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7L Jahrgang, St» Dvnneralag, S. Juli ISA Gegründet ISS« Dkck-t«g»Ust: N»< richte» »«»»«, Nerntprecher-Lammelnummer: SS Schl Nur für Nachtgelprtch«; 20 011 b>« Imt 102» bet tLgltch »weimnltger ZusteNuna frei Hau» t OegUgS^WeoUyr Poftbe,ug«pret» für Monat Juli ».10 Mark ohne P°st,ustel!un-«aAtU,r. »tnt«lnnmmer 1» »,««,>,. «»ßerhal» »re»»«», l» «,em»i^ Die A»«einen «erden nach «oldmark berechnet: die etnlpaltige »0 mm breite Zeile Vta-, sür au»n>Lrt» »» Psg. g-mtltenan,einen «nd LteNenne'uche ohne Rabatt Ps«., außerhalb r» Pfg., di« «0 mm breite ReNainezetle rvn Pta-, außerhalb »bl> Psg. Oltertengebühi 3» Pf,, «uswärttge Aufträge gegen «orau»be«ahlung. au» «.10 M«l» «chriftieitun, und HmiptgefchifttfieNe; Martenstr»!,« SS/ch 2 »kuck und «erlag von klepsch « »elchard« tn Trclden Postfchcck-rionto 10SS »re»»e» Nachdruck nur mit deutlicher Quellenangabe l.Dre»dner Nachr >> «uläfltg. — Unverlangte Echriltltttcke werden nicht aulbrivahrt. lZlütkr I ckKHv-klügel -Llanos krsger Strsüe 12 kernrut I637S noorr «Sir« ms»««« «Nr»« Srenm-o/' O^escken-//. Sautenec ?/co-3e 22 r»/.. sä»»«/« ckec ckeutsc/i« Hua///ütsll-oAen K?/-r/r K/rSers L 60. Xukomodlie u. /kepaeatueieieeica/at» Große Debatte im Reichstag. Scharfe Opposition -er Deulschnationalen. — Starke Vorbehalte -er bürgerlichen Aegierungsparlner. Schlechte Zensuren sür Müller-Franken. lDr-timeldung unsrer Berliner Lchristlettung.1 Berlin, 4. Juli. Der Reichstag hat heute die große politische Aussprache über die gestern abgegebene Regierungs erklärung begonnen. Als erster Redner der Parteien sprach Dr. Breitscheid. der »geschniegelt« Salonsozialist* der Mann, von dem behauptet wird, daß in seinem Herzen noch immer die ungestillte Sehnsucht nach dem Außenministerium lebe und daß er nur schwer die bittere Enttäuschung dartiber verwunden habe, daß Dr. Stresemann um jeden Preis in seinem Amt verbleiben will ... Mit dem an ihm gewohnten theatralischen Pathos legt Breitscheid dar, daß die Sozialdemo kratie alle ihre Hoffnungen auf Severing setzt, der von sich selbst erklärt hat. daß eS ihm gelungen sei. in Preußen die vaterländische Bewegung »abgewürgt zu haben*. Die große Ueberraschung des heutigen Tages bildete die Rede des Grafen Westarp. Mit jugendlicher Frische und mit einem Elan, den seine Gegner an ihm wohl nicht erwartet hätten, ging er zum Angriff auf die „siegreiche Sozialdemo kratie* vor, wies mit treffendem Witz, der mitunter wahre Lachsalven auSlöste, auf die geradezu tollen Widersprüche hin, die Herr Müller-Franken gestern als Regierungserklärung verzapft hatte. Der Reichskanzler saß sehr still und sehr ruhig auf seinem Platz, und seine Freunde in den sozialdemokratischen Bankreihen ahmten sein Vorbild nach. Sie ließen wider spruchslos das scharfe Gericht des Grafen Westarp über sich ergehen. Besonders bemerkenswert war das, was Graf Westarp zur Außenpolitik sagte: Der Reichskanzler hatte die Außenpolitik nahezu als Nebensächlichkeit behandelt, hatte resigniert auf jeden neuen Gedanken ver zichtet. Graf Westarps Frage: Gibt eS den« wirklich keine Möglichkeiten, die dentsche Außenpolitik fruchtbar z« gestalte«, sie auf neue Wege vorwLrtSznsühren? ließ Herrn Müller-Franken erstaunt aufblicken. Daran, daß eS auch in der Außenpolitik noch andere Wege als nur die nach Westen gibt, hatte er offenbar noch gar nicht gedacht. Nach Graf Westarp gibt für bas Zentrum der Abg. Per. littns eine verhältnismäßig kurze Erklärung ab. Dadurch, daß gleich eingangs die vorliegende politische Gestaltung als eine zeitliche Notlösung bezeichnet wird, und das Zentrum ausdrücklich von einer abschließenden politischen Stellungnahme absieht, distanziert sich die Partei von dem heute bestehenden Regierungsgremtum und proklamiert, politisch gesprochen, eine