Volltext Seite (XML)
Bestreben, inhaltlich und ausdrucksmäßig über die Grenzen eines bloßen Wettstreits des So listen mit dem Orchester hinauszugehen. Die Suite hat fünf Sätze: Präludium, Gavotte, Mär chen, Thema mit Variationen und Tarantella. Wenn sie auch miteinander kontrastieren, sind sie doch durch eine eigenartige Monothematik verbunden. Besondere Bedeutung hat das An fangsmotiv des Präludiums, das, gleich einer architektonischen Säulenordnung, durch den zweiten, dritten und vierten Satz der Suite ge führt wird. Das wuchtig-strenge Präludium ist im prächtigen „barocken" Improvisationsstil gehal ten — daher die Vielfalt der Ornamentik, deren kle durch plastische melodische Linien ver enden sind. Das Märchen bezaubert durch seine Stimmung und das zarte poetische Kolorit. Der Gesang der Violine in der dritten Episode (tranquillo) erinnert an den Märchenton Rimski- Korsakows. Aber auch der Einfluß Tschaikowskis ist zu spüren. In seiner Lyrik ist das Thema mit Variationen eine der vollendetsten Schöpfungen dieser Art in der russischen Musik. In den Va riationen sind die Formen des Walzers und der Mazurka originell verwendet. In der Schlußva riation zeigen sich neue Seiten im melodischen Stil Tanejews. Die verhalten-männliche Melodie der Solovioline erhebt sich zeitweise zu unge- v/öhnlicher Ausdruckskraft und zu dem Tanejew eigenen edlen Pathos. Mit dem Ballett „Der Feuervogel" errang im Jahre 1910 in Paris der damals 28jährige Igor Strawinsky einen Sensationserfolg. In ra scher Folge entstanden danach, unter bestim mendem Einfluß des Choreographen Sergej Djagilew, jene beiden Ballette, die den erwor benen Weltruhm des jungen Komponisten si chern halfen: „Petruschka" (1911) und „Le fe c r e du Printemps" (Das Frühlings- ™fer). Die von Pierre Monteux dirigierte Urauf führung des „Sacre" am 29. Mai 1913 im Pari ser Theätre des Champs-Elysees gestaltete sich allerdings zu einem ungeheuren Theaterskan dal; es kam zu Raufereien, und der Tumult im Zuschauerraum übertönte zuweilen die Musik derartig, daß die Tänzer auf der Bühne größte Schwierigkeiten hatten, mit dem Orchester in Einklang zu bleiben. Der als „barbarisch" emp fundene Rhythmus, aber auch die gehäuften Dissonanzen des Werkes, das zu den typischsten Äußerungen des musikalischen Expressionismus gehört, wurden vom Pariser Publikum, das sich damals auch Balletten von Debussy und Ravel gegenüber abweisend verhalten hatte, abge lehnt. Erst ein Jahr später gelang es Monteux, mit der ersten Konzertaufführung des „Sacre" im Casino de Paris einen enthusiastischen Erfolg zu erzielen, der sich in der zunehmenden Popu larität der 1947 revidierten Orchestersuite doku mentiert hat. Heute gilt die Komposition unbe stritten als ein Meilenstein in der Geschichte der Musik, als eine der großartigsten und um wälzendsten musikalischen Schöpfungen unse res Jahrhunderts. „,Sacre du Printemps' ist ein typisches Werk der vorrevolutionären Epoche. Man darf es nicht für zufällig halten, daß es nur ein Jahr später als Skrjabins .Promethee' entstand, zwei Jahre spä ter als Strauss' .Elektra', etwa gleichzeitig mit Bartöks .Herzog Blaubarts Burg', Ravels ,Daph- nis und Chloe', Rachmaninows Chorsinfonie ,Ko lokola' (.Die Glocken'), Mahlers 9. Sinfonie Schönbergs .Pierrot Lunaire', kurze Zeit vor Prokofjews .Skythischer Suite'. Obwohl all diese Werke durchaus nicht gleichartig sind, gibt es in ihnen doch etwas Gemeinsames: Züge der Kri se, ein Vorgefühl künftiger Katastrophen, Ra serei der Gefühle, großartige expressive Höhe punkte. Nicht selten erscheint in ihnen auch die Gestalt des Todes als Symbol bevorstehender unvermeidlicher Opfer, der Furcht vor etwas langsam Näherrückendem, noch Unbekanntem. Es ist verständlich, daß neue Ausdrucksmittel gebraucht wurden, um diese Thematik auszu drücken . . .", stellte Boris Jarustowski in seiner Strawinsky-Biographie (Berlin 1966) fest. Mit rhythmischer Urgewalt und vulkanischen Klang entladungen gestaltete Strawinsky diese „Bilder aus dem heidnischen Rußland", wie das Werk im Untertitel heißt: „Eines Tages sah ich uner wartet vor mir das Bild eines großen heidnischen Sakralkultes: die alten Priester beobachten, im Kreise sitzend, den Todestanz eines jungen Mädchens, das sie dem Gott des Frühlings op fern, um ihn günstig zu stimmen. Das war das Thema vom Sacre du Printemps". Es bot ihm Ge legenheit zur Entfesselung elementarer Kräfte, zur Entfesselung des Triebhaften, des Dionysi schen. Rhythmus und Harmonik sind vor allem die