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W B W W Feierabend WW ^ Unterhaltungs-Beilage der Sächsischen VoLkszeitung Nr. 44 Sonntag den 3. November >912 Tstenklage. Nachdruck nicht gestattet. örst du sie jammern, klagen aus der dunklen Gruft, Hörst du, was Sarg und Grab z» deinem Herzen spricht? vernimm der Toten Stimme, die so schmerzlich ruft: vergiß, o Mensch, vergiß — vergiß uns Arme nicht I Hörst du den Ruf des Vaters nicht in seinem Schmerz? Weißt dn es noch, wie ernst und treu fein Angesicht? Für dich nur schlug in Sorge deines Vaters Herz! Für dich gilt jetzt sein Rlagewort: vergiß mich nicht! Hörst du die Litte deiner Mutter aus dem Grab? Fühlst du die Dual, die sich an deinem Herzen bricht? Die Mutter — stark in Liebe, bis sie sank hinab, Die Mutter klagt in Wehmut: Ach, vergiß mich nicht! Hörst du nicht, Vater! Mutter! deines Rindes Wort? War nicht das Rind im Glanz der Unschuld euer Licht? Das Rind, des Hauses Freude — jetzt in Engels Hort, Das Rind fleht! Vater, Mutter! o, vergiß mich nicht! Hörst du den Bruder und die Schwester voller Leid? Willst du dem Lw'gcn sie empfehlen im Gericht? Die Freunde und Gefährten deiner Jugendzeit! Dann höre: Bruder! Schwester! Run vergiß mich nicht! Willst du die Trauer lindern und barmherzig sein, Willst du den Toten helfen in der Liebe Hflicht? V, kniee an den Gräbern, an der Toten Schrein; Sic alle grüßen traurig dich: vergiß uns nicht! Siehst du den Leichenstein, an den wohl niemand denkt, Siehst du das Rrcuz, wo niemand ein Gebet mehr spricht? Die Toten, die vor Jahren man hier cingesenkt. Sie alle rufen flehentlich: vergiß uns nicht! Gehst du zum Rirchhof über seine Gräber hin, Bringst du voll Liebe Rränze, die das Mitleid flicht: Die treuen Hügel schmücke still in frommem Sinn! Die Toten rufen dankbar: Du vergißt uns nicht! Leo Albcrti. 23. Sonntag nach Pfingsten. Evangelium: Erweckung der Tochter des Jairus. Heilung der kranken Frau. Matthäus 9, 18—26. Nach der Erzählung des heutigen Evangeliums kam ein Vorsteher der Synagoge namens Jairus zu Jesus, fiel vor ihm nieder und sprach: „Meine Tochter ist gestorben. Aber komm und lege deine Hand auf sie, io wird sie leben." Man kann fragen: Warum ließ es der Vater fo weit kom- l men, ehe er zu Jesus ging, und warum wandte er sich nicht ! sogleich, als die Gefahr sichtbar zu werden ansing, an ihn? Hierauf muß geantwortet werden: Der Mensch sucht ge wöhnlich nicht bei Gott Hilfe, fo lange er sie noch von der Natur erwartet. Erst, wenn keilte natürliche Hilfe und Hoffnung mehr übrig bleibt, ruft er um Erbarmen zu Gott. Die höchste, die drückendste Not ist es gewöhnlich, welche end lich den Stolz und Unglauben der Herzen bricht und beten lehrt. Eine solche Not ist darum insgemein eine große Gnade, tveil sie geeignet ist, beten zu lehren; und wehe allen Glaubenslahmen, über welche noch nie eine schwere Not gekommen ist! — Die aber diese Gnade empfangen, möchten sie jedesmal durch sie zu einer geistigen Erneuerung, insbesondere (wie bei Jairus) zu einem lebendigen, um fassenden Glauben gehangen!, ^ ^ Der Glaube des Vaters war aufrichtig und so zuver sichtsvoll und lauter, als er nur immer von ihm erwartet werden mochte. Jesus erhob sich darum samt seinen Jüngern alsogleich, Liesen Glauben zu belohnen. Viel Volk begleitete ihn, und es war ein großes Gedränge um seine Person. Denn jeder wollte sehen, was Vorgehen würde. Eigentlich zwar bestand zwischen ihm und diesem drängenden Haufen keine Gemeinschaft. Er seinerseits wollte sittliche Wieder geburt, sie dagegen wollten nur den Wundertäter sehen und sich an seinen Taten Vergnügen. Aber je weniger sie in Wahrheit von ihm wollten, desto dichter drängten sie sich um ihn, und desto begieriger waren sie nach seiner Gestalt und seinen Werken. Aber es war noch jemand in der Menge, welcher ihm so recht innerlich angehörte und des ganzen Lebens Hoffnung auf ihn legte: Las war eine seit Jahren sehr kranke und durch ihre Krankheit um all ihr Vermögen gebrachte Frau. Krank, von den Aerzten aufgegeben, und arm, war sie in hohem Grade elend. Aber in demselben Matze, in welchem sie elend war, ergriff sie den Glauben an Jesus als ihren allvermögcnden Helfer. Es stand fest in ihrem Herzen: Dieser ist meine Hilfe. Mit dieser Zuversicht in der Seele folgte sie ihm. Wohlan, so wende sie sich denn an seine allmächtige Gnade: ihr Glaube wird sie nicht täuschen! — Allein wie kann sie das? Schamhaftigkeit hält sie zurück, ihr Leiden zu offenbaren. Sie steht in der Mitte zwischen Not und Scham: von der einen angetrieben, von der anderen ge hemmt. Was wird sie tun? Die Fülle ihres Glaubens lehrt sie einen Ausweg. Jesus steht vor ihrer Seele als ein Wesen, welches durch und durch Kraft und Hilfe ist, Nie mand kann in Verbindung mit ihm konimen, dem nicht ge holfen würde. So sie ihn also nur berührt, wird sie geheilt sein. Ja (so sagt ihr ein Gefühl), wenn sie auch nur sein Kleid berührt, wird ihr geholfen werden. Die blinden Passagiere. Selbstcrlcbtcs von I. Börgatz (Memertzhagen). Nachdruck verboten. An den Verladehallen der „Mitgard-See-Verkehrs- gesellschaft" zu Nordenham lag das schmucke norwegische Kauffahrteischiff „Hermann Wedel"-Jarlberg unter Dampf, um in einigen Stunden in See zu geben. Tie Ladung be stand in Salz, das nach Amerika bestimmt war. Es ist nachts l2 Uhr. Tie letzten Schläge der Turmuhr hallten dumpf zum Strand herüber. Bereits herrschte ein emsiges Treiben an Bord, wie es kurz vor Abfahrt eines Schiffes das „Klarmachen" erfordert. Seit einer Stunde hatte mit forschendem Auge ein Matrose in das Dunkel der Nacht ge späht. Ungeduldig waren seine Blicke auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Dieser war die Haltestelle der Fähre, die den Personenverkehr der Hafenstädte Bremerhaven und Nordenham, letzterer auf Oldenburger Gebiet gelegen, be wirkt. „Endlich, endlich!" entrang es sich der Brust des Wartenden. In der Ferne tauchten zwei dunkle Gestalten auf, dis sich vorsichtig, doch schnell dem Schiffe näherten. Bald waren sie in unmittelbarer Nähe des Schiffes ange-