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Nummer ivv — 26. Jahrgang l wüch. «ezug^re«, für Juli SM Mk. einschl. 20 L. bei Uebersenbung durch di« Post außerdem Portozuschlag. Einzel-Nr. 10 Gonntags-Nr.SO L. Belckättlicher Teil: Artur Lenz in Dresden. ÄicklMe Mittwoch, den 13. Juli 192', Im Fall« höherer Gewalt erlischt seö« verpflicht»»! auf Lieferung sowie Erfüllung v. Anzeigenausträgen u. Leistung v. Schadenersatz. Für undeuil. u. d. Ferm ruf üdermitt. Anzeigen übernehmen wir keine Vev» anrwortuna. Unverlangt eingesandte u. m. Rückport» nicht versehene Manuskript« werd. nicht aufbcwahrt. Sprechstunde der Redaktion 2—3 Uhr nachmittag» Hauptschriftleiter: Dr. G. Desesvk. Dresden. volfsmtung Druck «<ve»l«ck! Oermanla. sür Verlag »ad Druckerei, Filiale Dresden. Dresden-«, t, Polierstrnsle N. FernnilüwlL. Postscheckkonto Dresden »7U3. Bankkonto: «tadtbau» Lre«d»n «r. 6171« Für christliche Politik und Kultur Stedaktio» der »itchsischen ivolkszeituna Dresden-Mstadt l. Poiierftratze 17. Fernrus SMil und ,1012. Ketteler Ein Gedenkblatt zum 50. Todestage am IS. Juli. Bon Johannes M umbauer. Erklärungen Chamberlains über bte Drekmüchte - Konferenz unb -en Konflikt «tt Rußland — Kein Work über die Rheinlanbfrage London, 12. Juli. Im englisch:» Unterhaus hat gestern eine grosse Aus sprache über die Anßeiipvlitik stattgefunden. Sie wurde ei,Mietet durch den Abgeordneten P on sonbh (Arbeitsr- pwvtoi). Er bemerkte, niit Locarno sei nur cke Periode Heuer SPrnnungen eingelcitet worden. Die Opposition wünsche, den Standpunkt der Regierung in der R äu - mungs frage kennen zn lernen. Die englische Diplo matie gegenüber Rußland sei von der Geschicklichkeit eines Elefani'en. Die Arbeiten der vorbereitenden Abrüstungs kommission gäben keine Hoffnung auf Abrüstung im Frieden. Chamberlain versicherte gegenüber diesen Angriffen mit Nachdruck, dvh es die Politik Großbritanniens sei, sich mit den ehemaligen Feinden auszusöhnen, jeden Anlaß zu Meinungsverschieden heiten unter den Nationen zu beseitigen und Konflikte auf friedlichem Wege bciznlrgcn. Das sei nicht allein vir Poli tik Großbritanniens, sondern auch bicjenig« von Frankreich und Deutschland, und, wie er hoffe, von allen beteiiligteni Regierungen. Die allgemeine Atmosphäre sei gegenwärtig friedlicher als vor drei Jahren. Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich ük».>r die Aechtunz de.s Krieges würde Großbritannien nur begrüßen. Er hoffe, daß zwischen den Bereinigten Staaten und England der Krieg bereits in Acht erklärt fei, und zwar in dem Herzen eines jeden Bürgers der Heiden Staaten. Di« Besprechungen mit Mussolini brauchten keinen Grund zum Mißtrauen zu geben. Wenn die Staatsmänner verschiedener Länder eine Uebereinstimmnng ihrer Ansichten über die Erhaltung des Friedens zu finden suchten, so soll man hei ihnen keine niedrigen Intrigen vermuten. Eine solche Einstellung sei «ine der schädlichsten internationalen Jrrtümer. — Ueber bi« russisch« Krage sagt« Ehamherlain: Keine Regierung in Europa stcht unter dem faschen Eindruck, daß Großbritannien sich bemüht, einen antirussischen Block zu bilde». Die europäischen Staa ten -rauchen kein« Kritik ober Eifersucht von der britischen Regierung zu befürchten» menn sie kich bemühen, ihre eigenen Beziehungen zn Rußland zu verbessern." Neher die Verhandlungen in Genf seien ganz falsche Gerücht« verbreitet worden. Er sei in Genf von den zur Botschaft.'rkonferenz gehörenden Mächten und von Deutschland ersucht worden, eine Erklärung über die Gründe abzugehen, di« zum englisch-russischen Bruch geführt hätten. Er, Chamberlain, Hab: den Herren die Gründe mitgeteilt, die dem Hause wohlbekannt seien, nämlich, daß die Be ziehungen abgebrochen wurden, weil sie durch Mißbrauch zu einer Gefahr statt einer Garantie für den Friede» ge worden feien. Er habe aber zum Ausdruck gebracht, dach England beabsichtig:, die Fortsetzung des Handels zu er möglichen und nicht wünsch:, die Differenzen auf die Spitze zn treiben. Die Drel-Mächte-Konferenz berechtige trotz aller Schwierigkeiten zu der Hoffnung, daß sie zu einer wesentlichen Verminderung der Rüstungslasten führen werde. Die englische Delegation sei mit einem festen Plan nach Genf gegangen. Die Annahme dieses Planes würde in den kommenden Jahren für England allein eine Ersparnis von 50 Millionen Pfund Sterling (1 Pfund Sterling -- 20 Reichsmark) ermöglichen. Es sei undenkbar, daß England in einen Rüstunaswettbewerb mit den Ver einigten Staaten eintreten würde, dazu seien dis traditio nell:» Beziehungen der Heiden Länder viel zu gut. Chamberlain schloß feine Ausführungen über die See- konfevenz: England sucht nur den besonderen Schutz, den es bei seinen geographischen Verhältnissen braucht. England hat nur Vorräte für zwei Monate, und es würde eine Hungersnot entstehen, n»enn di« Leeverbindnngen unter brochen würden. Ich hoffe und glaube, daß die Coolidae- Konfevenz zu einem wirklichen Fortschritt bei der Be grenzung des Wettrüstens führt. Die ganze britische Außen politik gründet sich auf die Unterstützung des Völkerbundes und aus die Berufung an den Völkerbund als letzte Instanz. Das Ziel unfever Politik ist die Sicherheit des Frieden« für uns und die anderen. Bemerkenswert an der Rede Chamberlains ist, daß er es vermieden hat, mit mehr als allgemeinen Wendungen an die Frage der d e ntsch - fra n zö sis chen Beziehun gen zu rühvrn. Kern Wort über die Räumungsfvage, obwohl der Redner der Opposition gerade darauf singe- gangen war. Kein Wort über die deutsche Entwaffnung, deren restlose Vollendung durch die Besichtigung der zer störten Unverstände im Osten bestätigt woroen ist. Di« schönen Worte täuschen nicht darüber hinweg, daß England entschlossen ist, auch nicht das kleinste reale Opfer für die Idos der Locarno-Verträge bringen will, daß es vielmehr aus dem in Locarno aeM"ssencn System möglichst viel Vorteil ziehen möchte. Man könnte fast auf den Gedanken kommen, England habe ein Interesse an der Auf rechterhaltung der Rheinlandbesetz ung, weil es dabei immer wieder Frankreich gegen Deutschland aus- spielen kann. Die Haltung Chamberlains in der RheinilaNd- krage bestätigt uns in der Auffassung, daß die Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen nur fruchtbar wer ben kann durch direkte Fühlungnahme und nicht durch Maklerdieust« Englands, das dabei letzten Endes nur seine eigenen Jntevesserr wahrnehmen will. Mit ehernem Klang tönt der Name Ketteler in unsre so ganz und gar nickt mehr eherne Zeit hinein und weckt die wehmütige ErinMrung an die versunkene Heldenzeit des deutschen Katholizismus, dessen Bannerträger und Prophet er war — und wohl heute noch sein könnte. Es war ein Schlag für die deutschen Katholiken, als der große und tapfere Mainzer Bischof am 13. Juli 1877, also vor nunmehr 50 Jahren, auf der Heimreise von Rom im stillen Kapuzinerkloster Burghausen in Bauern ziemlich unerwartet starb. Durch Jahrzehnte, seit dem er als Pfarrer von Hopsten und Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung 1848 im Mainzer Dom die Predigten über „diegroßensoziaten Fragen derGegenwart" gehalten, seitdem er für kurze Zeit als Propst von St. Hedwig den großen Berliner