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M. »» Mittwoch, 5. V»z»md«r I«S Drahtanscksrift: Nacbrichtkn Dresden Fernsprecher- Lammelnummer: 2524 l Nur für Nachtgespräche Nr. LOOll Echrfttleitung u. HauptgeschäUSsteNe: Lretden-A. L. Marienstrabe 38/42 Nezug-gebühr vom 1. bi« 13. Dezember 1928 bet täglich zweimaliger Zustellung Hau« l.70 Mk. Postdez,igSprei« für Monat Dezember 3.40 Mk. ohne Postzustellungsgebühr. Einzelnummer 10 Pfg. Äuberhalb Dresden« 15 Psg. Anzeigenpreise: Die Anzeigen werden nach Goldmark berechnet: die einspaltige 80 mm breite Zeile 55 Psg., s,ir au-waris 40 Pfg flamilienanzeigen und Llellen- gesucht ohne Rabatt 15 Pfg., auherhalb 25 Pfg., die 90 mm breite Reklamezeile 200 Pfg., auster- halb 250 Pfg. Lfsertengebühr 30 Psg. Auswärtige Aufträge geger Vorausbezahlung Druck u. Verlag: Lievsch ^ Reichardt, Dresden. Poskscheck-Kto. 1088 Dresden Nachdruck nur mit deutl.Quellenangabe lDresdn. Nachr.) zulässig. Unverlangte Schriftstücke werden nicht aufbcwahrt E> kr8lkla85ig65 ^SStSUI-LlM lägiie^ 4 Isnr-Iss „Vsrbsrins" s^i-sgsr TtrsrlZs k^sitbsdnstk-sl3s V38 clSt' /^til'9kti0si6ti aller Welt ..Der Anschluß bedeutet Kriegsgefahr Brian- beglückwünscht sich zu Locarno - Er -ul-ot keinen Selbstmord Oesterreichs Aiißenttbatte ln »er Mil« Kammer Paris. 4 Dez. Die Kammer begann heute vormittag die Beratung dcS Budgets des Außenministeriums. Abg. Lou - licr sGruppe Marinj erläuterte den Bericht über diesen Budgettitel, wobei er die Stellen hcrvorhob die sich gegen den Anschluß Oesterreichs an Deutschland richten, Er forderte die Revision des Betrages der Schulden Frankreichs, sowie Anfrcchterhaltnna der Besetzung des Rhciulandes als Zahlnngö» und Friedensgarantie. — Im Namen der radikalen Partei sprach der srüherc Unterrichts- ministcr Francois Albert. Sr bekchwört Briand. jetzt ein LItlocaruo zu schassen, das nötig sei. da Deutschland noch immer Pläne schmiede, sei es hinsichtlich des Rnschlusics cesterreichs. »er vesritignng des Danzigcr Korridors oder ochtesiens. Sr befürchte, dost der Versailler Bertraa. der den llnschlvß Oesterreichs »n Deutschland verhindern sollte, wie ein Spinnetz zerreiben könnte. Brianö wcndet ein. er habe vor einer Versammlung, auf der b2 Nationen vertrete» wäre», daraus hingcwiese», das, darin eine ernste Bedrohung siir den Frieden liege» würde und eine ungeheure Mehrheit der Bcrsammlung habe seine» Worten zngcsttmmt. — Albert erklärt daraus, diese Be drohung sei tatsächlich vorhanden, zumal in Deutschland nicht nur die Alldeutsche» sür den Anschlnh seien, sondern sogar der deuische Sozialismus. — Briand erklärt, er sei überzeugt, daß ma» deutscherseits die R ü ck s t ch t a u s d e n F r t e d c n <!j über alle anderen Erwägungen stellen werde. — Albert äuficrt dann die Befürchtung das, vielleicht die Politik des Vatikans den Anschluß Oesterreichs an Deutschland günstig beurteilen könnte, um einen katholische» Block in Mitteleuropa z» schassen — Briand wendet ein: Wie würde der Zeitige Stuhl gleichgültig das Verschwinden eines Landes wie Oester reich mit aniehen können, das, vom katholischen Standpunkt gesehen, eine unvergleichliche mnstiiche Kraft darstcllt? — Albert erklärt, die Politik dcS Heiligen Stuhles könne zwar widerspruchsvoll erscheine», aber sic könne sehr wohl i» einem doppelten Spiel bestehe«. Nicht nur die katlwlischc» Leitungen in Deutschland sprächen sich günstig sür den Anschluss n»S, sondern auch die Protestanten. Albert appelliert an die französischen Sozialisten, sic möchten die deutschen Sozialisten dazu bringen, ans den Anfchkustgedankcn zu vc z'chtcn. Albert fordert zum Schlich den Außenminister Briand