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Wöchentlich erscheinen drei Nummer«. Pränumeration» - Preis 22j Silbergr. lj A>e.) vierieljahrlich, Z Air. sm da« ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Pränumerationen werde» non jeder Buchhandlung (in Berlin bei Veil u. Eomp., Zagenlraßc Nr. 25), so wie von allen Königs. Post-Aemtern, angenommen. Literatur dcs Auslandes. 123. Berlin, Mittwoch den l8 Oktober 1843. England. Orfordcr Briese an Ov. S ... l. Von F. Lebrecht. >. Die Bodleiana. Wenn Sie, wie so viele andere Leute, gern die frohen Ergüsse des de. friedigten Wunsches eines Glücklichen lesen, so darf ich nicht fürchten, daß Ihnen mein Schreiben unwillkommen scy. Schwerlich giebt cS auf dem Erd balle ein glücklicheres Land als England, der Stolz Englands aber ist die älmi, mster Orford: die Zierde dieser erhabenen Stätte der Wissenschaft ist die Bodleiana, und ich habe seit gestern mein Tageslager hier auf- geschlagen ! Heute vor acht Tagen stand ich noch neben Ihnen in der König!. Bibliothek zu Berlin, und heute stehe ich neben den Kustoden der Orfordcr Bibliothek. Meinen schönen Zweck vor Augen habend und stets nur in Ge danken mit den Mitteln beschäftigt, durch welche ich ihn am sichersten und schnellsten erreichen kann, eilte ich durch London, das ich zum ersten Male im Leben betrat, gleichgültig wie ein Barbar gegen alle Sehenswürdigkeiten, Theater, Kunst und Politik, auf der Eisenbahn hierher, stellte mich eine Stunde nach meiner Ankunft dem gutmüthig-freundlichen Ober-Bibliothekar Bandinel vor und zog nach der mit ihm genommenen, für meine Absicht sehr günstige» Rücksprache in eine Privatwohnung, fünfzig Schritte von der Bodleiana entfernt. ' Ich werde, lieber Freund! in diesem Briese nur von der Bibliothek sprechen und selbst bei dieser nur von einem Zweige der Literatur aus führlich scpn; dagegen denke ich von der herrlichen Stadt der Paläste mit ihren ('»Ilezox und IlsII«, von ihren 0u>vu8i»e» und 'l'ovriummii') später zu sprechen. Nur darf ich den Eindruck nicht verschweigen, welchen der Anblick der Stadt von fern und noch mehr beim Eintritt aus mich ge macht hat. Wer noch im Besitze jener Fähigkeit ist, die uns die Wissenschaft wegen ihres erhabene» Selbst und wegen ihrer heilsame» Vergöttlichung des Menschengeschlechts lieben lehrt, den ergreift beim Anblick einer fern vom Residenzen-Geräusche so in stiller wissenschaftlicher Wirksamkeit dalicgendcn Muscnstadt immer eine von Sehnsucht nach dem Höheren getragene Rührung. Als ich im vorigen Jahre die Thürmc der Stadt Halle erblickte, die ich seit meinem akademischen Leben daselbst nicht geschaut, da befiel mich eiue unaus sprechliche Wehmuth, ein Gefühl, wie es der verlorene Sohn bei der Heim kehr an der Schwelle dcs Vaterhauses haben mußte. „Warum", sprach ein innerer Vorwurf, „mußtest du die beseligende Zurückgezogenheit dieser Stadt gegen den übermüthigen Lärm der Hauptstadt vertausche»!" Ei» fast gleiches Gefühl überwältigte mich, als ich hier in die so lieblich einsame, zwischen fruchtbaren Hügeln und plätschernden Gewässern so feierlich auSgegoffene Stadt einzog und dabei auch au Halle und Berlin dachte. Die Ver gleichungen, die ich in ruhigeren, von erhitzter Phantasie unabhängigen Augenblicken anstcllte, brachten mich immer zu dem Schlüsse, daß das wahre Dissen und der wahre Fleiß mehr in Universitäten der Provinz zu suchen find. Hier schreitet die Muse wie eine hehre Jungfrau in antiker ü->nct-> rämpiicitax einher, geführt vom Genius der geweihten Wissenschaft, in dessen schönem Bunde sie Gaben schafft und vcrtheilt. Bescheiden und edel, denkt sie zuerst an die ihr gewordene Bestimmung, »»v erst wenn diese erfüllt ist, steigt sie zur Menschwerdung in die Kreise des bürgerlichen Lebens, um dessen frohe Genüsse zu theilen und zu würzen. In Residenzen dagegen erscheinen uns die meisten Musen gewöhnlich in der Gestalt verschmitzter Zofen oder geputzter Schauspieldirnen, in deren Gemüth Reinheit der Natur ein Fremdling und in deren Auge Einfalt der Sitte Lächerlichkeit ist. Ja, um trockener zu sprechen, der Gelehrte der ländlichen Stadt hält die wissenschaftliche Thätigkeit für seine» Lebenszweck, und die unschuldigen Freuden der Gesellschaft, die hei tere» Wohlthate» der Freundschaft und die häuslichen Genüsse sind seine Erholung; in der Residenz findet mancher Gelehrte ein Erholungsstündchcn nur in seinem Ttudirzimmer, indem er die sich drängenden Genüsse, die er den Tag über auSzustehen hat, unterbricht und hinter verschlossene Thüren Aus unseren Universitäten giebi'S endemische Bürger oder Studenten und Spieß- bürger oder Philister, in Orford, wo sich da« ganze Personal der Universität, Professoren, Studenten :c., durch besondere Kleidung, x»,,-»,, von den Bürgern unterscheide«, hat sich