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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.02.1902
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1902-02-03
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19020203010
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1902020301
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1902020301
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1902
-
Monat
1902-02
- Tag 1902-02-03
-
Monat
1902-02
-
Jahr
1902
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Bezugs-Preis i« der Hauptexpedition oder den im Stadt bezirk und de» Vororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich 4.50, — zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus ^l 5.50. Durch die Post bezöge» sür Deutschland u. Oesterreich: vierteljährl. 6. Man abouuirt ferner mit entsprechendem Postansschlag bei de» Postanstattrn in der Schweiz, Italien, Belgien, Holland, Luxem burg, Dänemark, Schweden und Norwegen, Rußland, den Douanftaateu, der Europäischen Türkei, Egypten. Für alle übrigen Staaten ist der Bezug nur unter Kreuzband durch di«, Expedition diese» Blatte» möglich.^ Le-action und Expedition 5 JohanniKgaffe 8. Fernsprecher 153 und 222. FUinlerprditinrrerr: Alfred Hahn, Buchhandlg ., Universität» str. 8, 8. Lösche, Katharinenstr. 14, u. König-pl. 7. Haupt-Filiale in Serliu: Königgrätzerstraße 116. Fernsprecher Amt VI Nr. 3393, Morgen - Ausgabe. ltWMr Tageblatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Ruthes und Nolizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Anzeigen-Preis die 6gespaltene Petitzeile 25 H. Reklamen unter dem Redactiousstrich (»gespalten) 75 H, vor den Familiennach- richten (6 gespalten) 50 H. Tabellarischer und Zifiernsatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Offertrnannahme 2b H (excl. Porto). Ertra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesördrrung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bormittags 10 Uhr. Morgeu-Au-gabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eins halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richte«. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr. Druck und Berlag von S. Polz in Leipzig. sehen, wie hübsch es hier ist und was cs hier Alles zn lernen und zu sehen giebt." Gern folgte ich seiner Aufforderung und war nicht wenig angenehm überrascht, als ein geräumiger, hoher, Heller, wohldurchwärmter Saal mit frischen, bilderge schmückten Wänden sich vor mir aufthat. Rechts ein langer Tisch mit allen möglichen Tagesblättern und Zeitschriften, an der dem Eingänge gegenüber liegenden Wand ein hoher Glasschrank mit der Handbibliothek: Klassiker, Spamer'ö Weltgeschichte, Buch der Erfindungen, Kunst- und Literaturgeschichte, Brockhaus' Konversationslexikon, allerhand sonstige Nachschlagebücher, Wörterbücher, Spamer's Atlas rc. "rc. enthaltend. Links zwei lange Tafeln mit bequemen Stühlen für die Leser nnd im Hintergründe das Pult für die Bibliothekarin, die mit Sachkenntnis; und freundlicher Bereitwilligkeit über alles Zugehörige Auskunft giebt, den Leser»: Nathschläge cr- thcilt, die Bücher reicht und Kataloge vvrlegt. Mappen mit Briefbogen und -Umschlägen, sowie sonstiges Schreibmaterial liegt bereit zu jeder Art von Korrespondenz, besonders auch zu sofortiger Beantwor tung von Stellenangeboten, welche in den ausliegenden Zeitungen sich finden. Wieder öffnete sich die Thür und herein traten nene Leser, legten still ihre Ucberziehcr und Kopfbedeckungen ab und suchten geräuschlos ihre