Politik der offenen Tür mit weitgehende« Reserve«. Ausfällig ist, welch verhältnismäßig breiten Rahmen die Notlage in der Landwirtschaft in der kurzen Erklärung ein- nimmt, ein Zeichen, baß das Zentrum seine Verluste tn der landwirtschaftlichen Wählerschaft wieder auszugletchen be- strebt ist. Auch in der Schulfrage weicht bas Zentrum um keinen Schritt zurück. Im Schlußsatz wirb dann nochmals unterstrichen, daß das Zentrum zwar seine Mitarbeit nicht versagen will, sich jedoch im einzelnen seine Stellungnahme Vorbehalte« wird. Die darauffolgende Dauer- und Jungfernrede beS zum erstenmal im Reichstag auftretenden Kommunisten Ewert tThüringenj hat den Erfolg, daß sich der Plenar- saal rasch leert und im Neichstagsrestaurant Hochbetrieb etn- setzt. Während also fast sämtliche Abgeordneten, mit Aus- nähme einiger im Saale verbliebener Horchposten, ihr Mittagsmahl einnehmen, wettert dieser neue Mann tm be kannten kommunistischen Jargon gegen die feindlichen Brü- der von der Sozialdemokratie, denen er Arbetterverrat und alle schlimmen Sachen an den Hals wirft. Die Mittagspause wird eilends beendet, als der Irak- tionöführer der Deutschen Volkspartet, Dr. Sch 0 lz, ob seiner frischen Art mit dem freundlichen Spitznamen „Bubi" belegt, die Rednertribüne besteigt. Dr. Scholz hat sofort wieder ein volles und aufmerksam zuhörendes Haus. Seine Rede ist ohne persönliche Schärfe, tn einer humorvollen Art vorgetragen und in der Form vielleicht eine der besten Reden, die heute gehalten worben sind. Auch er schließt sich in wesent lichen Punkten jenen Ausstellungen an, die Graf Westarp an der Regierungserklärung machen mußte, rühmt die epische Brette, ihre Systemlosigkett und die mangelnde Ausarbeitung wenigstens einiger wichtiger Probleme und Programmpunkte. Der Mann des liberalen Bürgertum» und der liberalen yndustrtekretse stellt deshalb das Problem der interalliierten Schuldenregelung in den Vordergrund seiner Ausführungen, und daß auf seinen Ruf zur Bildung einer Einheitsfront der nationalwirt» schaftliche» Verteidigung von rechts bis links höhnisches Gelächter auf den Bänken der Kommunisten ant wortet. ist bezeichnend dafür, welche Kirchturmgesichtspunkte doch noch im deutschen Parlament vormalten. Auch die Ver waltungsreform behandelt Dr. Scholz ausführlich und besonders die brennendste Frage: Preußen und Reich. Der Reden seien genug gewechselt... Da nehmen seine Ausführungen eine Wendung, die, wären sie nicht tn so charmanter Weise vorgetragen worden, auf der Regierungsbank sicherlich nicht unerhebliche Verstim- mungen hervorgerusen haben würde. Die Reichsregierung, sagte er. hätte gut getan, mit der Einsparungsreform bei sich selber zu beginnen. Warum so viel Minister, warum nicht nur ein Kabinett von 7 oder 8 Köpfen? Mit Vergnügen ver nimmt man ferner das volkSpartetliche Bek«nnt«iS »«m dezentralisierten Einheitsstaat, um so mehr, als ja bekanntlich in der Deutschen Volkspartet auch Kräfte am Werk sind, die einen Linkskurs zu steuern versuchen und sich in Fragen der Retchsreform bedenklich den unita rischen Tendenzen der Demokratie bis ins einzelne ange- nähcrt haben. Es sind tapfere Worte, die man über die verfehlte Erz- bergersche Steuerreform, über die Notwendigkeit, den Ländern ihre Selbständigkeit zu bewahren oder zurückzugeben, aus dem Munde von Dr. Scholz hört. Daß Dr. Scholz jetzt schon gegen Graf Westarp die Außenpolitik Dr. Stresemanns in Schutz nimmt, nimmt nicht wunder. Vielleicht, -aß er gerade dadurch die leichten Verstimmungen, die durch bas Telegramm aus Bühlerhöhe und die nachfolgende Behandlung beS Zwischenfalles in der volksparteiltchen Fraktion entstanden waren, wieder ausgleichen will. Als dann schließlich Dr. Scholz zu einer Polemik gegen Dr. Breitschetd ansetzt, beginnt der amüsanteste Teil dieser Diskussionsrede, aus