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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeranons- Preis 22! Sgr. (j Thlr.) rierteltährli», L Tdlr. für das ganze Jahr, ohne Er tz Shu ng, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumerirt auf diese- Beiblatt »er Allg. Pr. StaatS- Zeitung in Berlin in der Expedition (Friedrichs-Straße Rr. 72); in der Provinz so wie im AuSlande bei den Wohllöbl. Post-Aemiern. Literatur des Auslandes. -oD' 142. Berlin, Montag den 26. November 1838. Frankreich. Demoiselle Rachel und die klassische Tragödie. Im 'Nwütre-fxsil^sis tragt sich jetzt etwas Unerwartetes, im höchsten Grade Befremdendes zu, etwas, das eben so sehr dis Verwunderung des Publikums erregt, als es die Theilnahme der Kunstfreunde in Anspruch nimmt. Die Tragödien Corneille'« und Racine's, welche seil zehn Jahren kein Mensch mehr sehen wollte, erscheinen wieder auf dem Repertoir und — finden Bei fall- Niemals war der Zudrang zum Theater so gewaltig, selbst nicht in der Bsüthezeit Talma's. Von der Gallerte bis zum Orchester herab werden alle Plätze besetzt; Stücke, welche sonst nicht SM Francs eintrugcn, bringen jetzt SOVO Francs ein, und, was fast noch mehr sagen will, die Horazier, Mithridaie, Ctnna finden aufmerksames Gehör und lauten Beifall, ja, man weint sogar in der Andromaque und in Tancred. Schlimm genug, werden Manche sagen, daß man sich dar über wundern muß; indeß ist cs nun einmal nicht anders, und man kann kaum in Abrede stellen, daß eine gänzliche Gleichgül tigkeit gegen die sogenannten klassischen Stücke cingelrelcn war. Aus diesem Grunde sind auch Viele der Meinung, daß die augen blickliche Gunst, deren sich die Aufführungen auf dem Thvürre- kianyai« zu erfreuen haben, nicht von Dauer seyn werde. Da diese Stücke nun schon seil langer Zeit nicht mehr besucht wur den, so gicbl es Leute, für welche dieselben den Reiz der Neu heit haben und welche sic im Foyer wie neue Vaudevilles bcur- theilen. Ls stehen sich so zwei Parteien gegenüber; die Partei gänger der klassischen Tragödie verkünden laut eine Revolution oder richtiger eine Restauration der Tragödie und betrachten den Rvmannsmus schon als vollkommen überwunden; die andere Par tei, welche an die modernen Melodramen und Spekiakelstücke ge wöhnt ist, geralh in Hitze — ob zum Scherze, oder weil es ihr wirklich Ernst mit der Sache ist, möchte schwer zu entscheiden seyn — und scheint nicht übel geneigt, die alten Zänkereien zwischen der alleren und neueren Schule wieder aufzuwärmen. Und wer Hal alle diese Wunder bewirkt? Ein junges, sieb zehnjähriges Mädchen, die keine andere Lehrmeisterin als die Natur gehabt zu haben scheint. Demoiselle Rachel, denn von dieser ist hier die Rede, wäre eher klein als groß zu nennen, und diejenigen, welche sich eine Theaier-Königin nur mit einer muskulösen Halsbildung und quantitativ bedeutenden Körper reizen vorstellen können, werden sich also getäuscht sehen, denn Demoiselle Rachel's ganzer Wuchs ist nicht dicker, als ein Arm von Demoiselle Georges. In ihrer ganzen Haltung, in ihrem Gesichlsausdruck, in ihrer Aussprache tritt eine außerordentliche Einfachheit, die unverkennbarste Bescheidenheit hervor. Ihre Stimme ist durchdringend und in leidenschaftlichen Momenten höchst energisch; ihre feinen Züge, welche in der Nähe einen liefen Eindruck machen, verlieren sehr in der Entfernung; im Uebrigen erfreut sie sich keiner festen Gesundheit, und etwas längere Rollen greifen sie sichtlich an. Erwägt man nun das Aster dieser jungen Schauspielerin, und bedenkt man dann, wie wesentlich die Erfahrung und Uebung für den Schauspieler sind, so muß man doch etwas zweifelhaft werden, wenn man eine so jugendliche Gestalt als Hermione und Monime auftreten sieht. Welchen Schatz von Erfahrungen und Empfindungen muß man »ich, in sich bergen, um so verschiedenartige und leidenschaftliche Rollen darstellcn zu können! Demoiselle Rachel besitzt keine Kenmniß des Theaters, und in ihrem jugendlichen Alter kann sie auch noch keine große Lebens erfahrungen gesammelt haben. Demnach hätte man sich nur ge wärtigen können, eine mehr oder minder richtige Declamation, ivie sic dieselbe etwa im Konservatorium erlernt hätte, bei ihr zu finden, und dennoch ist dem nicht so. Vor Allem dcklamirt sie nicht, sondern sic spricht; sie braucht, um den Zuschauer zu rühren, weder die traditionellen Gesten, noch das wülhende Ge schrei, mit welchem man jetzt einen solchen Mißbrauch ireibt; sie bedient sich nie der verbrauchten Mittel, die so selten ihren Zweck verfehlen, der gewaltsamen Kontraste, denen zu Liebe der Schau spieler oft zehn Verse aufopferi, um ein Wort besser hcrvorzu- heben; überhaupt läßt sie gewöhnlich die Stellen, welche