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WtchtnMch erscheinen drei Nnmmcr». PränumerationS- Vrei« 22^ Sgr. «j Thtr.» vierteäxbrlich, Z Tblr. s»r ds» ganze Jahr, ahn« Er^ hihung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. z i n für die Man priinumerirt auf diese« Beiblatt der Allz. Pr. Staats- ZeiMng in Berlin in der Expedition lM-hren - Strake R». Z4>; in der Provinz so wie im Auslande bei den WohllSbl. Post'Aemtcrn. Literatur des Auslandes. 57. Berlin, Mittwoch den 1Z. Mai 1835. England. London, Paris, Brussel und Haag. Von einem Engländer. Der Mensch, indem er der Gegenwart überdrüssig ist, Hoffl gar zu' gern und zu rasch von der Zukunft das, was sie ihm nicht gewährt. Ich halte mir immer von unserer Reform eine so lebhafte Vorstellung gemacht, meine Hoffnungen auf die mit ihr zu gleicher Zeit in die Well tretenden Fortschritte und Verbesserungen waren so enthusiastisch, daß ich jetzt die enttäuschte Einbildung, meine betrogene Phantasie kaum zu beruhigen vermag. Ich Halle geglaubt, daß England das Wort Re form nur aussprechen dürfe, und alle Dinge um uns her werden von selbst, wie von einem magischen Zauberstabc plötzlich berührt, und alle unsere Wünsche in einem Nu in Erfüllung gegangen sehn; nichts schien mir leichter, als dies. O, welche Täuschung! Dieses London, das die Reform mit ihrem Lichte aufhellen und erheitern sollte, ist seil dem Tage ihres ersten Er scheinens nur noch düsterer und langweiliger geworden, als je. Es gicbl hier nichls als politischen Zwist; au Lust und Vergnügen ist gar nicht mehr zu denken. Lie allen Englischen Originale fangen an zu ver. schwinden. Unser Landedclmann hat das, was an ihm lächerlich war, schon ganz verloren, und der echle Whig von allem Schlage ist kaum noch beim ersten Blick oder am ersten Worte, wie sonst, zu erkennen. Aus allen Gesichtern und Physiognomieeu hat sich ein trüber Ernst ausgeprägt, der selbst in unsere Ballsäle sich einzuschleichcn gewußt. Pferderennen, LicbeS-Intriguen, Eheprozcssc und Börscn-Speculatione», alles dies spielt jetzt nur eine untergeordnete Rolle gegen die neueren Interessen der modernen Welt. An unserer Börse spekulirt man nicht mehr auf Stocks, Prämien oder Wechsel: vielmehr sind der Triumph der Whigs und die Niederlage der Tories oder die Wiedereinsetzung des vorigen Ministeriums die einzigen Gegenstände, die alles Uebrige in Beschlag genommen. Unsere Korporationen reiben sich unaufhörlich an einander; der Kramer hält patriotische Rede» an die große Masse, und der alle Adel, der sich dem Siege schon so nahe wähnte, sieht sich mit einem Male von allen Seilen angegriffen und bedrängt, und verzichtet nunmehr auf alle fröhliche Feste, um sich den ernsten Klubs anzu- schließen, während Hume, Cobbett und O'Connell auf der anderen Seite ihre Reiben in Schlachtordnung bringen. In Folge dieser unaufhör lichen Kämpfe und Reibungen kann cs gar nicht fehlen, daß man den Vergnügungen und Lustbarkeiten am Ende ganz entsagt; auch liegen die Theater in England schon seil längerer Zeit danieder, und die Englische Lilcralur ist, wenn auch nicht in Verfall, so doch in Stockung gc- rathen. Ich versuchte es, mich aus dem Kreise dieser fieberhaften Bewe gungen und politischen Wirren Londons herauszureißen. In Paris schien mir anfangs die allgemeine Lebhaftigkeit und das bunte Treiben der verschiedene» Parteien