Diaspora-Delegaturbezirk verwaltet hatte, und vorzüglich seitdem er 1850 Bischof von Mainz geworden war. galt er, der westfälische Adelssproh von echtem Schlag, als der anerkannte Wortführer und Vorkämpfer in allen öffent lichen Bewegungen der Katholiken, man darf wohl sagen ganz Deutschlands, in denen deren kirchlich-religiösen In teressen, Anliegen und Sorgen zum Ausdruck kamen. Man hat in den gegenwärtigen Gedächtnistagen viel und gut geredet und geschrieben über seine Anschauungen und seine Stellungnahme auf den verschiedensten Gebieten des öffent lichen Lebens: man hat seine Bedeutung als Kirchenfürst und Seelsorger, als Kirchenpolitiker, Staatspolitiker, auch als Schriftsteller u. dergl. dargelegt. Diese Auffrischung seiner Grundsätze und praktiscl)en Auffassungen und Ent scheidungen wird auch heute noch manchen Nutzen stiften können: denn was den Kettelerschen Geist auszeichnet, ist die stets unverrückbar und klar auf das Prinzipielle Hin gerichtete Art dieses Tat Menschen. Manches davon, was nur zeitbedingte Geltung hatte, ist heute natürlich über holt. aber die immer im Religiösen und Ewigen veran kerten Grundlagen sind überraschend frisch: und wenn man heute liest, wie der Bischof ihre Auswirkung vorausgesehen und vorausverkündet hat, erscheint er uns wahrhaftig wie ein Prophet. Aber die wesenhafte und unvergängliche Be deutung und Werthaftigkeit Kettelers sür unsere Tage scheint mir doch in seiner gesamten, so überaus einheit lichen und komplizierten Persönlichkeit zu liegen. Wir sind ja viel zu reflektiert, zu klug und zu vor sichtig geworden, als daß unser heutiges Geschlecht solch markigen Gestalten wie einen W. E. v. Ketteler Hervorbrin gen könnte. Wir sind durch den großen Krieg gegangen, und alle Energie unserer Generation scheint da in einem jähen Impuls emporgeflammt, aber damit auch verpufft zu sein; nun sind wir müde und matt und resigniert ge worden . . . Nach dem Ausweis der Geschichte können nur große, starke, ungebrochene Persönlichkeiten so be schaffene sinkende Epochen wieder emporreißen: und Ket teler war eine solche Figur, die das vermöchte. Nach den Anschauungen der heutigen einseitigen Anbeter des In tellektes und des Aesthetischen war der Mainzer Bischof kein Genie, er l)at in dieser Hinsicht unverkennbar etwas Gemäßigtes, Nüchternes, fast Simpeles an sich, die Geste des Uebermenschen stand ihm nicht an. Es ist auch in ge wissem Sinne richtig, was Fritz Vigener, der auch von Katholiken fast ohne Einschränkung gepriesene, pro testantische Biograph Kettelers, bis zum Ueberdruß her vorhebt. daß der Bischof eigentlich keine einzige absolut neue Idee in die Welt gebracht habe — zugegeben: er war der große, wirksame Verwerter, der Einordner der betreffenden Staats- und Sozialgedanken ln den viel höheren metaphysischen Zusammmenhana der religiösen Kräfte, der Fruchtbarmacher im katholisch-kirchlichen Um kreis und damit der Erhöher und Erweiterer dieser viel leicht vor ihm schon gedachten Gedanken. Aber er hat mehr und Größeres getan, denn er war mehr und grö ßer als ein bloßer talentierter Mann der Wissenschaft, der Politik usw. Er war ein ganzer Mann, ein wirk licher Adeliger, ganz und gar Held, er war vor allem von Kopf bis zum Fuß Bischof. Der Mann, der Adelige, der Held, der Kirchenfürst, sie rechnen nicht, sie s i n d etwas und geben sich rückhaltlos der Sache hin, der ^ sich geweiht haben. Das ist das ganze Geheimnis der Persönlichkeit Kettelers. Nachdem er sich in ernster Wahl für den Dienst der Kirche entschieden hatte, gab es für ihn kein Schwan ken mehr, sein ganzes Wesen ging in