die anderen Schauspieler zu Effektstellcn machen würden, ruhig vor- ubergchen. Immer erregt sic den Enthusiasmus des Publikums gerade in den einfachsten, unbedeutendsten Versen, immer da, wo man es am wenigsten erwarten sollte; zuweilen erzittert das ganze Haus von einer elektrischen Bewegung, und lauter Bei fallsruf bricht überall hervor, wenn Demoiselle Rachel zwei ganz gewöhnliche, man könme sagen prosaische Verse rezitirt. Ihr Zauber liegt in der Sprache des Herzens zum Herzen, in der Wärme ihrer Empfindung, und diese kann man weder durch Unterricht, noch durch Studium erwerben, sondern muß sie einer höheren Eingebung, einem prophetischen, unerklärlichen Instinkte, der das Richtige unbewußt trifft, zuschreiben. Dies aber ist die Eigemhümlichkeit des Genies, das wir Demoiselle Rachel unbe denklich beilegen können; sie ist nichts weniger als ein vollendetes Talent, und in dieser Beziehung bleibt ihr noch viel zu thun übrig, besonders muß sie noch fleißig studircn, aber sie besitzt ein an geborenes Gefühl des Schönen und Wahren, und sie birgt in sich den himmlischen Funken, den die Gottheit ihren Lieblingen schenkt. Wir wollen hieran einige literarische Fragen knüpfen und zunächst denjenigen, welche in der Rückkehr des Publikums zu den klassischen Stücken nichts als eine Modesache sehen, ganz kurz sagen, daß sie sich irren. Freilich drängt man sich aus keinem anderen Grunde zur Andromaque, als weil Demoiselle Rachel die Rolle der Hermione übernommen hat; aber was ist das beste Stück auch ohne eine gute Besetzung? Nicht minder irren wohl diejenigen, welche glauben, daß das Wiederaufleben der klassischen Tragödie dem Romantismue eine tödtliche Wunde schlagen werde. Das romantische Drama ist einmal da, es hat seine Meister und Vorbilder und eröffnet seinen Anhängern eine weite Laufbahn; es Hal längst festen Fuß gefaßt und wird schwerlich wieder ver drängt werden können. Die eingefleischten Klassiker schreien be ständig über den Verfall der Kunst, weil sie Stücke, die nicht nach ihren beschränkten Prinzipien gemacht sind, Glück machen sehen; aber vom Verfall der Kunst kann gar keine Rede seyn. Alle die Ungeheuerlichkeiten, die man heutzutage auf der Bühne erblickt und welche das Publikum aus seiner Gleichgültigkeit auf rütteln sollen, die auf einander gehäuften Unwahrscheinlichkeiten, der Luxus der Decoraiioncn und Kostüme, das wüthende Geschrei der Schauspieler beweisen in der Thal nichts Anderes, als daß man auch nach Shakspeare'S und Calderon'S Vorbilde schlechte Stücke machen kann. Wer wollte aber hierauf einiges Gewicht legen, wenn er nur einen Augenblick an die Sündfluih matter und geistloser Tragödien denkt, mit denen die Verehrer Racine's und Corneille's das Theater überschwemmt haben? Shakspeare'S und Calderon'S Namen strahlen nicht minder herrlich, als die des Sophokles und Euripidcs. In die Fußstapfen jener traten Göthe und Schiller, nach diesen vermeinten sich Corneille und Racine zu bilden. Die Einen haben ihren Geist in dreifache Fesseln geschlagen, die Anderen sind dem kühnen Fluge ihres Genius gefolgt. Warum, möchte ich fragen, Hal man überhaupt beide Gat tungen, die romantische und die klassische, einander gegcnüber- gcstellt? Ist denn der menschliche Geist so beschränkt, daß sich der Bewunderung einer Vortrcfflichkeil immer die Verdammung einer anderen zugesellen muß? Kann man nicht Raphael, nicht Mozart preisen, ohne Rubens, ohne Rossini zu steinigen? Als einst der arme La Motte in Paris den Vorschlag machte, Dramen in Prosa und ohne die gebräuchlichen Eigenheiten zu schreiben, schauderte Voltaire in Ferney zusammen und schrieb den Schau spielern des Königs, dies wäre der schrecklichste Gräuel in Mel- pomenens Tempel. Als Victor Hugo in unseren Tagen mit ehrenwerihem Muche diesen Versuch wieder aufnahm, wurden zahllose Pfeile gegen ihn abgesendet. Aber er hat, wie Du- äueSclin, selbst die Sturmleiter angelegt; jetzt ist der Friede ge schlossen, die Burg ist erobert, und dennoch wollen beide Parteien keinen Nutzen daraus ziehen. Dies führt mich zu einem schwer zu entscheidenden Punkte, nämlich zu der Frage, welche Aufgabe der klassischen Tragödie zufallcn würde, wenn sie neben dem romantischen Drama wieder einen Platz gewönne? Ohne uns eine befriedigende Lösung dieser Frage zuzuirauen, wollen wir dieselbe wenigstens hinstellen und einige Vermulhungen darüber äußern- Die Geschichte der Tragödie und die Hauptgestaliungen der selben sind zu bekannt, als daß es nülhig scheinen sollte, bei den selben zu verweilen; vielleicht ist es aber für unseren Zweck nicht überflüssig, einige Andeutungen über den Unterschied der antiken und modernen Tragödie zu geben. In fast allen antiken Trag»-