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Wöchentlich erscheine» drei Nummer». Priimunerations - Prei» 22H Sitbergr. (^ THIr.) nierrcijöhriich, Z Tdtc. für das ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. M Literatur agazin für die Plammu'rülioiicil ,Herten von jeder Buchhandlung jiu Berlin bei Veit u. Coinp., Iagctftrasre N». 2k>), wie von aU.n Kolügl. Post-Aennern, angenommen. - d c s A usln n d c s. 88. Berlin, Dienstag den 23 Juli 1844 Frankreich. George Sand, eine Charakteristik. Wer die breite Heerstraße verläßt, um nach eigenem Ermessen auf neuer, selbstgeschaffener Bahn vorwärts zu dringen, im bürgerlichen Leben sowohl als auf dem Gebiete der Wissenschaft und Kunst, der muß sich darauf gefaßt machen, von allerlei Leuten, berufene» und unberufenen, Vie allervcrschiedcn- artigsten Zurechtweisungen, bald mitleidige, bald grobe, zu erfahren. Die Kritik, welche mit der bürgerlichen Polizei oft an Urbanität und Scharfsinn wetteifert, wird nicht ermangeln, ihn auf das Regelwidrige und Unverständige seines Verfahrens aufmerksam zu machen, und nur Wenige werden auf die natürliche Frage verfallen, ob der Verirrte denn auch wirklich ein Verirrter sep und nicht vrelmchr guten Grund gehabt habe, die Heerstraße mit Absicht zu verlassen. Ein solcher bedauernswürdiger Verirrter ist nach dem Uriheil der Meisten George Sand; einer der verhältnißmäßig seltenen Kritiker, die nicht nach der bloßen einzelnen Erscheinung, sondern nach der Reihenfolge der Erscheinungen und ihren Gründen urtheilen, ist Paul Nochery, welcher in der von George Sand selbst gegründeten tievue i»<I,F>«»ü<>i>te, doch, wie es scheint, durchaus unabhängig von der berühmten Schriftstellerin, ihre ge- sammte schriftstellerische Laufbahn zu würdigen versucht. Der Roman (so beginnt unser Kritiker) ist die populäre, die demokratische Form des Gedankens. Die reine Idee kann nur philosophischen Köpfen ge- fallen; um in weiten Kreisen zu wirken, muß sie Fleisch und Blut annchmen. Daher die Fluth der Romane, welche künftig nur wachsen, nicht abnchmen kann. Die Griechen saßen horchend um den Rhapsoden; die Nachkommen Aga memnons, Achill s und Ulysses' brauchten Kämpfe der Götter und Heroen. Die gepanzerten Ritter des Mittelalters lauschten dem fahrenden Sänger oder dem eigenen Genossen, dem Kunstdichtcr, wenn sie Karl's und Arthur'S und ihrer Paladine Thaten verherrlichten. Aber schon war ein anderes Element eingedrungen; eS herrschte nicht mehr allein die physische Kraft, denn unter dem Panzer schlug ein christliches, ein germanisches Herz. Wir, des Christen thums Söhne und der Philosophie, wir erbten von ihnen das neue Element der Liebe und bildeten es aus zu höherer Vollendung, wir stellten an den Platz der rohen Gewalt die Macht der Idee. DaS Mittelalter war versunken mit seiner romantischen Herrlichkeit, die kräftigen Geschlechter waren vergangen, die Liebe zur raffinirtcn Galanterie auSgeartct; aber die Götter sterben nicht. Mitten unter der verderbten Ge sellschaft baute Rousseau Juliens Altar. Von diesem Tage an wurde die wahre, gewaltige, tugendhafte, bis ans Grab unerschütterliche Liede be griffen. Das Ideal des Mittelalters kam wieder, schöner und segnender, als eS je geleuchtet hatte, denn eS wurde nun die