden kann, die Blutrache ausdrücklich vorschreibt und sie als rechtliche Institution gelten ließ. Die Gründe hierfür liegen einesteils in der orien talischen Abstammung der Hebräer, anderseits in dem patriarchalischem System der alten jüdischen Verfassung. Bei den Orientalen ist der Gedanke der unmittelbaren Wiedervergeltung bis in die ersten Uranfänge zurück nach weisbar und so alt wie die Menschen selbst. Man kann die Blutrache als die primitivste Form eines Strafrechtes an sprechen, als den Ursprung der Volksjustiz. Durch die patriarchalische Verfassung endlich, die es niit sich brachte, daß die ganze Sippe für die einem einzigen Mitglieds zu gefügte Unbill Rache zu nehmen verpflichtet war, wurde die Blutrache eine Notwendigkeit. Das im ganzen Orient und in Aegypten gültige iu« talionis schrieb vor. Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Dies galt nicht nur für Mord oder Totschlag, sondern überhaupt für alle zugefügten körper lichen Schäden, so daß derjenige, der einen anderen bös willig verletzte, füglich dasselbe Leid am eigenen Körper er- fahren mußte. Außerdem galt der Grundsatz, gerade den Teil des Körpers zu peinigen oder gar zu vernichten, mit dem gesündigt worden war. Es ist unschwer einzusehen, daß dieser unmenschliche Passus des juris talionis, der unserem Empfinden nach eine bedenkliche, barbarische Fär bung aufweist, zu furchtbaren Verstümmelungen Anlaß war. Erlveitort finden wir dieses Vergeltungsrecht bei anderen alten Völkern in der Form, daß auch der Totschlag durch ein Tier am Herrn desselben und am Tiere selbst bestraft wurde. Daß schon die alten Hebräer ein recht empfängliches Gemüt für Geld und Geldcswert hatten, erhellt der Um stand, daß es nach mosaischem Gesetze zulässig war, allerlei Händel (Mord war hierbei allerdings ausgeschlossen) durch Zahlung von Geldentschädigungen beizulegen, und so wird man nicht irre gehen, wenn man annimmt, daß der wackere Israelit, dem Zuge seines Charakters folgend, eine „ge- schriftliche" Erledigung so manches grimmen Zwistes der blutigen vorgezogen haben wird. Ueberhaupt ist es unverkennbar, daß das hebräische Gesetz bestrebt war, der Blutrache die unnötigen Härten, mit denen sie den sonst geistig hochstehenden Juden immer hin grausam und bestialisch geschienen haben mag, zu neh men. Demzufolge finden wir schon hier einen Unterschied zwischen Mord und unabsichtlichem Totschlag. Für die- icnigen, die sich deS letzteren Deliktes schuldig gemacht hat ten (Moses V, 19, 4: Wenn jemand seinen Nächsten schlägt nicht vorsätzlich und hat vorher keinen Haß auf ihn gehabt), waren im östlichen und westlichen Palästina am Ufer des Jordan von Staats wegen Freistätten errichtet, in die sie vor dem Bluträcher, dem Goel, fliehen konnten. Ein Gerichts- Hof, dem der Hohepriester vorsaß, entschied darüber, ob dem Hilfesuchenden daS Asylrecht «inzuräumen oder ob er dem Goel auszuliefern sei. Wenn der Geborgene jedoch daS Ge biet der Freistatt, das ist 10 000 Ellen oder ein Sabbats weg, überschritt, schützte ihn nichts mehr vor der Blutrache. Starb der Hohepriester, so trat eine allgemeine Amnestie in Kraft; die Blutrache erlosch und jedermann durste das Asyl ohngefährdet verlassen. Abgesehen von diesem Ereig nis kannte das mosaische Gesetz noch zwei Fälle, bei denen die Blutrache nicht in Anwendung gebracht werden durste: 1. Wenn jemand einen Dieb in der Nacht beim Ein bruch erschlug, ehe die Sonne aufgegangen war, und 2. wenn ein Erschlagener auf dem Felde gefunden wurde und der Täter unbekannt blieb. Alsdann aber mußten die Vor steher, Priester und Leviten der nächsten Gemeinde an den Ort der Tat ziehen, daselbst eine junge Kuh als Opfer schlachten und feierlich erklären: „Unsere Hände haben die ses Blut nicht vergossen und unsere Augen haben es nicht gesehen, sei gnädig. Herr, deinem Volke Israel." (Mos. V, 21, 1-9.) Hier finden wir wieder die Anschauung, durch die Tötung von Tieren den durch die Sünde verwirkten Tod der Menschheit ersetzen zu können, die sich in dem ganzen Opfergedanken des Altertums widerspiegelt. Auch der Kreuzestod Christi ist die endgültige Entsühnung der Menschheit durch Blut, die die Tieropfer überflüssig machte. Auch mit der Blutrache mußte die Religion der Liebe brechen und sie verwerfen als unvereinbar mit christlicher Satzung. Muß es aber nicht eigentümlich anmuten und zum Nachdenken anregen, daß den Vorvätern -er JSroeliten, dieses Volkes, das Jahrhunderte lang die härtesten Er niedrigungen litt, einst als vornehmstes Gesetz das in« Inlionis galt mit seinem Grundsätze: „Aug' um Aug', Zahq um Zahn"?! . ^ Hans C. Aark. !