aus. alle diplomatischen Watten zu benutze», um den Anschluß zu verhindern, dem vor allem Italien nicht hinnehmen könne, und der die fürchterlichsten Kriegsgefahren schäfte» würde. In der NachmIttagSsißnng der Kammer wurde die Be ratung über das Budget des AußeniniilisteriiimS fortgesetzt, yi» Namen der sozialistischen Fraktion erklärte der Abg. Bracke, er und seine politischen Freunde seien für die Räumung des Rheinlands s. In dicker Hinsicht müsse er erklären, daß die Politik des Ministers des Acnsteren ihn vollkom men enttäuscht habe. Er müsse insbesondere daran er- inner«, daß der französische Außenminister Deutschland vor- gcworsen habe cS sei wegen seiner industriellen M a ch t c i n e G e f a h r f ü r d e n F r i e d e n. Man müsse am Friede» verzweifeln, wenn ma» ihm nur unter der Bedin gung Herstellen zu können glaube, den wirtschaftlichen und industriellen Aufschwung aller Nationen z» verhindern. Als Minister Briand hier elnivars. er habe das niemals getagt, erwiderte Bracke: Sic haben das alles dem deutschen Reichskanzler Hermann Müller in Gens vorgchalten. Daraus ergriff Minister des Aeußcren, Brian». das Wort. Er erklärte: Jedes Jahr, das vorübergehe und in dem ma» den Krieg habe vermeiden können, bringe die Hoss- nnng, daß Eurova niemals wieder einen Krieg erleben werde. Diesem Ziel müsse man alle Anstrengungen widmen. Bracke hat eine tendenziöse Kritik an meiner Rede in Genf geübt. Eine gewisse Propaganda batte die Deutschen dahin ge bracht. anzu-chmen, cs wäre möglich, schon setzt Dinge zn erzielen, die eben noch nicht erzielt werden können. Meine Rebe hat einen Presicsturm in Deutschland hervor- gerusen: aber schon einen Tag nachdem Ich sie gehalten hatte, ist die Kaltblütigkeit tn Gens wieder zur Gel- tung gekommen, Verhandlungen sind cingeleitet worden, und ich habe mit Reichskanzler Müller Angc tn Auge ge sprochen. Ich hatte nicht den Eindruck, dast der Reichskanzler jede Hossnnng verloren hatte, und es schien «tr auch nicht. daß er außerordentlich verzweifelt gewesen ist. Im übrigen darf man meiner Genfer Rede nicht de» Lin» geben, den sie nie gehabt hat. Ich habe nur geantwortet, weil der Reichs kanzler mit viel Mäßigung nicht weniger gesagt habe, als daß Briand eine doppelseitige Politik betreibe. Die gesamte deutsche Presse sagte am anderen Tage: Nun hat Frankreich endlich die Morte gehört, die man sagen mußte. Briand spricht alsdann von der Locarnopolitik. I» Dentschland habe man erklärt, sie habe Bankrott gemacht, während sic tatsächlich einen Erfolg erzielt habe. Man habe den Pakt »o» Locarno etwa io dargestellt, wie den Hut eines Zauberers, aus dem mal, alle möglichen Gegenstände hcrvor- holen könne. Sr habe »olle Hoffnung z« dem Pakt von Locarno, den Frankreich gewissenhaft respektiert habe. Keinerlei Bedingung sei vor dem Abschluß gestellt worden, n»d als Reichskanzler Dr. Luther ihm im Laiise der Verhand lungen ein Memorandum libcr die deutschen Wünsche habe »»tcrbrcitcii wollen, habe er es nicht in Empfang genommen, damit er keine Verpflichtungen überiiel'mc, die er nicht halten könnte. Jetzt aber, nachdem er nach der Unterzeichnung Kenntnis von den deutschen Wünschen genommen habe, müsie er erklären, daß diese Probleme in ihrer Gesamtheit dnrch- aesührt worden seien und daß Frankreich nach dem Pakt von Locarno alle dentschen Wünsche erfüllt habe s?i. Es sei in, Rheinland ein Regime errichtet worden, das nicht mehr den selben Eharaktcr trage, wie früher. Kein gutgläubiger Mensch könne dies ablengnen. Deutschland habe aus Locarno einen großen Nutzen gezogen, der viel größer sei, als es ihn vor den Vcr, Handlungen über den Pakt erwartet habe. Er