Grundlage des Verhältnisses des Mannes zum Weibe. Ein Mann hatte den fast erstorbenen Funken zum Hellen Feuer wieder an. gefacht, aber in Sachen der Liebe, ist da nicht die Frau der nolhwcnbigste Theil? Sie ließ lange auf sich warten. Rousseau war der einzige gefühl volle Schriftsteller des >8ten Jahrhunderts; Frau v. Stabl, reicher an Kopf als an Herz, wurde nicht seine Erbin. Der Platz an Rousseau s Seite blieb leer bis auf George Sand. Die Liebe! ist der wahre Titel ihrer Schriften, die Liebe der Wegzeiger auf ihrem ganzen Pfade. Die ewige, die himmlische Liebe war George Saud's Ideal beim Anfänge ihrer Bahn, aus ihr allein wollte sie den Tempel der Ehe gründen. Sie hatte im eigenen Leben, sie hatte an Anderen das traurige LooS der meisten Ehen, das Elend der Frauen hinreichend erfahre». 3m Feuer der Jugend, in der ersten Begeisterung für das Wahre und daS Schöne will man nur kämpfen, nur siegen, kennt keine Hindernisse, keine endliche Schranke; denn im Bcwußtsepn, das Rechte zu wollen, begreift inan noch nicht, wie es möglich sepn kann, sich den Verhältnissen unterzuordnen, sich in die Menschen z» schicken. Die Wahrheit lieben und verkündigen ohne Zorn, in ruhiger Hoffnung, und von künftigen Jahrhunderten die Erfüllung der heißesten Wünsche sicher erwarten : diese Höhe des Geistes ist erst das Er gebniß langer, bitterer Jahre. DeS Ideals erste Offenbarung ist der Kampf. So begann Venn auch George Sand mit zwei Büchern, in denen die Macht und Vie Rechte ver Liebe ausgesprochen unv durch »lehr oder minder direkte Angriffe gegen eine Einrichtung behauptet werden, von der sie nur zu oft mißkannt worden sind. Sie malte die Liebe zuerst tief, heimlich, ergeben, geduldig, in Ralph; dann kräftig, überströmend, wütheud, i» Benedikt. Nun schrie man, daß sie die Abschaffung der heiligsten Einrichtung, die Um kehr der menschlichen Ordnung predige, daß sie sich selbst bis zur freien oder besser gemeinen Frau gewisser Sektirer verirrt habe. Wen der Verfasserin ausdrückliche Versicherungen des Gegenlheils nicht beruhigten, Ler hätte bei ein klein wenig gesunder Ucberlegung finden müssen, daß man bei dem in jeder Zeile hervortretenden Sehnen nach einer ewig dauernden, ewig bren- ncndcn Liebe Mann und Weib nicht zu einem vorübergehenden Bande vcr- urtheilcn kann, ohne in den gröbsten Widerspruch zu gcrathen; der hätte be merken müssen, daß, mit Ausnahme Jndiana'ü (wo die fantastische Lösung eben sowohl die künstlerische als philosophische Unerfahrenheit der Verfasserin bezeugt), die Ehe daS Ziel aller ihrer Helden ist. Aber freilich, eS verniögcn nur Wenige, Dogma und Religion, Faktum und Prinzip zu unterscheiden. Meint man unter George Sanb's Angriffen auf die Ehe die Mißbilligung jener aus unlauteren, aus zeitlichen und endliche» Absichten, gleich einem Geschäft, abgeschlossenen Vcrbinvungen, dann ist cs unnütz, sie zu verlhei- digcn; behauptet man aber, daß sic bic Möglichkeit ciuer dauernden Ver einigung von Mann und Frau geleugnet, so handelt man unverständig, ab geschmackt. Die unauflösliche Vereinigung zwcicr Herzen, Vas ist eben der Traum George Sands. Träume? — Ja wohl^ göttliche Träume, ohne welche die großen Seelen nicht leben können. Aber diese Träumer leitcn die Welt. Diesen göttliche» Typus