der aber im Grunde nicht hcrvorgeht, wie man sich zu der Frage eines Vertrauensvotums oder einer Billigungsformel fjjr die gegenwärtige Regierung stellen wird. In breitem Schwäbisch donnert bann der badische Demokrat HaaS seine Rede herunter. Er vertritt die regierungstreueste Partei dieses Parlaments, die viel regierungstreuer ist, als etwa die sozialdemokratische, die doch jetzt mehr und mehr angesichts ihrer schwankenden Wählerschaft in die Enge getrieben wird. Seine Bemerkung, daß diese Regierung eine ordnungsmäßige Koali tionsregierung sei, glaubt ihm wohl keiner. Neben den So- ztaldcmokraten ist die demokratische Partei die einzige Partei, die für ein Vertrauensvotum plädiert. Abg. Drewitz von der Wirtschaftspartei gibt eine Er- klärung, deren Inhalt von großer Verärgerung zeugt. Nicht als ob die Partei einigen Grundfragen des Negierungs programms ihre Zustimmung verweigerte. Aber sie fühlt sich bei der Regierungsbildung schnöde übergangen. Müller. Franken hatte sie ausgesordert, mitzutun. Sie hatte einige Bedingungen gestellt und zugesagt, seitdem aber hatte man sie links liegen lassen. Man freut sich, nach dieser etwas „ein geschnappten" Erklärung dann die listige Verlautbarung der Bayrischen Volkspartet zu vernehmen, die der Ab- geordnete Leicht wie immer meisterhaft verliest. Auch hier eine mehr als freibleibende Stellungnahme. Als letzter Fraktionsredner dieses Tages der ersten Garnitur spricht für die Christlich-Nationale Bauern partei der Abgeordnete Döbrich. Er ist mißtrauisch gegen über dieser Negierung, und als ihm tm Laufe seiner Rede sozialistische und kommunistische Zwischenrufe an den Wagen fahren wollen, da ballt er seine Bauernfaust, schlägt auf den Tisch und schreit einige Wahrheiten in den Saal, die man aus der Linken nur ungern vernimmt. So geht der erste Tag der Aussprache über die Regie rungserklärung gegen 5 Uhr zu Ende. Sensationen gab es nicht. Die Stimmung des Vortages waltet nach wie vor tm Wallothau, die drückende Hitze verhindert redneri sche und sonstige Exzesse, und kein Mensch merkt eigentlich, daß kurz yach 2 Uhr ein verheerender Wtrbelsturm am Reichs- tägSjjtbäude vorbeigebraust ist, Dächer abgedeckt hat, dicke, alte Eichen tm Tiergarten wie Streichhölzer knickt« und den Straßenverkehr in einigen Stadtteilen lahm legte. Zum Schluß noch eine kleine Debatte, als die Nationalsozialisten ein nicht ernstgemeintes Vertrauensvotum beantragen, um eine kleine Sprengwirkung zu erzielen. Merkwürdig, diese Regierung hat Angst vor einem Vertrauensvotum, nnd Herr Löbe weist aus geschäftsordnungsmäßigen Gründen den Antrag zurück, den er als Verhöhnung des Parlaments bezeichnet. Es gibt eine Geschäftsordnungsdebatte, da man berechtigtermaßen das Vorgehen Löbes anzwcifeln kann, denn jeder Reichstagsabgeordnete kann Anträge stellen, wie er will, und ohne gezwungen zu sein, über seine Motive Aufschluß zu geben. Dieser Stellungnahme pflichten auch die Deutsch, nationalen bei, die inzwischen durch Lindeiner-Wildau ihr Mißtrauensvotum eingebracht haben. Hin und her geht der Wortwechsel, mit dem Ergebnis, daß der national sozialistische Antrag morgen doch zur Abstimmung kommen wird. Als Endresümee kann man feststellen, daß die Chancen für ein Vertrauensvotum unter den Gefrierpunkt gesunken sind. Man nimmt an, baß das Kabinett mit einer lendenlahmen Billig ungsformel sich wird begnügen müssen. Morgen mittag 12 Uhr tritt die zweite Garnitur an. und man hofft- noch am gleichen Tage zu einem vorläufigen Ende zu kommen. Dann tritt eine Pause bis Dienstag ein, an welchem Tage man zusammentreten wird, um die Initiativanträge in der Amnestiefrage zu besprechen und zu entscheiden. Die Stellungnahme der Regierungsparteien. Berlin, 4. Juli. Im weiteren Verlauf -er Verhandlungen ergriff Abg. Dr. Scholz (DDP.) das Wort. Er