beglückwünsche sich dazu, der französische Außenminister ge wesen z» sein, der diese Entschlüsse gefaßt habe. Als der Reichskanzler in Gens den Wunsch ausgesprochen habe, Ver handlungen mit Frankreich über das Rheinland cinzulcitcn, habe sich Frankreich zu diesen Verhandlungen bereitcrklärt. Aber man habe nicht vergessen dürfen, daß Frankreich nicht allein sei und nicht das Recht habe, isoliert diese Frage zu dis kutieren. Die Vertreter der Alliierten seien zusammcn- getre^cn, und Reichskanzler Müller habe zu ihnen gesagt: Deutschland hat das Recht, die sofortige Nhciulandräumung zu fordern. Frankreich und England haben darauf mit dem Vertrage in der Hand geantwortet: Das ist nicht richtig, Deutschland hat dieses Recht nicht. Briand spricht alSdan» von der Einsetzung militärischer Kontrollmissionen. ES handele sich hier nicht um eine Militärkviitrollc im eigent liche» Sinne dcS Wortes. Die in Locarno vorgesehene Kon trolle ziele ans die Schaffung von Ansgleichsansschnssen ab, die in der Lage wären, die Schwierigkeiten zn lösen, die zwischen zwei Ländern entstehen, ohne daß sic vor dem Völker- b»»d gebracht weide» würden. Das wäre ein Ziel, das man zn erreichen wünschen müsse. Nriand beschäftigt sich dann kurz mit der Abrüstung zur Sec und dem französisch-englischen Flottenkompromiß sowie den sraiizösisch-italienischen Beziehungen, und beant wortet schließlich die Ausführungen des radikalen Abgeord neten Francois Albert über die Anschlußfrage. Man könne den Anschluß nicht durchführen ohne Zustimmung des Völker bundes. Die Nationen vor eine vollendete Tatsache zn stellen, wäre ein ernster Akt, eine Uebcrraschuna dieser Art könnte Rückwirkungen auf die Ausrechterhaltung des Friedens haben. Wenn es auch berechtigt sei, wie man das ia getan habe, vom Sclbstbcstimmnngsrecht der Völker zu sprechen» so habe man niemals das Selbstmordrecht der Völker ins Auge gefaßt. Wenn in einem Lande nenn Zchntel der Bevölkerung es auf den Selbstmord abgesehen habe und als Nation verschwinden wolle, und wenn nur ein Zchn'el der Bevölkerung diesen Gedanken ablehne, und an den Tradi tionen sefthalten «olle, dann habe man nicht das Recht, dieses eine Zchntel z« züiinger», den anderen zu folgen. Briand appellierte schließlich an das europäische Gewissen des öster reichischen Rolkes, damit es nicht unter Berkcnvnng der gegen über dem Nölkcrbund und gegenüber den zivilisierten Natio nen übernommenen Verpflichtungen den Weltfrieden störe. Als Briand seine Rede beendet hat. wird er von den anwesenden Ministern und fast von der gesamten K a m m e r b c g l ü ck w ü n sch t.- Zwei Botschafter Manchmal scheint es, als ob die englische Politik, die kei uns seit Jahrzehnte» wegen ihrer sprichwörtlichen Klugheit und Folgerichtigkeit in höchstem Ansehen steht, jeden Sinn und allen Zusammenhang verloren Halle. Chamberlains überraschende Erklärung gegen jede Nhcinlandräumung ist wieder ein Beispiel jenes Zickzackturses. der in den Räumen des Foreign Office altcnglische Traditionen über den Hausen wirst. Kurz nach der Rede des Premierministers Baldwin, der die Räumung, ohne aus die Rechtsfrage weiter einzugehen, znm mindesten als sehr erwünscht und in der Logik der internationalen Politik liegend bezeichnet halte, dieser Gegen, schlag seines Außenministers, der alle Hoffnungen zerstört, daß England in den kommenden Rheinlandverhandlungcn die Vermittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland spielen werde, die es jahrelang angcstrebt und nach Locarno auch eine Zcitlang ausgciibt hat. „Im Schlepptau Frank reichs!" Das ist LaS Motto, das die englische Presse leibst über diese Phase der kritischen