Plätze. Manche traten auch zuvor an den Ofen, nach der unbehaglichen Feuchtigkeit draußen die gastliche Wärme suchend, welche offenbar im Vereine mit dem Hellen Lampenlichte und der Gemüthlich- keit des sauberen, freundlichen Nauines über alle An wesenden ein wohlthuendes Gefühl von Behagen nnd Zu friedenheit verbreitete. Ich betrachtete die Neuein- getretencn. Sie waren durchaus nicht Alle Arbeiter, ob gleich diese in -em Stadlviertel, welches der Sitz des welt beherrschenden deutschen Buchhandels ist, besonders stark vertreten waren; viele intelligente Gesichter darunter, andererseits kraftvolle Gestalten mit harten, arbeitge stählten Händen aus den .zahlreichen Maschinenfabriken und sonstigen, schwere Anstrengung erfordernden Arbeits stätten -er östlichen Vororte. Freilich, auch einige be scheidene und dürftige Erscheinungen, die noch schwer um einen wohnlichen Platz auf dem Arbeitsfelde der Mensch heit rangen, oder auch enttäuscht und müde zurückzu treten schienen. Hier suchten sie nochmals Muth und Hoffnung nnd den Hinweis auf neue Wege, die auch ihnen zu einem erstrcbenswerthen Preise verhelfen möchten. Wie Mancher wird ihn hier finden und die Stätte segnen, der er eine glückliche Wendung seines Looses verdankt. Daneben fanden sich aber auch Männer anderer, thcilweise höherer Berufszweige: Handlungsgehilfen, Handwerker, Lehrer, Studircnde, Fabrikaufseher, Werkmeister, Tech niker, Beamte ?c. rc, Gestalten nnd Gesichtszüge erzählten von der» verschiedensten Charakteren und Lebensschicksalcn. In eine Ecke znsammcngedrängt, fasten etwa ein halbes Dutzend Mädchen, darunter offenbar einige Verkäufe rinnen aus Modcwaarengeschäftcn, eifrigst irr das Stu dium von „Polich'ß Modezcitung" versenkt. Nicht weit von ihnen einige ältere Mädchen, wahrscheinlich Lehrerinnen, die Eine sehr ernstlich in einen Band Weltgeschichte ver tieft, die Andere eifrig und mit höchstem Interesse ein großes Bilderwerk mit sehr schönen Stichen nach elastischen Statuen stndircnd, wobei sie fleißig Anmerkungen irr ihr Taschenbuch notirte. Ein wenig abseits von den Anderen saß ein sehr junges, blasses Mädchen mit einnehmenden Gesichtszügen, aber in allerbescheidcnstcr Kleidung. Sie las in einem älteren Bande der „Gartenlaube", und so versunken war sie in diese Lectüre, daß sie keine Ahnung davon hatte, wie ich, über ihre Schulter schielend, das Object ihres Entzückens zu ermitteln suchte. „Sic ist die Tochter eines Arztes", erklärte mir die Bibliothekarin, „und sie kommt Abend für Abend als bald nach Schluß des Geschäftes, in dem sie die Ladencasse führt. Sie hat wohl ehemals nicht geglaubt, daß ihr jetziges Loos ihr bcvorstünde, aber der Bater ist früh ge storben und hat der kränklichen Mutter kann» etwas Anderes hinterlassen, als diese brave Tochter nnd vier jüngere Geschwister. Da hat denn das pflichtgetreuc Mädchen bereitwilligst zugegriffen, als ihr ein Schul kamerad ihres Vaters, der ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Treue und Arbeitsfrendigkeit kannte, ihre gegenwärtige Stellung bot, die, besser bezahlt, auch angesehener, als die einer gewöhnlicher» Verkäuferin, ihr ohne diese persönliche Beziehung bei ihrer Fugend nicht anvertraut worden wäre. Die Stunden, die sie hier verbringt, sind das Glück ihres jungen Lebens." Wieder öffnete sich die Thür und herein trat ein weiß haariger Man»» in etwas gebückter Haltung. Seine Züge waren scharf geschnitten und sprachen nicht nur von einem Leber» fleißiger Arbeit, sondern auch von ernstem Denken, nnd die tiefe»» Furchen, die darein