die Assonanz wie von selbst gebildet. flicht, um, übersättigt uud verstimmt, irgend eine für morgen nothwendige AmtSrolle einzustudiren. °) Was von den respektive» Gelehrten der in Vergleich gestellten Städte ge sagt ist, das findet auch bei der studircnden Jugend seine Anwendung; daher der aus dieser Lebensart nothwendig entspringende Unterschied, daß an dcm tinen Orte alle jene Wissenschaften erleuchtete und glückliche Pfleger finden, welche ein ernstes, mühevolles Studium voraussctzcn, cm dcm anderen Orte dagegen nur viel und prunkvoll, unter stark geschnürten Phrasen und mit Weisheit auf Kredit raisonnirt wird. Geist, Forschung, Tiefe und fort schreitende Entwickelung liegen in dcin Fleiße des Provinzial-Gelehrten; Geist, fortschreitende Entwickelung, Weltanschauung u. s. w. sind geläufige Worte zwischen den Lippen dcs RcsivenzlerS. Verzeihen Sie, lieber Doktor, diesen Abstecher, ich kehre gleich wieder in die Bodleiana zurück. Bei der Beschreibung von öffcntlichcu Bibliotheken hat man bisher immer nur die Nebendinge angegeben, die Hauptsache aber verschwiegen. Die Be schreibung des Gebäudes und die Zahl der Bücher war Alles, was man in Handbüchern und Rciscbeschreibungcn berücksichtigt fand, obgleich das erstere ganz gleichgültig, die zweite ganz unzuverlässig ist. °°) Das Wichtigste für den Leser aber, der sich überhaupt für Bibliotheken intercssirt, ist der Reichthum der Fächer und Vie Zugänglichkeit. Ich werde daher nicht erzählen, daß das Gebäude der Bodleiana einen Theil der sogenannten 8c>uml-- auömacht, und daß seine Form wie die eines liegenden römischen kl aussicht, sondern, in« Sinne künftiger Benutzer, von den Tagen und der Art der Benutzung sprechen. Wie wünschenswcrlh es für den auswärtigen Gelehrten ist, die rechte Zeit zu kennen, wann ihm an der zu besuchenden fremden Bibliothek zu arbeiten ver gönnt ist, das mag folgender tragt-komischer Fall beweisen, der sich hier in Orford selbst zugctragcn. Einer meiner Freunde aus Oesterreich (wo die Re gierung keine Unterstützung für solche wissenschaftliche Forschungen bietet), ein Märtyrer seiner Untersuchungen, hielt sich vor einigen Jahren in Hamburg auf, wo er, obgleich ganz unbemittelt, auf eigene Kosten die reiche Hand schriften-Sammlung der Stadt-Bibliothek untersucht und crcerpirt. Zur Vervollständigung eines Resultates wäre ihm noch die Vergleichung einer Handschrift in Oxford nöthig. Er hatte vor seiner nothwendigen Rückreise zur Oestcrreichischen Militair-Gränze nur noch wenige Wochen und noch weniger Thaler übrig. Doch sein Eifer flößt ihm Muth ein! Er rafft seine letzten Zehrpfennige zusammen, eilt durch die Nordscc, fragt bei seiner Landung in London nur: „Wo ist der Weg nach Orfords" kömmt dort glücklich an und fragt bei seiner Ankunft: „wo ist die Bodleiana?" Er eilt durch die schöne Higl« mroet, ohne auf Menschen oder Häuser zu sehen; sein Herz pocht unter der süßen Last der Erwartung, sein Gesicht sprüht Flammen der Freude, so glücklich am Ziele zu seyn. Er steht am Eingänge seines Elysiums, und schon legt er die Hand an den Klingelzug, da Gott, wer malt die Ver ¬ steinerung! da stürzt ein dienstfertiger Diener hervor und ruft: „8top « little 8>r! Wo lmve Viwmwvn!" — „8top s little!" „vueaiiee.'i!" konnte diesem noblen Sonderling ein größeres Unglück zustoßen? ES wäre ihm aber nicht zugestoßen, hätte er genauer gewußt, an welchen Tagen die Bodleiana sich verschließt. Diese ist aber von den wenigen Bibliotheken, welche sich nur sehr kurze Ferien gestatten. Außer Sonn- und Festtagen °°°) ist sie noch eine Woche zu Anfang September, eben so lange vor der Revision geschlossen. Sie bietet also, wenn man sie mit der Vatieun» vergleicht, die auffallende Erscheinung, daß diese Römerin (die im Reichthum der orienta lischen Handschriften mit Orford rivaltsirt) kaum so viele Tage zählt, an denen sie Besuche annimmt, als die Bodleiana Tage des Verschlusses. Selbst die Aönigl. Bibl. zu Paris, sonst die liberalste in der Welt, könnte sich, in Betreff der Ferien, Orford zum Muster nehmen, vollends, da die Festtage im katho lischen Paris ohnehin die Bibliothek weniger bcsuchbar machen. Den ganzen Sommer hindurch (von Mariä Verkündigung bis Michaeli) ') Männer wie R r sind daher in ter Residenz Sonderlinge; i» der Provinz dagegen sind diejenigen Sonderlinge, welche nicht so handeln wie dieser Theologe. ") Die Berschiedcnheit der Angaben hierin geht ost weit über da« Lächerliche hinaus. Man vergleiche z. B. nur die Angaben der Bücherzahl de« Vatikan«! Es ist anch fast unmöglich, hier übereinstimmend zu zählen, da der Eine 2l> zusammengebundenc Disserta tionen für ein Werk zählt, der Andere für rr Werke. '") worunter die Zeit von Weihnachten bis zmn l. Januar. An vielen Feiertagen ist sie jedoch nach der Predigt offen.