und Interessen ein noch aufgeregteres Schau spiel darzubiclen. Allein nur zu bald gewahrte ich meinen Irrlhum. Denn was zeigte sich mir im Hintergründe aller dieser Theorieen der Beweglichkeit, was waren die Hebel dieser so geräuschvollen und lär menden Declamalioneu? Nichts als Eigennutz und niedriges Interesse. Bei den Politikern Frankreichs bandelt es sich darum, hier einen Ra men zu erhöhen und dort einen hcrabznsetzcn, ein Portefeuille anzuneh- men oder auSzuschlagen. Alle Streitfragen und wichtige Debatten lassen sich hier immer auf einige wenige Eigenname» rcduziren. In den Kammern inqnirirt und diskutirt man ohne Ende, lediglich, um die Massen zu ermüden. Der wahre König von Paris ist in meinen Augen das Vergnüge». Die ernste schwermütbige Maske, die Du dort er blickst, verbirgt nichts Anderes, als die zügellosesten Genüsse; überall, wo Du nur hinfichst, versinkt man sich in die rauschendsic Sinnlich keit, mag man sich immerhin frei zu ihr bekennen, oder sie so viel als möglich zu verhüllen suchen: mit jedem Tage steigt der Luxus in merk würdiger Progression immer höher; nur hat man in Paris, sonderbar genug, das Leben in zwei mit einander ganz kontrastircnde Hälften gc- theilt; den einen Theil, nämlich acht Monate im Jahre, bringt nian aus dem Lande'm einfacher philosophischer Zurnckgezögcnhcit und Spar samkeit zu; aber die übrigen vier Monate verlebt man in geräuschvol lem Jubel, in Sans und Brans, indem man Assembleen ans Assem bleen und Bälle auf Bälle folgen läßt. Das Englische Leben in den Jahren von I81S bis I82N war bloß ein Abglanz der bei der Pariser vornehmen Well »och heutzutage bestehenden Tagesordnung. Nur die Geschäftsleute und die Krämer vou Paris sind es, die beständig in der Stadl bleiben, wo ihre Inlereffen sie beschäftigen, und diese Klaffe allein ist es auch, welche die Residenz in der schönen Jahreszeit »och belebt. Die Hauptstadt Frankreichs macht nicht wenig Geräusch mit ihrer Politik, mit ihrer Depulinen-Kammer, mit den großen Weltbegebcnbei- len, die sie in Bewegung bringt, und den Parteien, die dort den Bür gerkrieg beginne», gerade so wie England mit seinen artistischen und literarischen Unternehmungen, seine» großartigen feierliche» Moden und glänzende» Bällen. Beides ist indessen nichts als eine Lüge. Denn der Ernst ist es, der in England herrscht, so wie das Vergnügen allein Paris beseelt. Das Ernsteste und Wichtigste, das ich in Paris gesehen, war das Bedürfnis sich zu amüsircn. Paris würde gern vierzig seiner politischen Redner sür einen Lablache und zweihundert Minister für Mademoiselle Grisi hingeben. Die Bonmots des Herrn Dupin, die Epigramme des Herrn von Tallehrand und die Boutaden des Herrn Thiers amüsiren die Französische Hauptstadt weit mehr, als das politische Benehmen aller dieser ausgezeichneten Männer; denn hier ist es vor Allem darum zu thun, zu wissen, ob die neue Oper von Bellini besser oder schlechter ausgefallen ist, als sein Pirat. Man braucht nur zwei Tage dazu, um dein Geheimniß der Pariser Wclt und seiner wichtigen Geschäfte auf die Spur zu kommen. Der einzige Feind, de» man hier zu vertreiben sich bceiferl, ist die Langeweile; man würde eine Bürger krone demjenigen verehren, der sich lächerlich genug zu machen wüßte, um Paris länger als vierzehn Tage zu belustigen. Alle Arbeite» der Gelehrten von Frankreich, das