führte etwa folgendes auS: Seine Freunde hätten sich die Bildung der Regierung anders vorgestellt. Man hätte nur wenige große Probleme an die Spitze deS neuen RegierungSprogrammS stelle« sollen. An erster Stelle stehe daS weltwirtschaftliche Problem der interalliierten Schuldenregelung tm Zusammenhang mit den Trtbutleistungen Deutschlands. Hier hätte sich eine Einheits front nationalwirtschastlicher Verteidigung von der äußersten Rechten bis znr ««bersten Linke« bilde« könne«. jUnruhe bei den Komm.) Die Deutschnattonalen hätten mindestens ebenso leicht wie die Deutsche BolkSpartet für solche wirtschaftliche Aufgaben eine Koalition mit den Sozialdemokraten bilden können. In solchen Dingen stehe die deutschnationale Irak- tton ihrer Zusammensetzung nach den Sozialdemokraten näher als die Volkspartet. In der Frage der VerwaltungS- reform hätte die Volkspartiet bestimmtere Zusagen in der Regierungserklärung gewüscht. Die Voraussetzung sür wirksame Reformen sei die Homogenität der Regierungen deS Reichs nnö Vrenßen». Mit der BerwaltungSvereinfachung sollte t« der Reich» regterung angefangen werden. Neben dem Reich» wtrt schaftSMinisterium sei ein besondere» >rbet-tSMiniste rium und LgnüwtrtschaftSmtntstertum Überflüssig. Da» Justiz Ministerium könnte mit dem Innen Ministerium vereinigt werden und auch da» Postmintstertuw sei entbehrlich. lHcttcrkett. Abg. Torgler, Komm.: „Liquidieren Sie doch gleich den ganzen Laden!") ^ Das zweite große Problem ist der KinanzanSgleich. Wir sind Anhänger des dezentralisierten Einheitsstaates. Wir wollen keinen Finanzausgleich, der nur dazu dient, lebens unfähige Staaten künstlich aufrechtzuerhalten. Die Lösung wäre vielleicht so zu finden, daß sich da» Reich auf die vollen Einnahmen au» Zöllen und indirekten Steuern beschränkt, und den Gliedern de» Reiche» wieder die völl« finanzielle Selbstverantwortung gegeben wird. Wir «olle« auch selbftverantwortliche Staatsbürger» denen man nicht die Hälfte ihres Einkommens , «egftenert. Wir begrüßen an der Regierungserklärung die Zusage, baß der bisherige Kurs der Außenpolitik fortgesetzt werden soll. Wir wollen die Fortsetzung der Verständigungspolitik unter der Voraussetzung der allgemeinen Abrüstung und der schien- ntgen Befreiung des Rhetnlandes. Wir stimmen der Regie- rung zu, wenn sie die wohlerworbenen Rechte der Be» amten schützen will. Die wetteren Sätze der Regierungs erklärung scheinen freilich nicht ganz damit übereinzustimmen. Mit großer Genugtuung haben wir die Sätze der Regierung«- erklärung über die Not der Landwirtschaft gehört. So eindringlich waren solche Erklärungen noch in keiner früheren Regierungserklärung, auch nicht in jenen det Deutschnattonalen. Wen« «ir der Landwirtschaft helfe« «olle«, dann darf Deutschland aber nicht mit Zollsenknngen voran» ' gehen, sondern muß be« Bortritt de« wirtschaftlich sichere« Ländern lassen. Wir verlangen die Rentnerversorgung durch Gesetz unter Herausnahme aus der Fürsorge. ' I« der Stenerpolitik wünschen wir eine Senkung de» EtnkommensteuertarifeS tii den unteren und mittleren Stufen, die Berechnung nach dem dreijährigen Durchschnitt und ein SteuervcretnhettltchungS- gesetz mit dem Ziel einer fühlbaren Senkung der Real steuern. Das Programm einer Koalitionsregierung wird immer Kompromisse enthalten. Die Kreise de» Ge werbe» und des Mittelstandes sollten überlegen, ob sie ihrer Sache nicht bester dienen, wenn sie ihren Einfluß durch Be teiligung an solchen Koalitionen verstärken. Die RegierungS» erklärung berührt viele Probleme, ohne den Weg z« ihrer Lösung z« »eigen. Im Gegensatz zu Dr. Breitschetd sagt Reichskanzler Müller, es handle sich nicht um eine Koali tionsregierung. Wir sind der Meinung de» Reichskanzler». Wir «erden die Taten der Regierung abwarte« und «n» daS Recht der Kritik Vorbehalten. .)