Außenpolitik gesetzt hat — für England sowohl wie für Deutschland ein klägliches Ergebnis vierjähriger Chamberlainscher Ncgicrungökunste. Was vvm dentschen Ncchtsstandpunkt ans zu der neuen Rheiiilaiibthesc Ehambcrlains zu sagen ist. wurde hier bereits ausgesprochen. Natürlich ändern seine Spitzfindigkeiten keinen Titel an unserem Recht und kein Jota an unseren Forderungen. Aber das läßt leider die Tatsache unberührt, baß sich im Hinblick ans die kommenden Verhandlungen die inlcrnattonale Lage weiter z» unseren Ungnnsten gewandelt hat. Zum Verständ nis der englischen Schwankungen aus ihren Ursachen und zur Beurteilung dessen, was wir weiter von dort zu erwarten haben, genügt cs nicht. Ehambcrlains plötzliche Sinnesände rung zur Kenntnis zu nehmen: man muß einen tieferen Blick in die Werkstätte der britischen Außenpolitik werfen. Es ist ja bekannt, wenn auch nicht genügend gewürdigt, das; die Minister mit den glänzenden Namen von Weltklang — wie das Dreiblatt Chambcrlain, Briand. Stresemann — nicht ausschließlich, sa vielleicht nicht einmal hauptsächlich die unter ihrem Namen laufende Politik machen. Unter ihnen zwar, in Wirklichkeit aber doch »eben und mit ihnen, arbeiten ihre hohe» Beamten, die Staatssekretäre, die vom Wandel der parlamentarischen Ereignisse unberührt bleiben und darum einen »m so stärkeren Machtsaktor bilden und über die kommenden und gehenden Kabinette hinaus die Kontinuität der Politik ihres Landes verkörpern. In Dcutsch- land ist i» diesem Sinne Herr v. Schubert mehr als die rechte Hand StrescmannS, in Paris hält Philippe Bcrthclot seinen impulsiven Meister Briand in Poincarös Richtung an der Stange. Und im Londoner Außcnamt herrscht seit Jahrzehn ten der Geist Sir William Tyrrells, des Unterstaats- sekrctärs von Sir Edward Grey bis zu Ehambcrlain. Frei lich mit einer Unterbrechung von E0 bis 1N2ö, wo sein Gegenspieler Lord b'Abcrnon als Botschafter in Berlin die britische Außenpolitik inspirierte. Aber in dieser Unter, trechnng und in ihrem Ausgang liegt eben die Tragik der englischen NachkriegSpolittk, die Schuld an ihrem jetzt auch in England erkannten Mißerfolg. Zur rechten Zeit erscheinen eben setzt die Memoiren Lord d'Abernons, die auf diese Entwicklung ei» klärendes Licht werfen. Der ehemalige Botschafter in Berlin bricht mit der Gewohnheit, das, Diplvmatcnerikiiicrungen erst nach dem Tode ihres Verfassers erscheinen dürfen, wen» über ihn und seine Werke längst das Gras gewachsen ist. Als Lebender hat er den Lebenden noch vieles z» sage», und so wird aus der Schilderung der von ihm verfolgten Politik eine Anklage »nd ein vernichiendes Urteil der jetzigen. WaS er erzählt, bestätigt ja nur. was man schon ahnte und wußte: aber als Bestätigung aus seinem Munde sind diese Tatsachen gerade jetzt von Wichtigkeit. Im Jahre 1»2Ü, als Frankreich wür gend über das wehrlose Deutschland hcrfallen und das Reich sür immer zerreißen wollte, da dämmerte tn den Köpfen der englischen Staatslcitcr zum ersten Male die Erkenntnis, daß sie mit dem Krieg eine Nlescndummheil gemacht halten, weil die Grundlage aller britischen Politik, das Prinzip von der lmlsnoo ok power, das durch den Krieg geschützt werden sollte, gerade durch ihn zerstört worben war An Stelle der gefürch teten deutschen Militär, und Seemacht mar die sranzösischc Hegemonie über Europa getreten und drohte mit ihrer Un ersättlichkeit noch unangenehmer z» werbe». Da schickte Lord Enrzon als Premierminister kurz entschlossen einen Außen- sciter, Lord dAbcrnv», als Botschafter »ach Berlin mit der ganz bestimmte» Ausgabe, von dort aus die europäische Politik ans den Auges» zn heben. Und Lord d'Abernon hat dies»