gegraben waren, verriethen trotz der mild blickenden Augen, daß auch Sorgen, Kummer nnd Schmerz über seine Seele ge gangen seien und wohl noch jetzt schwer genug daraus lasteten. Ich erfuhr in» Laufe des Abends, daß er kürzlich sei»» Weib begraben, und daß sein cinzigcr Sohn, sein Stolz nnd seine Hoffnung, in den afrikanische»» Wirren sein Leben eingebüstt habe. Auch dieser Alte schien ein ständiger Besucher des Lesezimmers, deun die Biblio thekarin begrüßte ihn voll herzlicher Theilnahmc, wie einen alten Bekannten und reichte ihn» unverlangt sein Buch. Der Entwickelung der Dinge in Afrika galt sein lebhaftes Interesse, nnd sie bildete natürlich auch den Gegenstand seiner Lectüre. Er nahm das Buch, dankte und sah sich nach einem Platze um. Aber es war keiner mehr vorhanden, alle Stühle waren besetzt. So zog er sich bescheiden zurück, lehnte den Rücken ai» die Wand nnd schlug sein Buch ans. Da erhob sich eines der erwähnten junge,'. Mädchen und bot ihm ihren Platz. Er lehnte dankend ab. Aber sie liest sich nicht abweisen. Ihre Ge fährtinnen rückten ihre Stühle zusammen und schaffte», ihr ans diese Meise einen Platz. So blieb für den alten Herrn ein Stuhl frei, den er freundlich lächelnd und mit dankbare,n Händedruck für die erste gefällige Helferin an nahm. ES wurde mäuschenstill in den» weiten Raume, und während draußen feine Wasserstrahlen am Fenster herab rieselten nnd der Wind seine melancholische Melodie dazu pfiff, beobachtete ich voll Befriedigung, mit welchem Ernst und innerlichem Genuß die meisten dieser so ver schiedenartigen Menschen sich ihrer Beschäftigung Hin gaben. „Wie viel Gutes wird hier gestiftet", sagte ich mir selbst und wandte mich dann, um der» Zeitungstisch näher in Augenschein zn nehmen und war nicht wenig erstaunt, zu entdecken, was da Alles geboten wird. Da sind die großen politischen Blätter nnd Localblätter der ver schiedensten Richtungen vorhanden, denn jede Meinung soll hier zu Worte komen und Niemand in seine»» poli tischen noch in irgend einem andere», Glaubensbekennt nisse beeinflußt werden. Ferner lagen da kritische und referirende Blätter, bestimmt, in das Verständniß der Kunst einzuführen, sich mit Künstlern, Dichtern und Schriftstellern bekannt und vertraut zu machen. Dann folgen die zahlreichen wissenschaftlichen (namentlich populär-wissenschaftlichen) Blätter, deren Gegenstand das »veite Gebiet der Erfindungen und Entdeckungen ans technischem, naturwtssenschaftlichcm und geographischen» Gebiete ist, Schilderungen der Sitte»» und kulturzustünde fremder Länder, des Handels- und Verkehrswesens da selbst, deren Verhältnitz zn Deutschland u. v. A. m. Schließlich gelangte ich zu dem weiten und gerade an dieser Stelle so wichtigen Gebiete der Fachblsttter in Handel, Handwerk nnd Industrie, die hier ganz außer ordentlich stark vertreten sind. Und nun betrat ich den eigentlichen Bibliotheksraun». An dieses Lesezimmer, wie auch an das in der A l e x a n d e r st r a ß e, schließt sich, in einein Neben raum: gelegen, eine der vom Verein für Volkswohl ge gründeten Volksbibliotheken. Diese Volksbibliotheken, welche Bücher ausleihen, bestehen zwar schor» länger als die Lesezimmer als ein selbstständiges, äußerst segens reiches Nnternchmcn, stelle», aber mit dankenöwerthester Bereitwilligkeit ihre Bücherschätzc jetzt auch den Besuchern der Lesezimmer zur Verfügung und ergänzen so die letzteren in nicht genug anzucrkennender Weise. Der Schlag der Thnrmnhr weckte mich plötzlich ans meiner Vertiefung in die aufgcstapclten Schätze. — Zehr» Uhr! — Drei