dieser Entscheidung Mit all ihren Konsequenzen auf, und aus seinem für ihn so unendlich einfachen Verhältnis zu Gott und der Kirche Lina nun ohne weiteres, seine Einstellung zn allen übri» gen Gebieten des Lebens wie selbstverständlich hervor. Der genannte Vigener wundert sich ein wenig, daß Kettelers Staats- und Sozialausfassung von kirchlichen Inter essen beeinflußt gewesen sei. und daß seine politische Wirksamkeit und soziale Betätigung seelsorgeri schen Zwecken gedient habe. Mir scheint, daß das die selbstverständlichste Sache von der Welt sei; denn wenn einer als ehrlicher Mann Bischof wird, dann muß er auch überzeugt sein, daß die ewigen Dinge über den zeitlichen stehen, daß die Seele, ihre Würde und ihr Heil über das Leibliche und Materielle gehen, daß auch das Staatswesen und die Wirtschaft dem göttlichen Sittengesetz unterwor fen sind, und daß es daher Ausgabe der Kirche (also buch stäblich „Seelsorge") ist, auch ihren Bereich mit dem Lichte der ihr anvertrauten christlichen Wahrheit zu erhellen. Ketteler war aber, wie gesagt, ein wirklich ungebrochener Mann: deshalb machte es ihm kein Kopfzerbrechen, das unverwischte Christentum ausalle irdischen Verhältnisse anzuwenden: er kannte gewisse „Hemmungen" intellek- tualistisch oder gar intuitionistisch infizierter moderner „Kulturkatholiken" nicht. Dieser ungebrochene katholische Mut ist uns über allen möglichen Bedenklichkeiten viel fach abhanden gekommen. Bei Ketteler war er duräzaus nicht etwa Beschränktheit, sondern floß aus seiner ein heitlichen Mannhaftigkeit. Diese gab ihm den Elan zu seinem konsequenten unerbittlichen Kampf gegen den ver rotteten kirchenseindlichen Liberalismus und den liberali- stischen Geist mit seinen Auswirkungen auf allen Lebens- gebieten, gab ihm auf Grund seiner organischen Gemein schaftsidee die Kraft zum unerschrockenen Eintreten für die Rechte der Enterbten, da» heißt der besitzlosen, der Herrschaft des „ehernen Lohngesetzes" ausgelieferten Ar beiter, machte ihn zum „Vater der katholischen Sozialreform . Diese wesenhafte Mannhaftigkeit gab ihm aber auch das wahrhaft christlich-freiheitliche Selbstbewußtsein als Katholik und als Bischof, der von der Würde seiner Gotteskindschaft sowohl wie des ihm von Gott verliehenen Hirtenamtes stark durchdrungen war; er war kein serviler Liebediener und scheute sich nicht, auch der höchsten kirchlichen Stelle gegenüber sich auf das Recht seines Gewissens zu berufen: Als er auf dem Vatikanischen Konzil sich von der Opportuni tät der Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit als Dogma nicht überzeugen konnte, machte er seine Beden ken offen gegen Pius IX. geltend und entzog sich der Ab stimmung. um dann freilich, als die oberste kirchliche In stanz gegen seine Auffassung entschieden hatte, sich ebenso loyal und rückhaltlos ihrem Spruche zu unterwerfen - der treueste Sohn der Kirche und des Papstes. Heute wäre ein solcher Fall kaum mehr denkbar: Wir haben auf der einen Seite die Halbkatholiken, die sich mit allerhand Vorbehalten helfen, auf der anderen die Hyperkatholiken, die in ihrem Drang zum Extrem püpstlicker sein wollen als der Papst, selten aber finden sich die Ganzkatholiken, die Christ und Mann zugleich sind: und auf ihrem Man gel, auf dem Fehlen jener religiösen Reife und Selbstän digkeit. die Paulus den Christen wünscht, beruht wohl die geringe geistige Stoßkraft und Siegesenergie des heu tigen Katholizismus . . . In diesen Tagen der geistigen Perwirrung und der inneren Krisen, de» feigen Ausweichens und der müdei» Resignation, der charakterlosen Taktik des Als-ob und -