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Sonnabend —— JA. 64. —— 3. Junius 1843 Deutsche Allgemeine Zeitung. HM «Wahrheit und Recht, Freiheit und Gesetz!» «evervtick. Deutschland. "Aus Mitteldeutschland. Religionswirren. * Han nover. Die politischen Gefangenen. Preußen. Der rheinische Provinziallandtag. * Nasen. Ein bericht, gender Journalartikel und ein Circular des Grafen Arnim. * Dansij Anstalten zum Empfange des Königs. Das Musikfest. Spanien. * Paris. Das Abdankungsschreiben des Ministeriums Lopez. Das Programm des neuen Ministeriums. Rundschreiben des Mini sters des Innern. Olozaga legt seinen Gesandtschaftsposten nieder. Heftige Sprache der Oppositionspresse. Großbritannien. Unterhaus: ystindische Angelegenheiten. Fruchtloser Antrag zu Gunsten Irlands. Der katholische Erzbischof von Dublin ist kein Repealer. Die Presbyterianer. * London. Uebersicht einer Nummer der Times. Frankreich. Pairskammer: Theaterreglcment. Piscatory ist nach Athen abgereist. Gemeinden müssen für Tumultuanten büßen. Proceß we gen Spielbetrugs. Nachrichten aus Algerien. * Paris. Der Strei zwischen Klerus und Universität. »Paris. Angeblicher Vorfall au den Marquesasinseln. »Aus dem Elsass. Umtriebe der Intoleranz Niederlande. »Amsterdam. Die Verwerfung des Gesetzes über die Rentenconversion. Italien. sNom. Ein neuer preußischer Consul. Die Konsuln. Lcga- gationsrath Kestner. »Aus Sicilren. Reisende. Feste. Der königl. Statthalter kehrt zurück. Der König wird erwartet. Türkei. * Konstantinopel. Reschid-Pascha zum Gouverneur von Adria nopel ernannt. Handel nnd Industrie. »Frankfurt a. M. Die niederländische Rentenconversion. — * Wien-Gloggnitzer Eisenbahn. Berlin. Ankündigungen. Deutschland. **Aus Mitteldeutschland, 30. Mai. Die Auswanderung von zweitausend Alt lut he ranern auS Preußen ist eine zwiefache Kalamität: Glauhenöflucht und Flucht aus dem Vaterlande. Wohin wird dies noch führen? Im Bauernstände Scktcnwefen, im Mittel stände Indifferenz und Zweifelfucht, in hohem Stellungen Pietismus: unlautere Ausflüsse eines zähen, ideal- und thatlosen Friedens; Wu cherpflanzen der Passivität, die sich des inner» Lebens so Vieler be mächtigt hat. Auf der einen Seite die unbändigsten Ausschweifungen der sogenannten Vernunft, auf der andern die jämmerlichsten Ver irrungen des GemütheS; dort freche Verachtung, hier grobes Mis- verstehcn der Religion. So erheben sich allenthalben die schroffsten Gegensätze in Staat, Kirche und Wissenschaft. Der Staats wenn auch zwcispältig in sich, ist doch stark durch die Legion seiner äußern Wi- derstandömittel; stark ist auch die Wissenschaft, welche die Wirklichkeit zum Rückhalt hat. Am schwächsten, sage man was man will, ist ge genwärtig der Glaube ; er, der sonst die kräftigste Stütze der Gesellschaft war. Einerseits mit grimmiger Heftigkeit angegriffen, andererseits über Gebühr mit Beiwerk ausgcstattet, ja selbst für entbehrlich gehalten, was das Schlimmste ist. Was, still vollbracht im magischen Kreise der For schung, den Denker adeln, geistige Früchte tragen kann, erhebt sich vorlaut auf dem Katheder, greift excentrisch um sich durch die Schrift, um, wie sie sagen, „Gemeingut" zu werden. Das nennen sie Lehr freiheit. Aüticipiren und Protcstiren sind die leitenden Dioscuren des Zeitgeistes, der die Leiter, worauf die Entwickelungen ihm zu träge aufwärts klimmen, unter sich abstößt, während er der Zukunft die höchsten Cultursprosscn entreißen will, und so in der Luft hängt zwi schen Traum und Wirklichkeit. Diese Seiltänzerkünste der Ideologen, welche in allen Gebieten über der schaulustigen Menge den Ruhm der Kühnheit erstreben, sind wahrhaft Schwindel erregend. Auf der an dern Seite hierarchische Vorschrift: was und wie Glauben sein und betrieben werden soll; Prätension der Auslegungskunst und Kirchen- polizei; wo nur die innerste Ueberzcugung über die Form der Andacht, das Ucbcreinkommen der Gläubigen über die dem Gemüthe zusagend sten Vorstellungen nach christlichen Grundbegriffen die Gemeinde macht. Daher einerseits Verflüchtigung aller Frömmigkeit, andererseits ein grol lendes Zerfahren in Sekten., Blicken wir zurück auf die letzten zehn Jahre, so stellt sich uns ein seltener Cyklus von Religionsscenen dar, wie ihn fast kein früheres Jahrhundert in so wahrhaft widerlicher Buntscheckigkeit aufzuweisen hat. Drüben: After-Jesuitismus, Wun- derthätcr und Seherinnen, Amuletenkrämerci, Wallfahrerunfug, mili- tairische