volle Stunden waren mir in diesen behag lichen Räumen verflogen, während ich nur einen Blick hineinzuwerfen beabsichtigt hatte. Die Leser brachen auf und schüttelten einander, für heute Abschied nehmend, die Hände. Ich suchte meinen jungen Mentor, der mich herein geführt hatte und sah in der drängenden Menge sein Auge bereits auf mich gerichtet. „Nun", begrüßte er mich freundlich wieder, als ich auf ihn zutrat, „wie hat Ihnen unser Lesezimmer gefallen? Nicht wahr, Sie bereuen nicht, cs näher in Augenschein genommen zu haben?" „Gewiß nicht", erwiderte ich aus voller Ueberzcugung, „das ist ja eine prächtige Veranstaltung." „Das will ich meinen", entgegnete der junge Mann mit aufleuchtendcm Stolze in seinen, hübschen, frische», Gesicht, „aber wir halten auch auf unser Lesezimmer, besonders »vir Buch drucker. Unseres hier an, Johannisplatz ist auch das größte, das neueste und schönste." „Giebt es denn noch mehr solcher Lesezimmer in der Stadt?" fragte ich. „Na freilich", antwortete er eifrig, „das erste, das in der Garten st raße in Lindenau, besteht schon seit Juli 1897, das zweite in der A l e x a n d e r st r a ß e seit September 1899, das unsere hier, will schon gar nicht mehr znrcichcn, obgleich es erst am 20. October 1901 er öffnet worden ist." Wir traten hinaus ir» die unwirthliche Nässe der rauhen Winternacht. „Aber wer trägt denn die -och gewiß sehr beträchtlichen Kosten?" forschte ich weiter. „Gegründet sind die Lesezimmer von einem Comit« angesehener Herren und werden aus Privatmittelu er halten", erwiderte »nein junger Enthusiast, und wieder er schien der Ausdruck freudigen Stolzes auf seinem Gesicht. Er fühlte sich offenbar in seine»« Principal als einer der Mitschöpfer. „Sie haben einen Verein ins Leben gerufen nnd erhalte», Beiträge, aber die Kosten sind groß für Miethen, Heizung, Beleuchtung, Angestellte, Anschaf fungen so vielfacher Art, für Zeitungsabonnements und — was weiß ich!" Ich lächelte. Er hatte einen Begriff, daß hier viel Geld gebraucht werde, verstand aber doch nicht eigentlich die Kosten abzuschätzcn. Jedenfalls aber empfand er dankbar die hier für die arbeitenden Classen freiwillig gebrachten Opfer. Ich drückte ihm herzlich die Hand, als er sich nun verabschiedete. Er war ein braver, ein dankbarer und einsichtsvoller Mann. Er würde in seinem Lesezimmer noch viele frohe Stunden suchen und finden. „Unsere Nr. 8V. Montag den 3. Februar 1902. 96. Jahrgang. Lin Abend im Lesezimmer.*) ),Ja, was ist denn hier los?" sagte ich zu niir, als ich kürzlich an einem feuchtkalten, besonders unfreundlicher» Winterabende, vom Grimmat'schen Steinwege kommend, meine Schritte über den Jahannisplatz nach der Hvs- pttalstraße lenkte. „Was suchen denn all diese Menscher» hier?" Ich war seit einer Reihe vor» Jahren vor» Leipzig fern gewesen und fand die Stadt vielfach verändert. Jetzt stand ich vor einem langgestreckten Backsteinbau. „Zu »neiner Zeit" befand sich hier die L a n d - F l e i s ch h a l le, und lächelnd gedachte ich so manches saftigen Bratens, der von hier aus in die Küche meiner Mnttcr gewandert, und manches duftenden Würstchens, das frisch gesotten aus dem Kessel auftauchcnd, aus meinen eigenen Mitteln bestritten, und heiß wie es war, nicht selten mit zuckenden Fingern, aber inniger« Behagen meinem tiefbefriedigtcn Magen zugeführt worden war. Aber jetzt? Jetzt, bei hereinbrcchender Nacht wurde doch hier kein Fleisch ver kauft? Ich hielt den Schritt an und fragte einen der an der Thür harrenden Männer, was hier vorgche. „Na, wir warten auf