Träger dieser Entfesselung. „Die Helden des Strawinskyschen Werkes sind Menschen aus dem heidnischen Rußland, die fest mit der Erde, mit den elementaren Kräften der Natur verbunden sind und von primitiven, aber wohl auch beständigsten und stärksten Kräften der menschlichen Natur bewegt werden : den Instinkten der Lebens- und Gattungsfort pflanzung. Diese Menschen sind noch bar des Intellekts, bar jeder psychologischen Feinheit und unterscheiden sich noch kaum von der übri gen belebten Natur. Eben darin ist nach der Meinung des Autors ihre Ursprünglichkeit und Lebenskraft zu sehen. In diesem Stadium war das Leben des Menschen untrennbar mit dem Jahreskreis der Natur verbunden: Ähnlich der Pflanzenwelt verlöscht es im Winter, um unter der Frühlingssonne wieder zu erstehen und sich zu erneuern. ,lm Sacre du Printemps', schrieb Strawinsky, .wollte ich die leuchtende Auferste hung der Natur schildern, die zu neuem Leben erweckt wird, eine vollständige, elementare Auf erstehung, die Auferstehung der gesamten Welt.' Daß es dem Komponisten gelang, diesen mächtigen Ausbruch der elementaren Kräfte der Frühiingserneuerung zu zeigen, und daß er ihn vor allem überwiegend mit nationalem russi schen Material wiedergab, spricht für den schöp ferischen Weitblick Strawinskys, der ein Vorge fühl des revolutionären Aufbruchs empfunden haben muß" (B. Jarustowski). Vom Komponisten selbst stammt nachstehende Einführung in das Werk: „In der Introduktion (Lento) habe ich meinem Orchester die Furcht anvertraut, die jeden fein empfindenden Geist vor der Macht der Elemente überkommt . . . Die Melodie entwickelt sich in einer horizontalen Linie, die nur die Masse der Instrumente, die intensive Dynamik des Orchesters, aber nicht die melodische Linie selbst steigert oder ab schwächt. Ich habe den panischen Schrecken der Natur vor der Schönheit wiedergeben wollen, eine heilige Furcht vor der Mittagssonne, einen Panschrei, dessen Anschwellen neue musikali sche Möglichkeiten erschließt. So muß das ganze Orchester die Geburt dieses Frühlings wieder geben. Im ersten Teil treten Jünglinge mit einer alten Frau auf . . . Sie kennt die Geheimnisse der Natur und lehrt die Jünglinge deren Myste rien . . . Die Jünglinge, um sie geschart, verkün den den Pulsschlag des Frühlings durch ihren verhaltenen Rhythmus. Nun kommen die Mäd chen vom Fluß herauf. Sie bilden einen Kranz, Programmblätter der Dresdner Philharmonie Redaktion: Dr. habil. Dieter Härtwig Die Einführung in die Konzertsuite S. Tanejews wurde dem Konzertbuch II, herausgegeben von K. Schönewolf, Leipzig 1965, entnommen. der sich mit dem der Jünglinge vereinigt (Tran quillo) . • . Sie nähern sich den Gespielen, und doch fühlt man im Rhythmus der Musik, daß sie sich trennen werden (Molto allegro) . • . Die Gruppen teilen sich wieder und kämpfen . . • So äußert sich ihre Kraft in der Entzweiung und im Spiel. Nun hört man das Herannahen eines Festzuges. Der Heilige, der Weise kommt, der älteste Priester des Bundes. Er segnet die Erde (Lento) . . . Seine Segnung ist wie ein Zeichen für ein neues rhythmisches Sprießen. Alle ver hüllen sich, bewegen sich dann in Spiralen, un aufhörlich quellend wie die neuen Energien der Natur. Es ist der Tanz der Erde (Prestissimo). Der zweite Teil fängt mit einem schattenhaften Tai^^ der Mädchen an. Die Introduktion (Largo) flB ein geheimnisvoller Gesang, der diesen Tan^^ begleitet. Die Mädchen weisen in ihren Reigen (Andante con moto) auf die Stelle, wo die Aus erwählte eingekreist wird, die dann nicht mehr entrinnen kann. Die Auserwählte soll dem Fah ling die Kräfte wiedergeben, die die Jugend ihm geraubt hat. Sie wird von den jungen Mäd chen umtanzt (Vivo) . . . Die Ahnen werden an gerufen und umkreisen den beginnenden weihe vollen Tanz (Lento). Als die Auserwählte er schöpft niedersinkt, ergreifen sie die Ahnen und heben sie zum Himmel empor. Der Zyklus der Kräfte, die wieder geboren werden, um zu ver gehen und sich in der Natur aufzulösen, ist er füllt und in diesen wesenhaften Rhythmen voll endet." Jean Cocteau äußerte: „Sacre ist und bleibt ein Meisterwerk; eine Sinfonie, erfüllt von wilder Trauer und von den Geburtswehen der Erde; Klänge von Hütten und Feldern, kleine Melodien, die aus dem Urgrund der Jahrhun derte herauftönen, Keuchen der Tiere, tiefe Er schütterungen; eine Georgica der Vorge schichte." Spielzeit 1979/80 — Chefdirigent: Prof. Herbert Kegel Druck: GGV, Prod.-Stätte Pirna 111-25-12 ItG 009-28-80 EVP -,25 M 9. ZYKLUS-KONZERT 1979/80