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Wochenbeilage des „Leipziger Tageblattes". I. Jahraana. Nr. 25. SS. Juli t»«4. Verantwortlicher Redakteur: Paul Zschartich in Leipzig. Inhalt. Anton Tschechoff. Bon vr. Wilhelm Mteßner. (Berlin.) Alpen-Lyrik. Bon Franz Wichmann. Das Kamittenletöen Napoleons. Bon *»*. Die Ara Parts Augustae. Von vr. Max Mar ässe. Die Barke des Lebens. Eine Parabel. Bon G. Baronin von Parpart. (Berlin.) Die garstige Hella. Bon Gertrud Baronin von Parpart. Anton Tschechoff.*) Von vr. Wilhelm Mießner (Berlin). Nachdruck verboten. „Wir haben nun die Entdeckung gemacht, daß wir da sind, und wenn diese Entdeckung auch in jedem einzelnen sehr viel Unheil an richtet, so ist sie doch nicht rückgängig zu machen. Wir nennen diese Jcherkenntnis den Sündenfall. Seitdem mißtrauen wir unseren Instinkten. Wir haben endlich erfahren müssen, daß wir nicht un mittelbar die Dinge anschauen, sondern mittelbar und daß uns kein Mittel zu Gebote steht, die farbigen zerstreuenden Linsen, mit denen man uns vergleichen kann, zu verlassen oder die Fülle ihrer Irr tümer nachzurechnen." **) „Wie ich bm. so schaue ich die Welt an." Nirgends findet dieser Erfahrunassatz des amerikanischen Rousseau des neunzehnten Jahrhunderts eine so treffende Bestätigung als in der Geschichte der Dichtkunst. Der Sündenfall und seine Erklärung durch das Ich selbst, das so kühn aus dem natürlichen Schutz der Gattungstriebe zum Einzelleben emporgerungen, damit aber zunächst auch die Allwissenheit und Unfehlbarkeit der Natur verloren hat, das ist das Thema aller wahren Dichtkunst und die Zeit und der Einzelne in seiner Zeit machen die bunte Brille aus, mit der die blendenden Strahlen der Wirklichkeit gedämpft werden. Mag man sich objektiver oder episch zur Naturschilderung stellen wre die Griechen, wie von den Deutschen am ehesten Wolfram von Eschen bach und Goethe, mag man, was in unserer Zeit am häufigsten ge schieht, subjektiv oder psychologisch an sie herantreten und m gleicher Weise das Sommerleben eines Lmdenastes wie die Seelenbewegungen von der müden Sehnsucht bis hin zur noch müderen Enttäuschung nachlebend verfolgen, hinter beiden Beobachtungsweisen steht die mitleidige und immer nur zum Teil beantwortete Frage: Was ist nun eigentlich aus dir geworden, armes Menschenkmd, seitdem du dem schützenden Arm deiner Mutter Natur entlaufen bist? Wie wir selbst diese Frage zu verschiedenen Tageszeiten, vor oder nach dem Essen, bei einer Tasse Mokka oder in vergeblicher Er wartung des Geldbriefträgers geneigt sind, verschieden zu beant worten, erlebt auch die Kultur eines Volkes Suggestionen und Magenverstimmungen verschiedenster Art und Wirkung. Man *) Diese Charakteristik des berühmten russischen Schriftstellers, der am 16. Juli fern seiner Heimat in Badenweiler gestorben ist, ist noch vor Tschechoffs Reise nach Deutschland geschrieben worden. Meine „einseitige Würdigung" in Nr. 369 (Moraenblatt» kann als Ergänzung dazu gelten. k. **) R. W. Emerson Essays 2. Folge Band V. der Emersonausgabe; Verlag von Eugen Diedrichs. Jena. denke an das Kaiserwort: „Der Deutsche hat am meisten geleistet, wenn er hungerte." Eine im Trelbhaus zur Blute gebrachte Pflanze gibt einen heftigeren Modergeruch von sich, wenn sie welkt, als die in der dörrenden und einbalsamierenden Sonne des Julr am Feldrain welkende Heckenrose. ,, Die russische Literatur unserer Tage gleicht dann der ersten voll aufgeblühten Frühlingsrose einer jungen Kultur, an der alle Welt dermaßen Freude hatte, daß man sie zum Schutze gegen die Mar- fröste in ein Treibhaus brachte, um sie länger am Leben zu halten. Ueber Puschkin, Gogol, Turgenjew, Tolstoi und Dostojewski hinaus geht es zunächst nicht. Diese Geistesbelden waren schon ein so un erhörtes Ereignis innerhalb des russischen Barbarismus, daß eine weitere europäische Verfeinerung russischer Literatur ein Durchsetzen etwa ihres Geistes mit französischem Esprit nur ein schnelleres Fort schreiten im Satanismus realistischen Pessimismus bedeuten könnte, dem Wildheit aushauchenden, auf überfeinerte Nerven so anrerzend wirkenden Geruch faulender Früchte zu vergleichen. Wieder einmal lockte den Dichter, wie es sogar dem alten guten Wieland rn ferner Jugend geschehen ist, das Geschimpfe und Resignierttun des kleinste« Teufelchens mehr als die Posaunentöne der Wahrheit, die der best- gedrillteste Erzengelchor ausführt. Die Fleyeljahre emes Menschen wie eines Volkes haben für den. Blick unbeteiligter und psychologisch interessierter Menschen immer einen eigenen Nerz. Und so sehr man von dem russischen Volke für die Zukunft viel zu erwarten berechtigt ist, ist auch unser Interesse für die russische Dichtung der Gegenwart und die seines vakant tvrriblo