Religionsdespotie, Jnterdict und wider die Staatsgewalt auf wiegelnde Hirtenbriefe; hüben: administrative Kixchenunion, Eingriffe der weltlichen Gewalt in dogmatisches Gebiet, Widcrspänstigkcit gegen die Kirche und Glaubensflucht, Auszug der Protestanten aus katho lischen, der Altgläubigen aus protestantischen Ländern, Verbrechen un ter dem Mantel des Scktengeistes, Frömmigkeit und Heuchelei vereint zur Winkelandacht, Wiedertäufer, Besessene; dazu eine die Grundlage» des Christenglaubens auflösende Kritik, öffentliche Abläugnung der Exi stenz deS Stifters der Religion selbst — die überschwänglichste Spitz findigkeit und die gröbsten Exccssc, religiöser Skandal in Theorie und Praxis — ein eben nicht sehr erfreuliches, viel weniger für das glau bensbedürftige Volk erbauliches Schauspiel! Und da soll der Staat kein Einsehen nehmen? In der That, hier negativ für den Reli- gionsfricden zu wirken muß eben so sehr seine Pflicht sein, so we nig ihm zukommcn kann, positive Glaubenszucht auf seine Angehö rigen auszuübcn. Der Staat hat oft ein Auge, wo die Schule durch Brillen sieht. Der Zug der Menschenbildung in seinen große» geschichtlichen Richtungen hängt zwar nicht von den Ansichten, Pflicht gefühlen und Satzungen, noch weniger von den Wallungen, Sym pathien oder Einfällen der Machthaber ab, aber damit ist noch nicht vorausgesetzt, daß diese gelegentlichen Umtrieben in den höchsten Ange legenheiten der Menschheit indifferent zusehen müßten. So weit ist in Deutschland die Macht der Intelligenz doch schon vorgerückt, daß, waS ihr wahrhaftes Bedürsniß ist, auch nicht vermag, ihr abgestrittcn zu werden. Dagegen sage man nicht, daß, was als Sache strenger Wis senschaft behandelt, die Oeffentlichkeit erlangt, sich im engen Kreise weniger Geweihter von selbst beschränke. Um jeden Flecken sammeln sich Fliegen. So wenig die Wissenschaft sich von den Erfahrungen des gemeinen Lebens abschließen kann, so wenig vermag sich das ge meine Leben von den Einflüssen selbst der dunkelsten Doctrme» zu iso- liren, von denen, sobald nur erst die Esoteriker davon gekostet haben, der contagiöse Proceß alle Adern der Gesellschaft durchläuft. Auf eine oder die andere Weise Wissen und Glauben verschmelzen wollen, bleibt unter allen Umständen scholastische Marotte, die bei wesentlichen Nach theilen für die GcmüthSwelt der Jntellcctualwelt doch keinen Nutzen gewährt. Das Spoliren wie das Flickwerk am Dome des Glaubens verletzt allenthalben die Interessen der Gesellschaft sowol als die ewige Freiheit des innern Menschen. „Ucber die Seele hat Keiner zu gebie ten denn Gott allein." Das muß der Gesellschaft und jeder ihrer Gemeinschaften und Mitglieder für sich überlassen werden, mit der Differenz zwischen Wissen und Glauben, mit den Differenzen des Glaubens selbst in Pietät sich abzufinden. Alles Parteinehmen für oder wider den Glauben ist vom Uebel, gleich viel von wem es ausgeht, und in beiden Beziehungen sollte man sich doch endlich nur an Schleier- macher's großes Wort halten: Alles mit und nichts aus Religio» zu thun. Dem Staat aber muß es zustehen, Ehrfurcht, wenigstens die Beobachtung des äußern Anstandes, die schickliche Rücksicht für Das u fodern, was ihm und seinem Volke heilig und ehrwürdig ist, und s gibt Grenzen, über welche hinaus jede Freiheit zur Frechheit wird. Nur der Partcigcist stellt sich, als könne er diese Grenzen nicht fin den. Er sicht sie so gut als wir, aber er mag sie nicht sehen. * Hannover, 30. Mai. Bekanntlich waren von der Begnadigung er gottinger politischen Gefangenen der vn Seidensticker, kanzleiprocurator Laubinger undvr. pbil. Brauns bislang ausgeschlossen. )or einigen Tagen ist dem Letzter» auf sein Ansuchen der Nest seiner Strafe im Wege der Gnade erlassen worden. Jedoch hat er sich vor- ;er verpflichten müssen, nach Amerika überzusicdeln und nie wieder n daS hannoversche Land zurückzukehren. Diese Bedingung erscheint, gegen die geringe, dem 0r. Brauns geschenkte Strafzeit verglichen, >art (er war zu acht Jahren Gcfängniß verurthcilt und würde dem nach im August nächsten Jahres auf freien Fuß gekommen sein). Ver- muthlich aber hat er für die ewige Verbannung aus der Heimat da- >urch entschädigt werden sollen, daß ihm eine für den Lebensunterhalt ziemlich ausreichende jährliche Unterstützung von der hiesigen Regierung zugefichert worden ist. Das Begnadigungsgesuch der HH. Seiden-