die Oeffnung des Lesezimmers", antwortete er, und denKopf nach der nahenJohanniskirche wendend, fuhr er fort: „Es fehlen noch drei Minuten an sieben Uhr, dann erfolgt -er Einlaß pünctlich". „„Und darauf warten Sie hier in dem abscheulichen Wetter? Und was ist's mit diesem Lesezimmer? Be kommen Sie da die Bücher geliehen?"" „Die lesen wir gleich da drinnen", antwortete der Ge fragte, augenscheinlich eilt junger Arbeiter. „„Aber warum lesen Sie dieselben nicht in Ihrer Wohnung in aller Ruhe und Gemüthlichkeit? Es giebt doch Volksbibliotheken hier, in denen Sie unentgeltlich die besten Bücher erhalten können?"" „Jawohl! Es giebt auch eine da drinnen. Aber das ist nicht so ohne Weiteres für Jedermann, nicht für unser Einen, der keine Stube hat, in der er ungestört und be haglich lesen kant». Heizung und Licht kosten Geld, und da sind andere jnnge Leute im Hause, die rauchen und schwatzen und Karte spiele,» und Linen ins Wirthöhaus zu locken suchen. Oder die Kinder der Hausfrau lärmen und streiten, heulen auch gelegentlich, wenn Bater oder Mutter strafend dazwischen fahren, nnd selbst, wenn sie artig sind, so spielen sie doch Pferd, Soldaten, Räuber und elektrische Klingelbahn, und dabei kann Einer wohl lesen, aber nicht verstehen und merken. Nein, das ist hier ganz andere Sache. Da hat man Ruhe. Da giebt's auch Zeitschriften, politische und „gelehrte". In die Bolksbibliothck gehe,» Leute wie wir höchstens, um sich Unterhaltungsschriften zu holen. Im Lesezimmer lernen sie erst erkennen, wie viele Bücher es giebt, aüs denen sie auch Belehrung holen können. Hier wird ihnen erst klar, was sie eigentlich lesen sollten und möchten. Und unentgeltlich haben wir das Alles auch hier." In diesem Augenblick blitzten in dem bisher dunkle»» Fenster neben uns Gasflaminen auf, im nächsten schallten vom Kirchthurm sieben Schläge, und zugleich öffnete sich die Thür und hinein strömte die harrende Menge, gefolgt von andern auf das Glockensignal Herbeieilcnden. Auf der Schwelle wandte mein neuer junger Freund sich nach wir nm! „Kommen Sie doch mit herein, da werden Sie ja selbst *) Errichtet vom „Leipziger Verein für öffentliche Lesezimmer". Feuilleton. Der Frack und seine Weltherrschaft. Von Georg Müller-Linde. Nachdruck verbot««. Von der Damenmobe hören wir an allen Ecken sagen sind singen. Immer und immer wieder wird sie beschrieben und erörtert, angeklagt und vertheidigt und eine Menge von Zeitschriften dienen ihr. Aber die Kleidung der Herren der Schöpfung wird schmählich vernachlässigt. ES giebt wohl auch Journale für die Herren-Mode, aber ihr Leser kreis beschränkt sich auf die Schneider und nur, wenn der Kunde sich zur Neuausstaffirung seines irdischen Leibes beim Schneider einftndet, gönnt er seinen Modebtldern einen prüfenden Blick. In die breitere Oesfcntlichkeit dringt nur ab nnd zu eine Mittheilung darüber, daß der König von England eine neue Hut- oder Jaguctform ge schaffen ober daß er so revolutionäre Unternehmungen gewagt habe, wie z. B. ein weiches Oberhemd zur Gala oder gelbe Schuhe zu einer garckonpart^ zu tragen. Aber ist denn die Hcrrenmode -er Aufmerksamkeit so ganz unwcrth? Durchaus nicht. Auch ihre Geschichte und Entwickelung bietet genng des Interessanten. Ei« Beispiel dafür ist das Staats-, Fest- und Ehrenkleid -er modernen Männerwelt, der Krack und seine Welt herrschaft. Seine Weltherrschaft! Ja, von einer solchen darf man allerdings reden. Während die Kluft zwischen den ver schiedenen socialen Schichten, während die Gegensätze zwischen Arm und Reich sich besonders