Anton Tschechoff zugleich eine segens reiche Betrachtung geistigen Wachstums überhaupt und seiner Be dingungen. Es wäre sonst nicht allzu viel anzuführen für das Aufmerken Deutschlands auf jedes neue Drama des ru^-^'en Heine der Gegen wart, von dem man vorläufig noch nicht einmal sagen kann, daß er es im Realismus so weit gebracht hat wie Heine in der Romantik — bis zur spöttischen Umkehrung m das Gegenteil. Tschechoff ist einer der nüchternsten Realisten der Gegenwart und was den reinen, gewollten Realismus anbetrifft, sind Balzac, Zola, Tolstoi gegen ihn Waisen- oder Wunderknaben, wie man eS nehmen will, da sie alle das Wunderbare in der Natur mit so viel Eifer als wirklich hinstellen. Tschechoff ist in allen seinen Werken immer derselbe mit einer bitteren Enttäuschung alle menschlichen Hoffnungen verspottende Satiriker. Ein französischer Literarhistoriker sagt von ihm selbst sogar, daß er seit 1885 nur damit beschäftigt scheint, die Hoffnungen, welche man auf ihn immer von neuem zu setzen bereit ist, in Ent täuschungen zu verwandeln. Vielleicht gibt also der Dichter der Welt nur wieder, was sie ihm gegeben hat, und das stimmt sehr wohl zu unserer Auffassung von bedeutenden Menschen und dem Milieu. DaS Leben hat für Tschechoff etwas unerträglich Eintöniges, eine weite Einöde ist das Land und die Stadt ohne irgend einen Schmuck voa Gartenanlagen oder Baudenkmälern, die kleine Provinzstadt in ihrem stupiden Schmutz. Die Menschen darin sind Trinker oder Dumm köpfe, schmutzige Juden und ein Troß eingebildeter Subaltern beamter, die nre in ihrem Leben etwas gelernt haben als Leute- Die Marke des Levens. Eine Parabel Von G. Baronin von Parpart (Berlin). Bei Hellem Sonnenlichte gleitet die kleine Barke des Glückes dahin. Heiser kreischen die Möwen auf: „O, du armes Menschenkind, so manches Schifflein geht in den Fluten des Lebens unter. Im Hellen Sonnenscheine des Glückes schaut das frohlockende Menschenkind nicht die drohenden Wolken dort am Himmel, noch achtet es der gefährlichen Klippen!" Dem Gestade der Helmat entgleitet der Nachen des ungetrübten Glückes. Weise Vorsicht und natürliche Vorsorge, sie dämmten bis her den Pfad der Jugend ein. Jetzt im Vollgefühle der Freiheit geht es in das offene Meer des Lebens. Das klare Auge sieht die Welt so groß, so herrlich vor sich liegen. Aber wehe, die Klippen der Mißgunst, des Neides, sie lassen das kleine Lebensschiff gar oft scheitern — es gerät auf die Sandbank der Verarmung. Wie viele bange Minuten sind in jeder Stunde zu verzeichnen! Manches Lebensschiff ist aber gut und fest ausgerüstet, es kämpft wacker gegen die Stürme, welche es umtosen. Die Willens kraft führt das Ruder. „Alle Mann an Deck", ruft der Kapitän, „ich bin der Wille und ihr müßt gehorchen, ick will leben — darum lebe ich!" ,)Äuch ich bleibe dir treu", ruft die Besonnenheit, „ohne mich könnte selbst deipe Kraft nicht ausreichen." . Mun", Höhnt der Mut, „was wollt ihr ohne mich beginnen, Henn nttt zu bald erlahmt die menschliche Kraft in den Stürmen des Lebens," ,-Äuch Mch nehmt Mit", ruft leise das Vertrauen, „ich bin SS, Lurch welches daS Schiff erbaut ist, trotzend alleks Einflüsterungen hsr vösell Menschen." ' ' * Wohlan denn, so ziehet mit mir den gefahrvollen Weg nach dem Lande Utopia!" Immer dunkler werden die Wolken am Himmel. Plötzlich schwankt das Schifflein. Unheimlich kreischen die Möwen auf. Es ist, als wenn eine unsichtbare Macht den bis dahin so ruhig dahingleitenden Kahn erfaßt hätte. Sieht der Kapitän recht? AuS der Tiefe des Schiffes steigt jetzt eine unheimliche Gestalt. Mit schlotternden Knien und welkem Antlitze nähert sich dieselbe. Em Grauen erfaßt alle. Ein widerliches Grinsen entstellt daS fahle Gesicht. „Hi-Hi-Hi, warum entsetzt ihr euch bei meinem Anblicke? Auf der ganzen Fahrt bin ich unsichtbar in eurer Nähe gewesen; kein Erdenkind lveilt unter der Sonne, welches nicht von meinem Hauche umfangen wird, denn ich bin — die menschliche Schwäche." Ein Schauder ließ die Mannschaft des Schiffes erzittern; die Willenskraft aber erhob den Arm und reckte ihn gebieterisch über die gebrechliche Gestalt am Boden. „Wer du auch seist, du elendes Geschöpf, nickt länger sollst du unter uns weilen; hebe dich hinweg, denn nur Unheil kannst d» gebären!" Und es entspann sich ein wilder Kampf. Lautlos rangen zwei entgegengesetzte Naturen miteinander ... Da, ein Aufklatsch des Wassers, wie nach -em Falle eine schweren Körpers ... Noch einmal tauchte dieses widerliche Antlitz aus -en grause» Fluten empor — dann glätteten sich die Wogen wieder . . . Die menschliche Schwache ist, vom Willen besiegt, auf immer hinab gesunken, und die Barke steuert frohgemut dem unbestimmte«, trügerischen Glücke entgegen» .. ' ' E.«»- —