Geschrei seiner Advokaten, das Genie seiner Kunstler und die unendlichen Wettkämpfe seiner Journalisten, Alles ist auf das eine Ziel des Amüsements hingerichtet. Als ich den Grund alles dieses Treibens erforscht, als ich das Lede» der Pariser Welt genugsam durchschaut hatte, begab ach mich nach dem Ministerium des Auswärtigen, ließ meinen Paß visircn und reiste ab. Leb wohi Paris! Du Stadt des Vergnügens, die du, trotz aller deiner Prätensionen, doch dem Ehrgeize, der Zntrigue, der Wissenschaft, der Politik und dem Reichlhum immer nur den zweiten Rang ange wiesen hast! Was ist dein wahres Streben, dein ernstes Ziel und dein geheimer Gedanke? Nichts anderes als die Sinnenlust, das Vergnügen. Vergeblich drängt sich die Politik dir auf mit ihrer gerunzelten Stirn, mit "ihren dürren oder schwollrcichcn Worten; vergeblich bemühst du dich, in ei» ernstes Kostüm dich zu hüllen: du bist und bleibst ein glänzendes wollüstiges Weib, magst du dich auch in den Mantel des Philosophen hüllen oder hinter der Maske des Einsiedlers zu verbergen suchen. Ich hatte sechs Wochen in diesem ewig stürmenden Rausche zugebracht und wohl erkannt, daß Niemand hier das denkt, was er sagt, noch auch an das denkt, was er sagen will. Trotzdem hatte ich mich in dieser Hauptstadt der Lust gar wohl befunden; mit Hülse des Ro- chcr de Cancale, des Italiänischen Theaters, der Konzerte des Konser vatoriums, der Promenaden im Bonlogner Gehölz und einiger anderen nicht erst zu erwähnenden ZerstrkuungSmiltcl batte ich nicht ohne Ver gnügen bemerkt, daß das Wese», dem man hier Alles ausopferl, und das von den Philosophen das Ich genannt wird, in Paris ganz glück lich und i» voller Blülhe besteht. Jndeß rief mich meine Neugier wieder fort von hier, und ich hatte ein Land zu bereisen, das zu denen gehört, die am öftersten beschrieben worden sind; es war ein bekannter Weg, die große Heerstraße aller Europäischen Reisenden. Ich reise gern da, wo schon viele vor mir gereist sind. Abhssinicn würde mich weniger intercsstren, als der Hyde- Park zu London. Es macht Vergnüge», die Eindrücke, die ein bekann ter Gegenstand auf uns macht, mit denen eines Gecken, eines Schön geistes oder denen eisses Duckmäusers zu vergleichen. Da, wo einer von diesen Reisenden einen Riesen gesehen, erblicken wir vielleicht einen Zwerg. Dort der kleine Kanal, den das Auge kaum entdeckt, wird unter der Feder irgend einer jener Blaustrümpfe in England zum Nil oder zur Lonau. Aus dieser großen Heerstraße bat der" Belgier seinen Bierrausch auSgeschlafen, der Holländer seine Pfeift geraucht, der Pari ser politistrl imd der aus der Umgegend der St. Pauls-Kirche vertrie bene Engländer ruhig geschlummert, während er zu reift» geträumt. Wer i» fremde Gegenden reist, hat freilich nachher freies Spiel, er darf und muß ost lügen wie ein Poet, und seine Leser sind gezwungen, ihm überall blindlings zu folge». Wir, mein theurer Leser, wollen lieber die der Wclt bereits geläufige, allgemein bekannte Straße mit einander vas- sireii. .Wir begeben uns leichten Schrittes dahin in Gesellschaft einer klei nen korpulenten und-hübschen brünetten Frau mit kleine» Füßche» und en gen Schuhen; ferner mit einem vierzigjährigen Militair mit einem hölzer nen Beine und einem hübschen kleinen Mädchen, das zu de» Füßen seiner Mutter aus einem Sessel Platz genommen. In Frankreich