der Liebe in ihrer vollkommenen Macht und Reinheit, so wie sie sepn muß, nm die Vereinigung zu gründen, aus welcher die Familie entspringt, hat George Sand in ihren ersten Schriften freilich noch nicht erreicht. Noch ist das Herz, der Enthusiasmus zu übermächtig. Da sie bei den Männern Kraft ohne Gerechtigkeit, und Brutalität und EgoiS- muS findet, und glaubt, daß die Ursache dieser Fehler in der ungleichen Stellung, in den Gesetzen, oder vielmehr in den ungerechten Einrichtungen einer Gesellschaft liege, welchc Alles von. der Frau und nichts vom Manne verlangt, so träumte sic eine Liebe, die von einem Austausch gleicher Reich- thümcr, von vollkommener Gegenseitigkeit lebte. Das ist ein Jrrthum. Denn die Frau gicbt stets mehr, als sie empfängt. Leben und lieben ist zweierlei für den Mann, für die Frau unterschiedslos. Der Mann denkt und liebt, die Frau liebt und denkt. Vollkommene Gleichheit in der Liebe ist mit hin unmöglich. Mit Lclia endet der erste Abschnitt, der des Kampfes, der Ungewißheit, der Verzweiflung, und eS eröffnet sich eine neue Bahn des Vertrauens und der Ruhe. Lelia schließt zugleich den skeptischen Zirkel der Gegenwart, zu welchem Faust, Manfred, Nenv, Obermann gehören; Wissen und Liebe sind die Halbkreise, welche sich zusammensügcn. Aber die Gränze dcü Satzes ist eben so die Gränze des Gegensatzes, und aus dem letzten Schrei der Ver zweiflung beginnt sich die Harmonie der Beruhigung aufzulösc». Verdienten diese Bücher den Vorwurf der Unsittlichkeit? Bei denen frei lich, die Alles behalten wollen, um Alles zu besitzen, bei denen, die jede Veränderung als einen Raub an ihnen und ihren Erben betrachten, bei denen, die gern die Welt in ewigen Schlaf wiegen möchtcn, um in ihrer Ruhe nie mals gestört zu werden, bei denen, die dem Kranken, wenn er schreit, einen Knebel in den Mund stecken wollen. Aber eS ist vergeblich ; hört die Dichter, sie weissagen euch die Zukunft, sic erläutern euch die Gegenwart, sic schütteln euch aus trügerischer Ruhe. Nicht die Ideen sinv gefährlich, denn sie erheben; gefährlich, unsittlich ist nur das, was den Grist und die Kraft des Willens niederdrückt. Die Ketzer des einen Jahrhunderts wurde» noch stets die Evan gelisten des folgenden. George Sand war aus ihrem engen unv einsamen Pfade bis zur Ver- zweiflung Lelia'S, bis zum heroischen, aber unfruchtbaren Selbstmorde Jacques' gelangt; sie begriff jetzt, daß der Gesellschaft etwas fehlte, um diese Liebe dauernd, um die Männer reiner und die Frauen würdiger zu machen; sie war zu der EntwickclungSstufe gekommen, die das französische Volk eben selbst »ach der Ueberwiadung des lktcn Jahrhunderts erreicht hatte. Im l8ten Jahrhundert hatte die absolute Herrschaft des nüchternen Verstandes zwar den Aberglauben dec vergangenen Zeit zerstört, aber auch den Menschen vcrurtheilt, ewig am Bove» zu krieche», ohne Enthusiasmus, ohne Ideal, ohne Größe. Wissen schien des Menschen einzige Bestimmung zu sepn. Voltaire, Montesquieu, Helvetius, Diderot wetteifern an Geist und Witz, aber sie sind Alle kalt wie Eis. Das Herz war gestorben, die Welt war leer. Die Erben des reichen Schatzes im litten Jahrhundert begriffen crst, daß, wie der gött liche Platon lehrte, die Seele nicht einen, sondern zwei Flügel hat, daß der