in den Großstädten unausgesetzt erweitern, wird die Männertracht bei allen Gesellschaftsklassen immer einförmiger und, die Wahrheit zu sagen, immer langweiliger. Selbst die Chinesen und noch mehr die Japaner beginnen ja nun europäische Kleidung anzunehmen. Aber kein Thcil der Männer kleidung findet eine so kosmopolitische Anwendung als eben unser Frack. Man mag rund um die Erbe fahren, — man findet überall den Frack als bi« Uniform der Kellner und als die Galakleidnng höchst mächtiger und vornehmer Persönlichkeiten. Den Frack trug der fran zösische Präsident, als er den Besuch des Zaren empfing; de»» Frack trägt der gewöhnliche Arbeiter, wenn er als Fahnenträger an der Spitze seines Vereins einherschreitet, und der Student, der an einem Fackclzugc theilnimmt, und der Kaufmann, der sich verheirathet oder seine Tochter zum Altäre führt, nnd der Beamte, der bet Excellenz Audienz, hat, und Englands und Amerikas Clubaristo kraten, wenn sie ihr Mittagsmahl einnehmen. Immer und überall der obligate schwarze Schwalbenschwanz, und immer Gäste und Kellner in derselben Tracht. Der Frack kann in Wahrheit demokratisch genannt werden. Wie eigentlich dieses eigenthürnliche Kleidungsstück entstanden ist und »vas seine allgemeine Herrschaft ver anlaßt hat, das läßt sich nicht mit Sicherheit constatiren, selbst nicht von Forschern anf diesem Gebiete. Die Schneider zu fragen, nnyt nun schon gar nichts, und selbst Poole in London, Sr. großbritannische»» Majestät Leib schneider, der die theuersten und bestsitzenden Fräcke in der Welt hcrstellt, weiß darüber nichts zu sagen. Das Wort ist englischen Ursprungs; es bedeutet ursprünglich eine Mönchskutte und ging dann als Bezeichnung auf den Neitrock über, dessen Schöße man zu größerer Bequemlich keit hinterknöpfte. Diese Form des Rockes scheint dann beim Militär zuerst allgemein Mode geworden zu sein, indem sie von der Kavallerie auch auf die Infanterie über ging; und das militärische Beispiel dürfte den Frack all mählich auch für das Civil fashionabel gemacht haben, wobei dann allerdings die Nockschößc nicht mehr zurück geklappt, sonder»» beschnitten wurden. Im Anfang galt der Frack immerhin als ein Symbol der Lmancipation von der allgemeinen Sitte und durch Goethe's Wcrther wurde er gleichsam das Erkennungszeichen der schönen Seelen. Seinen Sieg verdankt der Krack der französischen Revolution, die in ihrer Opposition gegen die Vergangen heit das bis dahin nicht anerkannte Kleidungsstück so eifrig begünstigte, baß eine Zeit lang sogar die Damen der Mode ein frackähnliches Kleidungsstück trugen. Bedenkt man, daß der Krack eigentlich nur ein beschnittener Rock ist, so sollt« man eigentlich glauben, daß ein Frackanzug billiger sei»» müßte, als ein Rockanzug, da sich doch die Weste gut und gern aus den Stücken machen lassen muß, um die inan den Frack verkürzt, damit er die edle Gestalt des Frackes annchmc. Doch würde ich nicht rathen, Mr. Poole dies Raisonnemcnt vorzutragen, denn er würde danach nur glauben, daß Du des edelsten Kleidungs stückes der Culturmenschhcit unwürdig bist. Der Frack stammt wahrscheinlich aus England, und er findet bet den Engländern auch heute noch die weiteste An wendung. Bei den Engländern, -en Amerikaner», und in allen englische»» Colonien ist der Frack die obligate Tracht bei der Mittagsmahlzeit, die bekanntlich immer am Abend eingenommen wird. Vor 0 bis 7 Uhr Abends bei» Frack anlcgen, giltfür einen völligen Mangel an Lebensart, Abends aber ist seine Herrschaft uneingeschränkt, und wenn ein Gentleman sagt: „I »in eoive ,<> ckiess", so ist das nicht dahin zu verstehen, daß er nun seinen nackten Adam ein wickeln wolle, sondern es bedeutet: ich ziehe jetzt meinen Frack an zu einem untadeligen weiße»» Hemde und bringe die Kleidung durch eine ebenso untadelige weiße Cravatte zu höchster Vollendung. Vormittags einen Frack zu tragen, ist eine Nnbenkbarkeit, nnd wenn Du etwa Vormittags heirathest, so mußt Du eben ohne Frack heirathen. Eine wesentliche abweichende Anwendung findet der Frack in Frankreich. An Frankreich schließen sich dann die anderen romanischen Länder, die Italiener nnd Spanier, sowie auch die alliirten Russen an, während im Oriente bald die englische, bald die französische Mode be folgt wird. Auch in Frankreich ist der Frack das große Gc- sellschaftö« und Theaterkleid, wenn auch nicht ganz so unbedingt wie in England; immerhin ist er auf einzelnen Plätzen der großen Oper in Paris ebenso Zwang wie im Kovcntgarden-Theater in London. Aber der Frack scheut in Frankreich das Tageslicht nicht, er ist auch am Vor mittage „eomme il kaut", und bet alle», wichtigen Staats verhandlungen, beim Empfang fremder Souveräne, bei der Enthüllung von Statuen, und fände sie selbst schon um 10 Uhr Bormittags statt, beim Hochzeitsfrühstück, — kurz bet allen festlichen Anlässen präsenttrt sich die ganze bür gerliche französische Welt im Frack. Dagegen haben die Kellner in Frankreich sich zu entfracken begonnen und st« brauchen jetzt öfters kurze Jacken und weiße Schürzen. Dies Beispiel ist auch bei uns befolgt worden. Ueber- hanpt stimmen unsere Fracksitten im Allgemeinen mit den französischen überein. Immerhin sicht »narr bei uns im Theater nur ansnahmsweise uud in Restaurants noch seltener den Frack; wir haben die volle Höhe der Cultur eben noch nicht erstiegen. Die Cravatte zum Frack muß ir» England allemal weiß und zwar von Battist sein, und oft nimmt man sie gern so klein wienur irgend möglich. Weiße Atlascravatten sind dem Cavalicr eomme il kaut ei», Grenel, da sie mit ihren Glanz lichtern nnd gelblichen Tönen den harmonischer» Eindruck des befrackten Menschen stören könnten. Die Franzosen hingegen branchcn bei kleineren Gesellschaften gern schwarze Cravatte, die bann aber correctcrweise von Atlas sein muß, während die weit kleidsamere Nipsschleife -cm Smoking Vorbehalten bleibt. Die Weste kann schwarz oder weiß sein und weiße, schwarze oder auch gelbe Knöpfe haben. Hier bleibt der relativ größte Spielraum für Variationen, doch hat die weiße Weste zum Frack immerhin ihre Blüthezeit bereits hinter sich. Die Fttßbekleidnng zum Frackanzug ist immer und überall dieselbe: schwarzer Lack, ob inan nun Stiefel oder Halbschuhc trage. Auch die Strümpfe, falls sie etwa sichtbar werden, müssen schwarz vor» Farbe sein. Einzelne Versuche, hellere Farben einzuführen, sind ebenso schnell verschwunden» wie gekommen. Wenn erzählt wurde, daß der Prinz von Wales knrz vor seiner Thronbesteigung einem Feste im Frackanzug und gelber, Schuhen bei gewohnt habe, so ist das ganz gewiß eine Phantasie. Der Frack ist demokratisch, aber er ist zugleich conservativ, er staunlich konservativ. Es gab einen heißen Kampf, um kein düsteres Schwarz durch festlichere Farben zu ersetzen, aber der Kampf war nur knrz, und der Frack feierte einen völligen Triumph. Er war, er ist, und der Himmel weiß, wie lange er uns noch erhalten bleiben wird, damit man ja nie Veranlassung habe, den modernen Menschen mit schöner gekleideten Männern auS anderen Zeiten -u ver wechseln.
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